Zu Füßen

Heim & Welt

Wenn Sie, liebe Leserin, lieber Leser, so wie ich in den vergangenen Wochen von Tobse Bongartz dazu genötigt wurden, in Gruppen Fußballübertragungen aus Brasilien anzuschauen, werden Sie erkannt haben, wie kritisch, bisweilen zügellos und immer lautstark das kommentiert wird, was Fußballspieler mit ihren Füßen anstellen (»Mach das Ding doch rein, Du Nulpe«). — Das war ein sehr langer erster Satz, aber er muss gesagt werden. Dann erkennt man nämlich, dass Fußball vor allem wegen dieser vermeintlichen Fan- und tatsächlichen Rudelkultur auf eine unangenehme Weise vulgär ist. Jenen Schreihälsen, die sich als Experten für Poldi und Podiatrie sehen, möchte ich nun, wo sie allmählich wieder zur Besinnung kommen, einen Rat geben: Zürnt nicht immer bloß darüber, was Fußballer mit ihren Füßen falsch machen! Weitet euren Blick und achtet darauf, was all die anderen mit ihren Füßen falsch machen! Dann aber schaut man in den Höllenschlund verkorkster Lebensentwürfe: die verkrampfte Lässigkeit, mit der Menschen ihre Beine auf Schreibtische legen; das kokette öffentliche Lackieren von Zehennägeln; das Tragen von Füßlingen — man möchte Schlachtgesänge dagegen anstimmen, die so rüpelhaft sind, wie sie sonst nur Bayern, Hoffenheim und Lautern zu hören bekommen.

 

Ich möchte an dieser Stelle gar nicht erst auf Schuhwerk schimpfen, welches aus medizinischer Sicht verboten gehört. Sollen doch auch die Leute, die ihre Pubertät längst absolviert haben, weiter in Gummiturnschuhen durch die Gegend latschen, weil sie nicht in Würde zu altern verstehen. Nein, ich muss hier auf einen Trend hinweisen, der orthopädisch vielleicht sogar geboten erscheint, ästhetisch aber heikel ist: Immer mehr Menschen entledigen sich ihrer Schuhe und Socken, nicht wenn sie zu Bett gehen, sondern wenn sie unter Leute gehen.

 

Wo ist der Spott, den diejenigen verdienten, die auf Gesine Stabroths »Einfach mal wieder tanzen«-Party barfuß durch die Zimmer hopsen? Warum tuschelt nicht mal jemand, wenn Gesine Stabroths »beste Freundin Tine« dabei mit theatralischer Geste ihre Schuhe in die Ecke pfeffert und mit Händen überm Kopf herumhopst? Draußen ist es nicht anders: Immer mehr Fahrgäste in Bussen und Bahnen legen ihre Käsemauken unbestrumpft auf die Sitze — als wenn ihre Spreiz-, Platt- und Senkfüße dort mehr Recht hätten, zu lagern als das feste Schuhwerk der anderen. Es wird immer irrer: Neulich saß mir jemand gegenüber, der hatte eine Zeitung untergelegt. Ach, hätte er sie doch über die Füße gelegt!

 

Auf traditionelle Kleidungsstücke zu verzichten, gilt vielen als befreiend. Wir haben uns zu sehr daran gewöhnt, dies nicht als Exhibitionismus zu deuten, sondern als stolze Selbstermächtigung gegen eine als rigide empfundene Kleiderordnung oder Protest gegen unnötige arbeitsschutzrechtliche Bestimmungen. Schließlich haben wir uns ebenso an den halbnackten Bauarbeiter gewöhnt wie an den halbnackten Rockmusiker. Vor Dienstbeginn entledigen sich immer mehr Angehörige dieser Berufsgruppen ihrer Oberbekleidung, um die Versunkenheit in ihr Werk zum Ausdruck zu bringen — sei es nun, dass sie einen Kreisverkehr bauen oder aber »neues Song-material live performen« . Bald werden auch in den Philharmo-nien Pianisten mit blankem Bauch Bach klimpern, bald die ersten Bankangestellten ihre Finanzierungsvorschläge oben ohne un-terbreiten. 

 

Die Oberbekleidungsverachtung, die Sockenverachtung — was kommt als nächstes? Sie ahnen, worauf ich hinaus will. Nur Tölpel meinen, Mode hätte etwas mit Kleidung zu tun. Bald werden alle nackt herumlaufen, bloß bekleidet mit einem lächerlichen Retro-Hütchen von Opa. So wie ihn -Gesine Stabroths »beste Freundin Tine« trägt.