Heim & Welt

Deiktisch vollfett

 

Es gibt solche und solche. — Nein, dies ist kein Fragment der Vor-sokratiker, auch keine Notiz des späten Wittgenstein, das stammt von Oma Porz. Ein Satz wie ein alethisches Bergwerk. Damit lassen sich nicht Gold, nicht Erz zutage fördern, wohl aber Erkenntnisse. Jedenfalls, wenn man Oma Porz’ Moralphilosophie begreifen möchte. Und wer wollte das nicht?

 

Ist Oma Porz doch ihres Zeichens eine der letzten, beharrlichsten und umstrittensten Vertreterinnen von Anstand und Etikette. Wer, wenn nicht Oma Porz, wiese denn noch darauf hin, dass der alltägliche gesellschaftliche Verkehr, die soziale Interaktion, unter Betrachtung der Umgangsformen einer Massenpanik, wenngleich im Schneckentempo, gleicht; so schlecht sind die Manieren der Leute, sagt Oma Porz! Wenn ich jemals darauf verfallen sollte, als Oma-Porz-Biograf zu reüssieren, so überschriebe ich meinen Wälzer mit eben diesem Titel: Es gibt solche und solche. Es ist ein Satz, so wuchtig wie Omas Porz’ Wohnzimmerschrankwand, die ebenfalls unter ihrem eigenen Gewicht ächzt und zusammenzubrechen droht. 

 

Versuch einer Annäherung: Ersetzt man in dem Satz solche jeweils durch, sagen wir, Dolche oder Molche, so wäre er einfach. Dann erführen wir eben, dass Stichwaffen mal gut, mal weniger gut gearbeitet sind und dass Schwanzlurche bisweilen enorme biologische Varianzen aufweisen (was haben schon Triturus dobrogicus und Lissotriton vulgaris gemein?!) — allein, darüber redet Oma Porz ja nicht. Was aber bedeutet es nun, wenn Oma Porz von solchen redet? Worauf zeigt dieser Satz? Er enthält immerhin vierzig Prozent Demonstrativpronomina und darf somit wohl zu Recht deiktisch vollfett genannt werden. 

 

Das letzte Mal, als ich den »Satz von Oma Porz« von Oma Porz hörte, stand ich mit — natürlich — Oma Porz in einem voll besetzten Linienbus und keiner der Fahrgäste bot einen Sitzplatz an. Wenn man wackelig ist auf den Beinen und Linienbus-Busfahrer das tun, was ihnen gelehrt wurde, nämlich wie von allen guten Geistern verlassen durch die Straßen zu pesen, dann hat man als notgedrungener Stehplatzkunde ein Problem. Dann hat Oma Porz ein Problem. Reichlich Zeit ging ins Land, mir war, als wechselten schon die Jahreszeiten, da erbarmte sich doch endlich jemand und bot seinen Sitzplatz an. Oma Porz, statt eines knappen Danks, sprach daraufhin nur eben diesen, ihren Satz, wonach es solche ... Sie wissen schon.

 

Und derart gab Oma Porz dem zunächst sträflich unaufmerksamen, dann aber willfährigen Fahrgast Rätsel auf: Zu welchen der zitierten Solchen gehörte er nun? Zu solchen, die — zumindest sehr lange, vielleicht zu lange — wegschauen, wenn Alte ungelenk an Halteschlaufen hangeln? Oder zu solchen, denen Oma Porz eine zumindest geringfügig höhere moralische Dignität attestiert als jenen Nichtsnutzigen, die weiter auf Displays gaffen wie auf das sprichwörtliche Brett vorm Kopp? Der Satz von Oma Porz bekam so eine irritierende Ambiguität, die zum Nachdenken zwingt. Mehr noch: Gab es womöglich eine dritte, wiewohl wieder gleichlautende Kategorie, nämlich nicht nur solche und solche, sondern auch noch solche? Worunter jene zu fassen wären, die, wie unser Fahrgast, noch auf den Pfad der Tugend finden, obzwar spät und — erneute Unwägbarkeit! — womöglich allzu spät? Gibt es solche und solche und solche?  

 

Der Satz von Oma Porz ist ein Gleichnis, das gänzlich abstrakt ist. Es enthält eine moralische Aufforderung, die nicht dechiffriert werden kann. Salopp gesagt: Verhaltensweisen gibt es solche und solche, richtige und folsche. Der Satz verweist auf eine Lücke, die wir schließen sollen. Sie klafft dort, wo etwas unserer Aufmerksamkeit entgeht; ein Manko, das vielleicht nur Etikette verhindern kann.