Pazifisten und Motorradgangs vereint: Montagsdemo in Köln | Foto: Manfred Wegener

Die Gekränkten

Sie wollen eine Alternative für ein Deutschland, das von Sinnen ist. Sie behaupten, den Frieden und die Familie schützen zu wollen: Die Neue Rechte ist ein widersprüchliches Milieu. Libertäre Steuerboykotteure und christlich-konservative Gegner der Homoehe tummeln sich dort, der höfliche VWL-Professor Bernd Lucke und der geifernde Krimi­autor Akif Pirinçci. Sie sind Teil des gesellschaftlichen Mainstreams ist, und wähnen sich von eben diesem Mainstream drangsaliert.

Anfang Mai in einer Runde kluger, interessierter Leute: Akif Pirinçci? Der Katzenkrimiautor? Gibt’s den noch? Und der macht jetzt … was? Ultralibertäre Hasspropaganda? Ein Superstar der ganz Rechten? Der? Ja, der. Verkauft von seinem Pamphlet »Deutschland von Sinnen. Der irre Kult um Frauen, Homosexuelle und Zuwanderer« mittlerweile Hunderttausende.

 

Und der hochgebildete Nachbar, im Beruf erfolgreich, stets höflich: Man sieht ihn im Straßenwahlkampf Propaganda für die AfD machen. Vielleicht geht er am Montag noch zu den Friedensdemos. Auch die sind neu in diesem Frühjahr: Man verteidigt dort Putin und wettert gegen den Euro und das Zinssystem.

 

Gerne würden wir an dieser Stelle von einer Neuen Rechten schreiben — keine Stiefelnazis, sondern Bürgerinnen und Bürger aus dem Mittelstand; kein völkischer Wahn, aber wenig gezügelter Hass auf angeb­liche »Einwanderer ins Sozialsystem«. Allerdings — nur einen Schritt ­weiter wird es diffus: Sind diese Rechten autoritär und staatshörig? Oder Vertreter eines entfesselten — marktradikalen, steuerfeindlichen — Individualismus? Bekennen sie sich zu Putin? Oder doch zur Westbindung Deutschlands?

 

Würde man all die neuen Stars der Neuen Rechten — Akif Pirinçci, Bernd Lucke, Jürgen Elsässer, Ken Jebsen — mit denjenigen in einen Raum sperren, die in den letzten Jahren ihre Stichwortgeber waren — Peter Sloterdijk, Thilo Sarrazin, Henryk M. Broder —, sie hätten gemein­samen Gesprächsstoff für vielleicht fünf Minuten. Danach würde ein ­großes Hauen und Stechen einsetzen. A kann mit B, B kann mit C, A aber nicht mit C usw.

 

Hinzu kommt, dass diese Neue Rechte in Parallel­welten existiert. Pirinçci ist der Star der Leserkommentare und Amazon-Kundenrezen­sio­nen. Das reicht für einen Bestseller, aber es prägt keinen Diskurs, stößt keine Debatte an, da können Pirinçci und seine Anhänger auch noch so laut schreien. Umgekehrt fallen die besser situierten AfD-Unterstützer nie in Pirinçcis Fäkal-Jargon, sondern agieren betont leisetreterisch. Und beide sind weit entfernt von den montäglichen »Mahnwachen für den Frieden«, auf denen in Berlin der einstige antideutsche Kommunist und heute para­noide Nationalist Jürgen Elsässer schwadroniert — Elsässers Magazin Com­pact hat aber soeben Pirinçci als »besten Deutschen« gefeiert. Was dem aber nicht gefallen dürfte. Kurzum: Man wurschtelt nebeneinander her.

 

Aber man wurschtelt in die gleiche Richtung und zwar erfolgreich. Man protestiert gegen den Euro-Rettungs­schirm und gegen Aufklärung über Homosexualität im Schulunterricht. Damit bringt man Menschen auf die Straße und gewinnt Wahlen. Das Reich von Broder, Jan Fleischhauer und Sloterdijk ist die Talkshow. Ihre »Schüler« von der AfD sind ins Europaparlament und in viele Stadträte eingezogen — auch in Köln.

 


 

26. April 2014, Roncalliplatz

 

Das Wetter hat mitgespielt beim Auftakt für den Europa-Wahlkampf der Alternative für Deutschland. Die Barbour-Jacken-Dichte ist hoch, der Altersdurchschnitt auch. Ein junger Mann läuft mit einem Plakat über den Roncalliplatz: »Nein zu EU und ›Euro-Wahn‹ — Ja zur AfD!« Er wird es die nächsten zwei Stunden tun. Unter den Zuschauern befinden sich ­sieben Fans der German Defence League, der hiesigen Kopie der britischen Anti-Islam-Hooligan-Gruppe English Defence League.

 

Kurz vor Beginn der Kundgebung tauchen zwei Dutzend Antifas auf. »Nationalismus ist keine Alternative« steht auf ihrem Transparent. Ein paar Scharmützel mit der Polizei, schon müssen sie vom Rand der Kundgebung aus protestieren. Mittendrin: Hendrik Rottmann von der Kölner AfD. Der Bundeswehrsoldat und künftige Ratsherr für Porz trägt schwarze Sonnenbrille zur schwarzen Allwetterjacke und wacht darüber, dass alles nach Plan läuft. AfD-Chef Bernd Lucke wird interviewt, ein Demonstrant hält ein Flugblatt in die Kamera. Rottmann und zwei weitere Ordner schwärmen aus, um ihn zur Rede stellen.

 

Auf der Bühne redet derweil Marcus Pretzell. Der Biele­felder Immobilienentwickler gilt als parteiinterner Querulant. Er hatte sich Ende März mit Nigel Farage von UKIP getroffen, als dieser von der AfD-Jugendorganisation »Junge Alternative« nach Köln eingeladen wurde — sehr zum Ärger von Parteichef Bernd Lucke. Der möchte seine Partei vor der Europawahl gerne vom Verdacht der Nähe zum rassistischen UKIP und den Neo-Faschisten vom Front National befreien. Immer wieder fällt die AfD dadurch auf, dass sie ihren Markenkern Euro-Kritik um klassisch rechts­populistische Themen erweitert.

 

Ihre Europakandidatin Beatrix von Storch, Listenplatz vier, lief in der ersten Reihe einer Demonstration gegen den Bildungsplan »Sexuelle Vielfalt« in Stuttgart. Die »Junge Alternative« wirbt mit Frauen in String-Tangas für »mehr Vielfalt« und platziert darunter den Slogan »Verstand anstatt Ideologie«. Ideologen sind in der Weltsicht der AfD alle diejenigen, die nicht ihrer Lehrmeinung entsprechen. Und für die Lehrmeinung ist in der AfD zuerst eine Person zuständig: VWL-Professor Bernd Lucke, der Vorsitzende.

 

Dieser betritt gegen zwei die Bühne und beginnt seine Vorlesung über das »Selbstbestimmungsrecht eines Volkes«. Der Begriff wird noch ein paar Mal fallen. Im Völkerrecht meint man damit die Möglichkeit, dass sich eine diskriminierte ethnische Minderheit von einem Staat lossagt, wenn dieser ihre Rechte fundamental missachtet. Im Vokabular der neuen Rechten ist damit das Eintreten für nationalistische Interessen gemeint. So verwendet ihn Marine Le Pen und so verwendet ihn auch Bernd Lucke. Die Schweiz wird von der EU für das Ergebnis des Volksentscheids gegen Einwanderung kritisiert? Verletzung des Selbstbestimmungsrechts. Niedrige Zinsen aufgrund der Politik der EZB? Verletzung des Selbstbestimmungsrechts. »Man traut sich nicht zu sagen, dass etwas im deutschen Interesse ist«, sagt Lucke. Beifall. »Das ist ein ungesunder Zustand!« Noch mehr Beifall. Auch die German Defence League klatscht. Die Welt zu beschreiben, wie Lucke sie sieht, erfordert Mut. Findet zumindest Lucke.

 

Lucke lebt vom Gestus des Akademikers, der den Massen die wissenschaftliche Wahrheit verkündet. Dies gelingt ihm, weil alle dabei mit­machen. Thomas Leif präsentiert ihn im SWR als beflissenen Statistiker. Die FAS schildert mitfühlend die Probleme, die der Wissenschaftler Lucke mit den Stammtischparolen beim politischen Aschermittwoch hat. Dabei hat Lucke die Wissenschaft längst hinter sich gelassen, wenn er die politische Bühne betritt. Er ist der personifizierte Think-Tank: Lobbypolitik im wissenschaftlichen Gewand. Nur wessen Lobby die AfD vertritt, ist nicht so ganz klar. Sind es die Kleinsparer, die unter den niedrigen Zinsen leiden? Gefrustete Ex-Mitglieder von CDU und FDP, für die sich die einstigen Heimatparteien zu weit von Nationalliberalis­mus und christlichen Werten entfernt haben? Oder ist es ein »natio­nal­konservatives Elitenprojekt«, das gerade deshalb kein offensichtlichen Lobbyismus durch Konzernspenden braucht, weil die eigene Klientel für die Sicherung ihres Vermögens und ihrer Geschäftsmodelle genügend in die Parteikasse einzuzahlen bereit ist?

 

Für letzteres spricht die Anwesenheit von Hans-Olaf Henkel. Jahrelang gab er als BDI-Präsident den neoliberalen Einpeitscher. Im Januar wurde er als Neumitglied der AfD vorgestellt, im April wurde bekannt, dass er die AfD mit einem Darlehen von einer Million Euro unterstützt hat. Heute gibt Henkel den Reumütigen. »Ich habe mich geirrt«, sagt er und meint seinen Einsatz für den Euro-Beitritt Griechenlands. »Sie können jetzt ›Buh‹ rufen« und seine Fans tun es. Später lassen sie sich mit Henkel fotografieren: Er trägt Anzug und Krawatte, sie Beige zu Beige. Man steht zu den Werten, von denen man profitiert.

 


 

Rückblick auf den Konservativismus: In seiner heroischen Zeit, den Jahrzehnten nach der französischen Revolution, bildete sich das konservative Denken im modernen Sinne heraus. Es war eine Reaktion der entmachteten oder von der Entmachtung bedrohten adligen und klerikalen Eliten auf die Egalitätsansprüche des Bürger­tums — und des Pöbels. Von Anfang an bildete sich konservatives Denken in Abhängigkeit von einer progressiven gesellschaftlichen Klasse. Daher kommt es, dass die Sehnsucht des Konservativen nach einem Ursprung, dem Zeitpunkt, zu dem noch feste Werte wie Familie, Vaterland und Kirche gegolten haben, paradox ist. Wären diese Werte wirklich so fest, so »heilig«, wie konnten sie sich jemals wandeln? Und wo genau fing der Wandel an? Die klügsten Konservativen zogen deshalb die Position des Melancholikers vor, des einsamen Kulturkritikers, der altersmilde seine eigenen Widersprüche zur Schau stellt.

 

Diese Altersmilde geht den heutigen Konservativen ab. Wie der politische Kompromiss wäre sie ein Zeichen von Schwäche. Nicht nur Henkel und sein später Einsatz für die AfD zeigen das. Thilo Sarrazin und Henryk M. Broder inszenieren sich als dirty old men, Pirinçci pflegt sein Sozialtourette. In ihrer Dauererregtheit zeigt sich ihre Fixierung auf den Zeitgeist. Ständig müssen sie für Aufsehen sorgen, ständig sind sie von der Sorge umgetrieben, zu kurz zu kommen. Das Pochen auf den Nonkonformismus ist der Konformismus unserer Zeit. Auftritt Akif Pirinçci.

 


 

Brückenforum, Bonn. 10. Mai 2014

 

Auf dem Podium fordert ein Redner »Freiheit für Uli Hoeneß«, zwei blonde und blauäugige Bodyguards bauen sich am Bühnenrand auf, dazu läuft die nordkoreanische Nationalhymne — so beginnt die Buchvor­stellung von Akif Pirinçcis »Deutschland von Sinnen«. Es ist ein Familien­treffen: Leser der PI-News, Protagonisten der rechtslibertären Partei Die Freiheit, die Macher des Magazins Eigentümlich Frei, das den Abend ausrichtet, sind gekommen. Auch die German Defence League ist vor Ort. Ferdinand Gerlach, Landesvorsitzender von Die Freiheit, steht auf dem Raucherbalkon und liefert sich ein Wort­duell mit einem Demonstranten. »Katzenkrimis haben mich schwul gemacht« steht auf dessen Plakat.

 

Mit über 200.000 verkauften Exemplaren gelang Pirinçcis Buch der Überraschungserfolg dieses Frühjahrs. Es ist eine Polemik gegen einen »rot-grün versifften« Mainstream, der mit dem Steuergeld hart arbeitender Bürger nichts besseres zu tun hat, als die Interessen von Migranten, Schwulen, Lesben und Frauen zu bedienen. Die Grundthese schmückt Pirinçci aus: mit Migranten, die erst ein freches Anspruchsdenken an den Tag legen und sich dann undankbarerweise islamisieren; mit Schwulen, die beim CSD nichts besseres zu tun haben, als sich in der Öffentlichkeit zu befummeln. Es ist ein voyeuris­tisches Buch, das sich in seinen Fantasien gefällt.

 

Aber von den 200.000 Käufern von Pirinçcis Aus­fällen haben nur etwa 150 den Weg ins Brückenforum gefunden. Platz genug wäre auch für die dreifache Menge gewesen. Die Lesung beginnt. Neben mir nimmt ein junger Mann Platz. Pulli und Jeans in schwarz, Haare und Fingernägel auch. Er heißt Jörg und erzählt mir etwas von »deutschem Blut«, das er trotz seiner rumänischen Herkunft besitze. Ein paar Plätze weiter sitzt eine Redakteurin der FAZ. Pirinçci lese »wie ein Vorschüler« wird sie später schreiben. Unrecht hat sie damit nicht. Pirinçci hält sich am Weinglas fest, während er aus seinem Text über den »Deutschen Intellektuellen« vorliest. An der Stelle, an der er den taz-Redakteurinnen sein Geschlechts­teil anbietet, kann sich Deutschblüter Jörg vor Lachen kaum auf dem Stuhl halten.

 

Es gibt zwei Lesarten von Pirinçcis Auftreten. In der einen ist der Bonner Autor ein Volksverhetzer: ein Rassist, frauen­feindlich und homophob. In der anderen ist er ein Mann in der Midlife-Crisis, dem letztlich alles egal sein kann, weil er mit seinen Katzenkrimis zum Millionär wurde. Pirinçci bevorzugt letztere. Immer wieder betont er seine Nichtsnutzigkeit für die Politik: »Abends bin ich meistens besoffen.« Denn anders als sein SPD-Pendant Sarrazin geht Pirinçci verklemmt bürgerliche Bildungs­be­flissen­heit vollkommen ab. In »Deutschland von Sinnen« finden sich keine Ausflüge in die Genetik, lediglich der Vulgärdarwinist Richard Dawkins darf als Kronzeuge auftreten, warum Schwulensex widernatürlich sei. »Mein Buch ist literarisch«, sagt Pirinçci auf dem Podium und spekuliert ein bisschen: »Ich gehe davon aus, dass in Wahrheit neunzig Prozent der in den Medien arbeitenden Menschen der gleichen Meinung sind wie ich.« Aber nur er traut sich, den Mund aufzumachen.

 

So durchschaubar die Taktik auch ist, sie geht auf. Ein Mann, auch er mittleren Alters, äußert sich in der Diskussion: »Wenn man sich irgendeinen Artikel zu den hier ange­sprochenen Themenkreisen durchliest, dann hat man das, was man als Systemmedien-Einheitsmeinung bezeichnet«. Mit den »hier angesprochenen Themenkreisen« meint er Gender-Mainstreaming, sexuelle Vielfalt, den Islam und — besonders wichtig — die Steuerpolitik. Es sind Themen, die in einem Milieu Konjuktur haben, das Margaret Thatchers Ausspruch »Es gibt kein Ding namens Gesellschaft. Es gibt lediglich einzelne Frauen, Männer und Familien« zu seinem Mantra gemacht hat. Ein Milieu, in dem Rechtslibertäre, die für ein von gesellschaft­lichen Verpflichtungen wie Steuern und Rundfunkgebühren befreites Individuum eintreten, mit Rechtskonservativen wie Andreas Lombard von Pirinçcis Verlag Manu­scriptum fraternisieren, der der fixen Idee anhängt, dass sich ein »Volk« über Verwandtschaft definiert.

 

Am Ende der Diskussion wiederholt Pirinçci noch einmal den Tenor von »Das Morden hat begonnen«, der Tirade, die ihn letzten Sommer zurück in die Öffentlichkeit katapultiert hat. Es ist ein Schauermärchen von muslimischen Männern, die nichts lieber tun wollen würden als Deutsche zu ermorden, um mit ihren Frauen zu schlafen. Als er fertig ist, beginnt die Fragestunde. Schließlich springt noch Jörg auf, läuft zum Mikrofon und fragt nach einer Maßnahme gegen »die Islamisierung«: »Wie soll das deutsche Volk sich behaupten?« Und Pirinçci antwortet: »Das geht nur über das Geld. Es ist in diesem Land zuviel Steuergeld vorhanden. Unsere Politiker sind Diebe, die in den Knast gehören. Alle diese Probleme lassen sich lösen über einen Steuerboykott.« Klatschen.

 


 

Die Neuen Rechten sind Prediger eines ungezügelten Individualismus, verherrlichen die Selbstverwirklichung, aber: heterosexuell muss es zugehen, muslimisch darf es nicht sein, ein paar Kinder sollte man — Mann — dabei schon in die Welt setzen. Das sind durchaus Widersprüche, aber wie gesagt: Es kommt nicht auf ein geschlossenes Weltbild an, sondern auf das Herstellen von Evidenzen. Pirinçci schreibt, Heterosexualität sei das Starterset der Menschheit. Endlich hat er was, was er dem Schwulen, der die begehrte Währung Aufmerksamkeit einstreicht, an den Kopf werfen kann: Du bist ein Extra, dein Wesen ist abartig. Das ist so brutal gemeint, wie es klingt, aber es ist natürlich Unsinn: Ein Schwuler kann Kinder zeugen, eine Lesbe kann sie gebären. Zeugungsfähigkeit gehört zum Starterset — und nur wenig mehr.

 

Sicher zeigt sich in der Wahnvorstellung, man sei von Minderheiten und ihrem angeblichen Anspruchsdenken umstellt und permanent den Manipulationen des Mainstreams ausgesetzt, während man in Wirklichkeit die schweigende Mehrheit repräsentiere, eine tiefe Verunsicherung des Bürgertums: Das neoliberale Armutsprogramm der letzten Jahre bedroht auch den Mittelstand. Die neuen Konservativen versprechen eine Wiederbefestigung der sicheren Identität — ohne all zu viel ändern zu müssen. Schuld haben die anderen, die als schwächere nur im Rudel »uns, die Leistungsträger« bedrohen können. So funktioniert diese Identitätsstiftung vor allem über Feindbilder. Egal ob sie nun für oder gegen Putin sind — einig sind sich die Neuen Rechten in ihrem Hass auf eine liberale Linke, die ihnen zu sehr auf Multikulti und Toleranz macht.

 

Was diese Neue Rechte, oder sagen wir besser: diese Neuen Konservativen ausmacht, existiert nur im Negativen. Ihre Haltung kann nicht aus sich selbst schöpfen, deswegen gerieren sich die Protagonisten, hauptsächlich aggressive Aufsteigertypen — und tatsächlich: Typen —, so eklektizistisch. Mal tauchen linke, mal rechte Versatzstücke auf, mal liebt man Deutschland über alles, mal ist man Kosmopolit. Die erfolgreich­ste Option ist derzeit ein vages Auftreten, das von sich selbst überrascht tut: Lars Mährholz, Initiator der »Mahnwachen für den Frieden« und einer ihrer Stars will weder links noch rechts sein, sondern schaut naiv in die Kameras — Frieden ist Frieden ist Frieden, Putins Frieden ist so gut wie der Frieden ­Gandhis, nur dem amerikanischen Frieden traut er freilich nicht. Mit dieser ostentativen Unterkomplexität trifft er einen Nerv. Auf den Friedensdemos hört man die Einpeitscher Jebsen, Elsässer oder Mährholz eine Graswurzel-Rhetorik entfalten (»Man Name ist Ken Jebsen und meine Zielgruppe bleibt der Mensch«), wie man sie etwas zu weichgekochten Anarchisten zuordnen würde. Mittlerweile besteigt Jebsen keine Podien mehr, sondern mischt sich unter die Zuhörer, brüllt aber weiter durch sein Mikrofon. Natürlich bleibt er, der geschasste ARD-Moderator, ein Medienprofi, redet rhetorisch geschliffen, gerade die Hört-nur-auf-euch-selbst-Rhetorik befeuert sein Charisma. Er herrscht sein Publikum an, jetzt endlich mal autonom zu sein.

 


 

19. Mai 2014, Heumarkt

 

So sieht sie also aus, eine Montagsdemo. Vor dem Hohenzollern-Denkmal hocken 120 junge Menschen auf dem Pflaster in der Sonne. Lukas Puchalski, der Organisator der Kölner Mahnwachen, trägt Baseball-Kappe und Chucks, dazu ein »Stop Monsanto«-T-Shirt. Findet ein Redebeitrag seine Zustimmung, nickt er anerkennend, als wäre er ein HipHopper, der Props gibt. Der raunende Ton von Jürgen Elsässer, die Wanderprediger-Aura von Ken Jebsen: das alles ist Berlin. Die Paranoia gegenüber den Medien ist aber auch in Köln da. »Das les’ ich dann mal gerne, ob’s objektiv ist«, zeigt sich ein Mahnwächter skeptisch. »Das hier als Neo-Rechte abzustempeln ist ein bisschen einfach.« Vor dem Mikro spielt jemand eine Sirene aus dem Fernsehfilm »Dresden« und sagt: »Wenn Sie diese Sirene das nächste Mal hören, werden Sie ihren Kaffee nicht mehr in Ruhe trinken können.« Dann lobt er Putin dafür, auf der Krim für »klare Verhältnisse« gesorgt zu haben — »ohne dass ein Schuss fiel«.

 

Es ist schwierig, diese Montagsdemo auf einen Begriff zu bringen. Auf dem Heumarkt sitzen junge Menschen, manche mit Hardcore-T-Shirts, andere mit »Good Night, White Pride«-Hoodie. Dazwischen wirbt jemand mit Friedenstaube für Aktionen gegen die Kölner Rüstungsmesse ITEP. Am Mikro spricht Alex, nach eigener Auskunft Mitglied der Linkspartei, über die Spaltung der Menschen in »oben und unten«. Er kritisiert die »Dämonisierung« von Putin oder Saddam Hussein, nennt Israel einen »Apartheidsstaat«.

 

Kurz darauf hört man ein »Hallöchen«, René liest von seinem Smartphone ab. Er spricht mit starkem rheinischen Akzent, immer wieder verrutscht er in der Zeile. Dann lacht er hektisch und redet weiter. »Macht den Fernseher aus«, sagt er und »Liebe bringt Frieden«. So würde man in einer schlechten Comedy den Sozialarbeiter reden lassen. Auch der Name von Ken Jebsen fällt, aber eher nebenbei. Den Anschein, es gäbe Führerfiguren, will hier niemand erwecken. Auch René stellt sich als Mitglied einer Graswurzelgruppe vor. Sie nennt sich »Menschen für Menschen«, wer dazu gehören möchte, soll ein T-Shirt tragen — »schwarz-weiß, wer ein anderes T-Shirt trägt, gehört nicht zu uns«. »Menschen für Menschen« wollen jeden zweiten Sonntag Spaziergänge durch deutsche Städte machen. Was sie damit erreichen wollen? Einen Friedensvertrag, denn »Deutschland muss wieder souverän werden«, sowie »Sozialleistungen für diejenigen, die in das System eingezahlt haben.« Das »nur« spart er sich — es wäre zu eindeutig.

 

Dieser Kontrast zwischen unentschieden wirkendem Plauderton und streng revisionistischen Forderungen ist typisch für die Montagsdemo. Zwischendurch tritt die Reggae-Band Bermudakustik auf und spielt einen schludrigen Offbeat. Ihr Sänger erzählt von seiner Freundin. Sie habe gefragt, ob »diese AfD« rechts sei und er habe geantwortet: »Ja, ne, weiß nicht. Ich hab mir das angeguckt und so richtig rechts kommt mir das eigentlich nicht vor.« Dann wirft er den Begriff »Nazikeule« in den Raum. So immunisiert man sich gegen Kritik — indem man Strohmänner konstruiert. Denn Nazis sind die Teilnehmer der Montagsdemo nicht. Wohl aber hängen viele einem esoterischen Weltbild an, dass einen »inneren Wandel« zum Beginn von gesellschaftlicher Veränderung macht.

 

Zum Schluss der Kundgebung sitzt Tobias vor dem Hohenzollerndenkmal und schwärmt von der Ubuntu-Philosophie Michael Tellingers. »Er hat den Banken das Geständnis abgerungen, dass sie nicht mit Geld, sondern mit Schuldverschreibungen handeln«, erzählt Tobias. »Moneypulation« steht auf einem Plakat am Pavillon der Mahnwachenorganisation. Es ist kein Zufall, dass am heutigen Tag kein einziges Mal von Arbeit und Ausbeutung die Rede ist, sondern nur vom Geldsystem. Michael Tellinger war Spitzenkandidat der südafrikanischen Ubuntu-Partei, die bei den diesjährigen Wahlen antrat. Er spricht von einer »Versklavung der Menschen durch die Banken«. Als Nummer Zwei auf der Kandidatenliste trat Stephen Goodson an. 2012 verlor er seinen Job als Direktor der südafrikanischen Zentralbank. Er hatte den Holocaust geleugnet.

 


 

Am 18. Mai haben sich prominente Mitglieder der Linkspartei dafür ausgesprochen, das Bündnis mit den Montagsdemos zu suchen. Es ist ein Ausdruck der Hilflosigkeit. Ken Jebsen konnte in den letzten Wochen einige szeneprominente Linke als Unterstützer der Friedensmahnwachen gewinnen, etwa den Attac-Aktivisten Pedram Shahyar oder den Kabarettisten Prinz Chaos. Dabei müsste denen doch auffallen, dass vom Kernthema aller Linken — der Ausbeutung der Arbeitskraft — nie die Rede ist, dass das K-Wort — Kapitalismus — nicht in den Mund genommen wird, aber viel vom knechtenden Zinssystem geraunt wird. Ganz die alte Leier, wonach es ehrliche Arbeit gibt, die bloß durch undurchsichtige Bankenverschwörungen permanent sabotiert würde. Aber vielleicht sind die Friedensdemos auch keine Ausnahme.

 

Wenn die Linkspartei den Euro-Ausstieg debattiert und ihr Vorsitzender Bernd Riexinger nach Griechenland fährt, um, so seine unglückliche Formulierung, »deutsche Steuergelder zu retten«, wenn sie Putins Ukraine-Politik mit dem Völkerrecht verteidigt, dann bedient sie mindestens strategisch den Populismus. Sie versäumt es, einen eigenständigen Politikentwurf zu präsentieren. Die Stärke der Neuen Konservativen resultiert einmal mehr nicht aus eigener Kraft. Sondern daraus, dass ihre Gegner ihnen nach dem Mund reden.