Wie die tatsächlichen Sachverhalte verschleiert werden, nervt viele Anwohner | Foto: Manfred Wegener / StadtRevue

S.O.S. bei Shell

Explosionen, eine riesige Rauchwolke, marode Leitungen und verseuchtes Wasser — die Rheinland-Raffinerie des Mineralöl-Multis Shell ist zur Bedrohung für Mensch und Natur geworden. Dennoch gibt es kaum Proteste und die Politiker wirken handzahm. Was ist da los im Kölner Süden?

Ein Sommertag am südlichen Stadtrand. Das Licht der Sonne thront über den Feldern, und der Himmel über Wesseling hat heute keine Wolken, sein Blau leuchtet wie frisch poliert. Am Rande der schmalen Landstraße wachsen Wegwarte und Wiesenschaumkraut, ein Summen liegt leise in der windlosen Luft. Es kommt von hinter den stacheldrahtbewehrten Absperrungen mit den Überwachungskameras und Warnhinweisen. Dort steht die Rheinland-Raffinerie des Mineralölkonzerns Shell. Das Werk Nord befindet sich in Godorf, hier in Wesseling befindet sich das Werk Süd. Wer an der Waldstraße steht, auf halber Strecke zwischen Autobahn und Straßenbahnstrecke, der sieht die hochhaushohen Tanks der Anlage, die profane Pracht der Industrie, grau und klobig. Was man nicht sieht, ist etwas, das ebenso imposant ist. Der Boden hier vor dem Werk ist mit Kerosin verseucht, auf einer Fläche, die fast so groß ist wie sechs Fußballfelder.

 

Vor zweieinhalb Jahren, am 28. Februar 2012, teilte Shell mit, dass es Probleme mit einer unterirdischen Verbindungsleitung zwischen dem Werk Süd in Wesseling und einem Tanklager gebe. Irgendwo auf der 800 Meter langen Strecke müsse sich ein Leck befinden. Die Bezirksregierung Köln als zuständige Aufsichtsbehörde verordnete daraufhin, dass Shell Gutachter einbestelle, um den Schaden zu analysieren. Das Leck war bald gefunden, es war kleiner als ein Daumennagel. Trotzdem waren in den zurückliegenden vier Wochen bereits mehr als eine Million Liter Kerosin versickert, das entspricht rund 850 Tonnen. Pro Stunde traten 1700 Liter aus, eine »Schleich-Leckage«. Erst ab einer Menge von 5000 Litern pro Stunde wäre das Alarmierungssystem angesprungen.

 

Leitungen im Zweiten Weltkrieg verlegt

 

Die Leitungen in den beiden Shell-Werken in Wesseling und Köln-Godorf sind teils noch im Zweiten Weltkrieg verlegt worden. Heute müssen solche unterirdischen Rohre doppelwandig und in einem Schutzrohr verlegt sein, aber für die alten Leitungen gilt das nicht: Sie haben Bestandsschutz. Shell versicherte nach dem Kerosin-Desaster zunächst hartnäckig, dass das Alter und die Ausführung der Leitungen kein grundsätzliches Problem darstellten. Die Sprachregelung des Konzerns lautet, dass das Kerosin-Leck ein »singuläres Ereignis« gewesen sei: Streuströme einer in geringem Abstand kreuzenden Wasserleitung hätten den kathodischen Korrosionsschutz der Kerosinleitung aufgehoben. Trotz der Einmaligkeit des Vorfalls kündigte die Raffinerie an, die gesamte Nordtrasse mit den acht Leitungen zu erneuern und oberirdisch anzulegen. »Das kostet 10 Millionen Euro«, sagt Graf Constantin von Hoensbroech. Der Sprecher der Rheinland-Raffinerie betont, dass diese Maßnahme freiwillig geschehe. Aber was bedeutet hier »freiwillig«, wenn offenbar nur noch diese eine Möglichkeit besteht, die nächste Umweltkatas­trophe zu verhindern? Die Verantwortlichen der Rheinland-Raffinerie werden abgewogen haben, was sie güns­tiger kommt: eine mögliche weitere Leckage samt unabsehbarer Kosten für die Sanierung oder diese ohnehin längst überfällige Investition in die Sicherheit.

 

Wie hoch die Kosten sind, um die Kerosin-Verseuchung zu sanieren, will Shell nicht sagen. Derzeit wird mit vier Sanierungspumpen Kerosin abgepumpt, das auf dem Grundwasser schwimmt. Dass das Grundwasser nicht auf die Trinkwasserschutzgebiete im Süden zufließt, ist Glück im Unglück. Probleme gibt es aber genug. Nicht alles lässt sich abpumpen, und die Reinigung des vereuchten Erdreiches ist schwierig. Shell testet ein neues Verfahren, um das Kerosin mikrobiologisch abzubauen: Beim »Biosparging« wird Sauerstoff in den Boden unter dem Grundwasserbereich gepumpt wird. »Erste Befunde deuten darauf hin, dass Biosparging zum Erfolg führen kann«, sagt Constantin Graf von Hoensbroech.

 

Murks mit provisorischer Manschette

 

Aber der sogenannte unterirdische Kerosinsee von Anfang 2012 war nur der Auftakt zu einer Serie weiterer Leckagen und Unglücke. Im vierten Quartal 2012 gibt es, diesmal im Werk Godorf, insgesamt fünf Schäden durch Korrosion oberirdischer Leitungen, viermal gelangen die chemischen Stoffe in den Boden. Die betriebsinternen Prüfungen der Rohrleitungen, zu denen Shell verpflichtet ist, haben versagt. So treten am 2. Oktober 2012 aus einer oberirdischen Leitung etwa 3,3 Tonnen des krebserregenden Raffinerie-Produkts Heart-Cut aus — an einer Stelle, deren Reparatur der TÜV Rheinland bei der turnusmäßigen Kontrolle bereits 2006 angemahnt hatte. Shell aber ließ lediglich eine provisorische Manschette an der fast 40 Jahre alten Leitung anbringen. Weil der TÜV Rheinland die Stelle nie mehr prüfte — das nämlich liegt im Ermessen der Kontrolleure — blieb der Murks unentdeckt, bis es zur Leckage kam.

 

In der Katastrophenforschung heißt es, dass Unglücke nur dann das kollektive Denken prägen und verändern, wenn sie starke Bilder erzeugen. Leitungslecks und eine unterirdische Kerosinverseuchung, sei sie noch so groß, sieht man nicht. Eine riesige schwarze Rauchwolke, die stundenlang am Himmel steht, schon eher. Am 9. Januar 2014 sahen daher auch die Kölner, die nicht im Süden wohnen, welche Gefahren von der Shell-Raffinerie ausgehen. Im Godorfer Werk war ein Tank mit der giftigen Chemikalie Tuluol explodiert, weil er falsch beschriftet war. Von Shell erfährt man während des Unglücks zunächst nichts, das »Nachbarschaftstelefon« der Rheinland-Raffinerie ist mehr als eine Stunde nicht erreichbar. Auf ihrer Homepage gibt es, gut versteckt, nur äußerst dürftige Informationen. Tatsächlich ist Shell dazu auch gar nicht verpflichtet — lediglich zu einer Informationsbroschüre, in der Verhaltensregeln für den »Ereignisfall« mitgeteilt werden. Verteilt wird die Broschüre als Beilage des Kölner Wochenspiegels, einem Anzeigenblättchen, das in vielen Haushalten direkt ins Altpapier gesteckt wird.

 

Immer mehr Menschen im Kölner Süden sind überzeugt, dass es typisch für Shell sei, nur dann dem Informationsbedürfnis der Bürger nachzukommen und nur dann die Sicherheit zu erhöhen, wenn es juristisch unumgänglich ist. Als nach dem Großbrand im Januar die Bezirksregierung mit Ordnungsverfügungen Shell zur Kooperation zwingen will, wehrt sich der Konzern zunächst mit juris­tischen Mitteln. Aber auch die Bezirksregierung als Überwachungsbehörde gerät in die Kritik. Hätte sie früher eingreifen müssen, weil die desaströsen Zustände in der Rheinland-Raffinerie längst bekannt waren?

 

Auch TÜV Rheinland in der Kritik

 

Die Bezirksregierung Köln erklärt dazu, es habe »intensive Kontrollen durch die Behörde, unter anderem in Form von regelmäßigen Umwelt- und Störfallinspektionen gegeben«. Die Rohrleitungen allerdings wurden entsprechend den gesetzlichen Vorschriften turnusmäßig vom TÜV Rheinland begutachtet. »Die Ereignisse haben gezeigt, dass es bei dieser Fremdüberwachung Schwachpunkte gab«, kommentiert die Bezirksregierung Köln diese Prüfungen. NRW-Umweltminister Johannes Remmel (Grüne) kündigte daher am 12. März dieses Jahres einen »Maßnahmenplan zur systematischen Untersuchung sämtlicher unter- und oberirdischer Rohrleitungen« an. Alle Rohrleitungen sollen bis 2017 vollständig durch externe Gutachter überprüft werden. Das gesamte Sicherheits-Management zu prüfen, ist indes aufwändig und teuer. Und dass diese Prüfungen überhaupt beschlossen werden mussten, zeigt zudem, in welch bedenklichem Zustand die Rohrleitungen in den Shell-Werken sind.

 

Viele Anwohner bleiben daher skeptisch. Jan Rolff ist Sprecher der IG Hahnwald, das Villenviertel grenzt im Süden fast an das Shell-Werk Godorf. Nach den vielen Störfällen sorgen sich die Hahnwalder, und das nicht nur weil ihre Immobilien durch das Chaos bei Shell an Wert verlieren könnten. »Dass es überhaupt so weit kommen konnte, ohne dass die Aufsichtsbehörde eingreift, irritiert mich«, sagt Rolff. »Und was jetzt geschieht, ist für mich nicht zufriedenstellend. Alles was bislang geschehen ist, sind bloß Reaktionen auf bereits eingetretene Missstände, kein pro-aktives Vorgehen.«

 

Paul Kröfges, Beauftragter für Wasserthemen und Gewässerschutz beim Bund für Umwelt und Naturschutz NRW (BUND), begrüßt zwar die angekündigte umfassende Untersuchung sämtlicher Rohrleitungen durch externe Gutachter. »Aber es muss zukünftig unbedingt auch konsequenter, umfassender und häufiger kontrolliert werden«, sagt der gelernte Chemotechniker, der selbst jahrelang in der Industrie gearbeitet hat. »Die Bezirksregierung ist ihren Aufgaben bislang nur nach den gesetzlichen Vorgaben nachgekommen, nicht nach Gefahrenlage«. Man dürfe jetzt auch nicht nur auf Shell blicken. Vielmehr müsse eine »mögliche Verkettung von Gefahrenlagen« im Kölner Süden analysiert werden. »Dazu gehören auch die anderen Chemie-Firmen und der Godorfer Hafen«. Kröfges hat über den BUND immer wieder selbst Einfluss auf die Politik genommen, damit die Kontrollen verstärkt werden. Von den meisten Politikern sei er enttäuscht, sagt er.

 

Politiker setzten auf Gespräche mit dem Konzern

 

Was denkt zum Beispiel der Direktkandidat für den Bundestag über die Shell-Pannenserie in seinem Wahlkreis? Auf die Antworten des CDU-Abgeordneten Heribert Hirte wartet man trotz mehrfacher Nachfrage vergeblich. Hirte empfahl sich bei den Wählern im Kölner Süden, indem er einen Ausbaustopp am Godorfer Hafen forderte und sich als Naturschützer gerierte — ausgerechnet er hat keine Meinung zu den Zuständen bei Shell? Hirte sagt, er wolle ein Treffen mit den Vertretern der Raffinerie vor Ort abwarten. Das soll Engagement und Aktivität signalisieren — und doch fragt man sich, warum die Politiker solchen Terminen, die in erster Linie der Außendarstellung des Shell-Konzerns dienen, eine derartige Bedeutung beimessen. Welches Mehr an Erkenntnissen soll der persönliche Augenschein und das Plaudern mit der Konzernleitung liefern, als das, was Sachverständige und Experten in ihren Berichten festhalten? Hirtes Parteikollege Karsten Möring hat seinen Shell-Besuch schon absolviert. Deshalb könne er ausführlich antworten, sagt er. Der Bundestagsabgeordnete sei bestens darüber im Bilde, wie Shell die Kerosinverseuchung sanieren will und begrüße das Vorgehen. Anders als CDU-Kollege Hirte fühlt er sich in der Lage, die bisherige Informationspolitik von Shell gegenüber der Öffentlichkeit zu kritisieren. Und ansonsten? Möring sagt, er sei bei seinem Shell-Besuch »auf durchaus selbstkritische Einstellungen bei der Betriebsleitung« getroffen. Politiker von Grünen und SPD werden zumindest ein wenig deutlicher in ihren Aussagen — obwohl sie parteipolitische Rücksicht nehmen müssen: Die Bezirksregierung wird von der SPD-Frau Gisela Walsken geleitet und NRW-Umweltminister Johannes Remmel ist Grüner.

 

»Rohrfernleitungsrecht muss geändert werden«

 

Hans Christian Markert ist der umweltpolitische Sprecher der Grünen im Landtag. Zudem sitzt er einer Enquete-Kommission zur »Zukunft der Chemie-Industrie in NRW« vor und propagiert einen »nachhaltigen Umbau der Chemieindustrie«. Er ist kein Industrie-Gegner. Doch von Shell scheint er genervt, er drängt auf gesetzliche Regelungen: »Das Rohrfernleitungsrecht muss dringend geändert werden.« Zudem habe die Bezirksregierung derzeit keinen Rechtsanspruch, um Einblick in die Ergebnisse der internen Sachverständigenprüfungen und anderer Unterlagen zu Rohrfernleitungen zu nehmen.

 

Martin Börschel, Fraktionschef der SPD im Rat der Stadt und Mitglied des Landtags, fordert unter anderem, von Shell die Information »im Störungsfall den Erwartungen der Bevölkerung anzupassen und durch schnellstmögliche und umfassende, aber insbesondere vorbehaltlose Information verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen.« Dazu zähle auch, die neuen Medien einzubeziehen. Bislang ist die Rheinland-Raffinerie weder auf Twitter noch auf Facebook präsent.

 

Die Krisenkommunikation von Shell steht allenthalben  in der Kritik. Sabine Müller sitzt für die Grünen in der Bezirksvertretung Rodenkirchen, zu diesem Stadt­bezirk gehört auch Godorf. Bis vor kurzem war Müller Vorsitzende des Umweltausschusses der Stadt Köln. »Wir haben Shell nach der Explosion im Januar gar nicht erst in den Umweltausschuss gebeten«, sagt sie. »Mehr als in der Presse steht, wäre von Shell ohnehin nicht zu erfahren gewesen.« Und Jan Rolff von der IG Hahnwald sagt, ihn ärgere, dass Shell überhaupt nicht klarmache, zu welchen Maßnahmen der Konzern verpflichtet sei und was wirklich freiwillig geschehe.

 

Der Chemie-Gürtel interessiert in der Innenstadt niemanden

 

So schreibt Shell auf seiner Homepage über die  im März verfügte externe Kontrolle sämtlicher Rohrleitungen: »Die Rheinland Raffinerie hat ein umfassendes Maßnahmenpaket aufgelegt. Erst an anderer Stelle erfährt man, dass Umweltministerium und Bezirksregierung Köln »den Anstoß für die Untersuchung« gegeben haben — und erst dann rückt der Konzern mit der Sprache raus, dass es sich um eine Ordnungsverfügung gehandelt hat. Diese Rhetorik, mit der die tatsächlichen Sachverhalte verschleiert werden, nervt viele der Nachbarn mittlerweile ganz gehörig. Trotz alledem gibt es kaum nennenswerte Proteste gegen die Zustände bei Shell. Niemand steht hier mit Transparenten vor den Werkstoren oder organisierte zumindest eine Online-Petition. Im Süden wird der Protest von Hausbesitzern und konservativen Senioren getragen. Viele berufliche Laufbahnen führen durch den südlichen Chemiegürtel. In Wesseling ist die Identifikation mit Shell enorm, darin ist der Ort strukturell Leverkusen ähnlich. Studenten und junge Kreativwirtschaftler, sonst das Milieu vieler links-alternativer Proteste, gibt es hier kaum. Und in der Innenstadt interessiert kaum jemanden der Süden Kölns. Als stadtweit über einen Ausbau des Godorfer Hafens abgestimmt wurde, waren die umweltpolitischen Aspekte in den einschlägigen Milieus von Ehrenfeld oder Kalk kaum Gesprächsthema.

 

»Es muss mehr passieren, damit in Zukunft nichts mehr passiert«, sagt Jan Rolff von der IG Hahnwald. »Die Rheinland-Raffinerie sollte das Ziel haben, das sicherste Werk Deutschlands zu werden.« Aber solch ehrgeizigen Ziele habe er auf den Treffen mit den Shell-Vertretern bislang nie gehört. Sabine Müller hofft dagegen weiter auf Einsicht bei Shell. Sie berichtet von der Connect-Pipeline, die die Werke Wesseling und Godorf verbindet und dabei zweimal den Rhein unterquert. Nachdem es Widerstand gegen die ursprünglichen Planungen von Shell gab, öffnete sich der Konzern damals gegenüber den Bedenken und plante um. Innerhalb der gesetzlichen Frist gab es dann keine Einwendungen gegen die Pläne. Im Juli 2011 begann der Bau, im Juli 2013 wurde die Leitung in Betrieb genommen. »Die Einwände der Bürger wurden im Vorfeld ernstgenommen, so dass das Projekt schließlich auf breite Akzeptanz gestoßen ist.« Noch ist nicht zu erkennen, dass Shell auf diese Akzeptanz noch besonderen Wert legt.