»Die Regierung ist unheimlich nervös«

Die FIFA und die Regierung hatten sich Bilder feiernder Menschen gewünscht. Stattdessen dominieren Meldungen von blutigen Auseinandersetzungen die Nachrichten. Wir sprachen mit Dawid Bartelt, dem Direktor der Heinrich-Böll-Stiftung in Rio de Janeiro über die aktuelle Lage

Herr Bartelt, herrscht in Rio de Janeiro Vorfreude auf die WM?

 

Normalerweise sind einen Monat vor solchen Ereignissen schon die Straßen geschmückt. Das ist nicht der Fall. Die Stimmung ist eher verhalten. Die Menschen freuen sich schon auf die WM, aber Meinungsumfragen zeigen, das rund die Hälfte der Brasilianer findet, dass die WM nicht hier hätte stattfinden sollen. Auch, weil ihnen zunehmend klar wird, dass sie ökonomisch nicht viel zu erwarten haben. Vor allem die Baubranche profitiert, Tourismusbranche und Wohnungsvermieter ein bisschen, das war es dann aber auch. Die meisten Händler und Unternehmer sind eher sauer, denn wenn Brasilien spielt, ist hier gesetzlich verordneter Feiertag. Da wird es eine Menge Produktionsausfall geben, der die Unternehmen Geld kostet. Und auch die Armen werden sicher nicht von der WM profitieren.

 

Dabei startete die Regierung bereits 2008 ein Programm, um die zentralen Favelas zu befrieden und den Drogenhandel zu beenden.

 

Wie bewerten Sie das? Das ist nicht mehr als eine Verdrängung. Der Drogenhandel ist ja nicht weg. Die Drogenhändler sind lediglich woanders hingegangen, häufig in die Vorstädte. Dort hat die Gewalt massiv zugenommen. In Stadtteilen, wo es das vorher nicht gab, tritt plötzlich bewaffneter Drogenhandel auf, der ja immer auch ein eigenes Machtregime etabliert. Da berichtet aber kein Mensch drüber, die Vororte sind für die WM nicht relevant.



Dieses Befriedungsprogramm sollte auch eine Verbesserung der Lebensbedingungen beinhalten. Ist das zumindest in Teilen zu beobachten?

 

Man muss zunächst einmal verstehen, dass ein Besatzungsregime ein anderes Regime ablöst, beziehungsweise ergänzt. Die Befriedungspolizei UPP (Unidade de Polícia Pacificadora) hat Sondervollmachten in den Favelas: Sie bestimmt, wann irgendwelche Feste oder Konzerte stattfinden, die Bewohner werden regelmäßig ohne Anlass durchsucht, es werden Ausgangssperren verhängt. Die versprochenen Sozialprogramme, die zum Beispiel auch berufliche Qualifikationen mit sich bringen sollten, gibt es bislang fast gar nicht. Der Rückgang von Schießereien ist ein Gewinn an Lebensqualität, keine Frage. Aber Menschenrechte und Bürgerrechte werden nicht befördert. Was durchgesetzt wurde, ist die Freiheit des Kapitals. Die Elektrizitätswerke haben zum Beispiel die ganzen illegalen Stromleitungen gekappt und reguläre Stromleitungen verlegt, dafür zahlen die Menschen nun aber auch reguläre Preise. Die können sich viele nicht leisten.

 

Und dadurch findet eine Verdrängung der Menschen statt.

 

Genau. Dadurch und durch die stark steigenden Mieten. Vor allem im Süden in Strandnähe, werden viele Favelabewohner an den Stadtrand und in die Vororte verdrängt. Die Stadtverwaltung von Rio de Janeiro hat zugegeben, dass seit 2009 21.000 Familien zwangsgeräumt wurden. Viele von denen werden ganz weit draußen wieder angesiedelt, so 50 bis 60 Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. Und dadurch verschlechtern sich ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt massiv.



Inwiefern?

 

Das Einkommen konzentriert sich auf einen kleinen Teil Rios im Süden: Hier gibt es Handel, Dienstleistung und Finanzen, hier wohnen die Reichen, die Kindermädchen, Chauffeure und Gärtner beschäftigen. Die ärmeren Menschen gehen dahin und versuchen als Ungelernte, einen Teil des Wohlstands abzubekommen. Das ist aber schwer, weil die Verkehrsanbindungen katastrophal sind. Zudem entsteht dadurch auch eine Art Scheinobdachlosigkeit. Die Menschen kommen aus den Vororten ins Zentrum und übernachten auf der Straße, weil sie kein Geld für eine billige Pension haben und nicht jeden Tag sechs Stunden im überfüllten Bus stehen können. Die Verkehrspolitik zwingt Menschen dazu, auf der Straße zu übernachten.



Häufig wird bei derartigen Großveranstaltungen ja gerade auf Verbesserungen im Verkehr verwiesen, wenn die Frage nach dem Nutzen für die Bevölkerung aufkommt.

 

Es gibt neue Verkehrstrassen mit Busschnelllinien. Deren Sinn ist aber, den Flughafen und das Stadtzentrum mit den olympischen Sportstätten zu verbinden, schließlich findet ja nicht nur in diesem Jahr die WM statt, sondern auch 2016 die Olympischen Spiele. Überfällige Projekte sind dagegen nicht in Angriff genommen worden. Man hätte große Bereiche im Westen Rios, wo unheimlich viele Menschen wohnen, endlich besser anbinden können, oder das völlig marode Zugsystem erneuern. Oder das U-Bahnsystem endlich ausbauen. Wir haben in einer Sechs-Millionen-Stadt zwei relativ kurze U-Bahn-Linien. Das ist lächerlich.



Um das Thema Verkehr drehten sich auch die landesweiten Proteste 2013 beim Confed-Cup. Damals ging es um die Fahrpreiserhöhungen im öffentlichen Nahverkehr. Hat die Regierung darauf reagiert?

 

Die Fahrpreiserhöhungen wurden erstmal wieder zurückgenommen. Aber in Rio zum Beispiel hat die Erhöhung mittlerweile doch stattgefunden. Außerdem wurde ein Gesetzesentwurf zurückgenommen, der die Kompetenzen des kritischen ministerio publico, einer Art Staatsanwaltschaft der Bevölkerung, beschneiden sollte. Zudem gab es das Versprechen der Regierung, einen politischen Reformprozess einzuleiten, da geht es vor allem ums Wahlrecht. Das sind wichtige Punkte, aber das waren nicht die Dinge, für die die Menschen auf die Straße gegangen sind. Um die Fahrpreiserhöhungen ging es ja nur zu Beginn. Die Leute sind vor allem für ein besseres Transportwesen, ein besseres Bildungssystem und ein besseres Gesundheitswesen auf die Straße gegangen. Diesbezüglich gibt es aber keinerlei Gesetzesvorschläge oder Initiativen.



Gibt es eigentlich einen einheitlichen Protest? Wer sind die Menschen, die in Brasilien auf die Straße gehen?

 

Das ist sehr heterogen. Es gibt die WM-Volkskomitees, das ist seit zwei, drei Jahren die aktivste soziale Bewegung. Dann gab es die erwähnte Bewegung für einen freien öffentlichen Nahverkehr in Sao Paolo. Bei den großen Protesten beim Confed-Cup ging dann  quasi ganz Brasilien auf die Straße. Da waren auch rechte, unangenehm nationalistische Gruppen dabei, aber auch die Facebook-Jugend, ein bisschen Occupy, ein bisschen Anonymous. Eine ganz entscheidende Rolle nimmt eine in Brasilien relativ neue Erscheinung ein, die black blocs. Da gibt es einen harten Kern — analog zum Schwarzen Block und der Antifa in Deutschland — von akademisch gebildeten Menschen, die in einer anarchistischen Tradition stehen und den Widerstand gegen Kapitalismus und Herrschaft umsetzen. Hinzu kommen gewaltbereite Jugendliche aus der Peripherie, die täglich Polizeigewalt erfahren. Ich will das nicht legitimieren, ich lehne Gewalt ab. Aber ich kann das verstehen. Diese black blocs haben die mediale Repräsentation dominiert. Das hat den unschönen Effekt gehabt, dass völlig unverhältnismäßige Gewalt der Polizei legitimiert wurde. Spätestens seit einem unglücklichen Fall, als ein Kameramann durch einen Feuerwerkskörper so schwer verletzt wurde, dass er starb, ist eine massive Kriminalisierungsstrategie zu beobachten. Ein neues Gesetz soll Protest als Terrorismus definieren. Zum ersten Mal in der Geschichte Brasiliens überhaupt wird es einen Terrorismustatbestand geben.



Konservative Medien und die Regierung sprechen bei den Demonstranten von »Vandalen«. Das erinnert frappierend an die Strategie unter anderem auch in Ägypten, wo zu Zeiten der Revolution die Protestler ähnlich kriminalisiert und als »Baltageya« (wörtlich: Axtträger) bezeichnet wurden. Ist das auch ein Muster in Brasilien?

 

Die Regierung ist unheimlich nervös. Die internationale Presse könnte schlechter nicht sein momentan. Und das vor einer Fußball-WM in Brasilien, dem Land, wo man all diese klischeehaften Erwartungen hatte. Aus Angst vor weiteren Protesten setzt die Regierung daher auf Repression.



Wird es während der WM weitere Proteste geben?

 

Es wird wieder massivere Proteste geben, die werden aber nicht diesen Millionenumfang haben wie im Juni 2013. Damals ging die Polizei sehr gewaltsam vor, seitdem sind viele Leute eingeschüchtert. Auch die Gewalt der black blocs schreckt ab. Trotzdem: Es wird Proteste geben, und es wird gewaltsame Auseinandersetzungen geben. Und die werden stark das Bild der WM prägen.

 

Hat man bei der FIFA die Tradition des Protests in Brasilien auch ein wenig unterschätzt?

 

Vielleicht schon. Generalsekretär Jerome Valcke hat im April 2013, also noch vor den großen Protesten, gesagt, dass die Planung in Brasilien sehr schwierig gewesen sei und dass es einfacher sei in Ländern wie Russland, wo es einen starken Präsidenten gibt. Die zukünftigen Weltmeisterschaften deuten ja auch in die Richtung, dass die FIFA künftig eher auf autoritäre Regime setzt, weil sie sich da mit dem ganzen Zirkus gar nicht abgeben müssen. Das ergibt in der Logik der FIFA durchaus Sinn.

 

Interview Christian Steigels



Dawid Danilo Bartelt studierte Geschichte in Deutschland und Brasilien und arbeitete acht Jahre lang als Pressesprecher der deutschen Sektion von Amnesty International. Seit 2010 leitet er das Brasilienbüro der Heinrich-Böll-Stiftung in Rio de Janeiro.