Aioli auf der Galeere

Ein Highlight der diesjährigen Popkomm: Musik aus Südfrankreich zwischen wütend und entspannt

Marseille ist schön. Wer einmal über die äußeren Hügel der südfranzösischen Metropole via Stadtautobahn Richtung Zentrum gefahren ist und von dort einen ersten Blick über die Straßen entlang des alten Hafens hinauf zu Notre Dame de la Garde geworfen hat, wird diesen Moment nicht so schnell vergessen. Aber so reizvoll, vielfältig und einzigartig die Stadt auch ist, so problematisch ist die Realität, und so mies auch ihr Ruf. Bis weit in die 70er Jahre galt Marseille vor allem als Mafia- und Korruptions-Zentrum. Als nach dem großen Wirtschaftsboom die Arbeitslosenzahlen stiegen und Jean-Marie Le Pen mit seiner rechtsextremen Front National hier 1988 seinen ersten großen Wahlerfolg hatte, kam zu dem ohnehin schon schlechten Image auch noch eine braune Note hinzu.

Sie lassen sich IHRE Stadt nicht nehmen ...

»Ich bin eine Marseillaise. Für mich ist sie die schönste Stadt der Welt. Es gibt keine zwei davon auf der Welt«, erklärt eine junge Frau trotzig in hartem Südfranzösisch im Intro von »3968 CR13«, dem vor drei Jahren erschienenen Albums des Massilia Sound System. Eine Gruppe, die in den 80er Jahren als Dancehall-Trio anfing und heute als Großkollektiv das Zentrum des Fan- und Freundeskreises »Chourmo« bildet. Die Band und ihre Posse repräsentieren den Teil der Stadt, der sich der Tradition als Einwandererstadt bewusst ist und die Liebe zur Stadt, zum Fußballclub Olympic Marseille und zur Aioli nicht den Rechten überlassen will.

Wir sitzen alle im gleichen Sklavenboot

Chourmo bedeutet Galeeren-Sklaven. Ein perfektes Bild für das Selbstverständnis dieser Marseiller. Das Leben ist hart, aber alle rudern im gleichen Boot, egal welcher Herkunft und Abstammung sie sind. Natürlich versteht man sich explizit als antirassistisch. Ihre Konzerte verwandeln Massilia Sound System zu aufgeheizten Agit-Prop-Partys, bei denen nicht nur die festen fünf Mitglieder der Band auftreten, sondern auch die Musiker und DJs des erweiterten Chourmo-Clans zum Zuge kommen. Lux Botté, Sänger und Frontmann des Reggae-Kollektivs: »Jedes Konzert hat eine besondere Note. Jeder von uns ist anders drauf, und vor den Konzerten passieren natürlich auch Dinge, die uns beeinflussen. Wenn wir dann auf der Bühne stehen und wenn alle Zutaten so zusammenpassen, dass die Soße gelingt, ist es jedes Mal etwas anderes, ein unvergessliches Experiment.«

... und sie sinnen auf Umsturz!

Dass sie bei diesem Rezept oft das richtige Händchen haben, davon kann man sich bei einem Spaziergang durch Marseille überzeugen. Denn genau so stolz, wie die Band auf ihre Stadt, sind viele ihre Bewohner mittlerweile auch auf die Musiker. Wenn ein neues Album erscheint, türmen sich die CD-Stapel in den Geschäften wie anderswo Harry-Potter-Romane. Musik und Texte sind dann für Tage Stadtgespräch. Allerdings dürften vor allem Zugezogene ihre Schwierigkeiten haben, den Sinn ihrer Songs zu verstehen, weil sie neben französisch auch auf okzitanisch reimen.
Die Wiederbelebung der alten Sprache des südlichen Frankreichs kommt dabei eine ähnliche Funktion zu wie dem Patois im jamaikanischen Dancehall. Es ist identitätsstiftend und bewusste Abgrenzung gegen politische Fremdbestimmung. In diesem Fall eine Absage an die ungeliebte Hauptstadt Paris. Zu diesem Selbstverständnis passt auch die musikalische Unabhängigkeit des Massilia Sound System. Anders als beim derzeitigen Reggae-Boom hierzulande versuchen sie erst gar nicht die jamaikanischen Gepflogenheiten zu kopieren. Sie fliegen nicht in die Karibik um dort Dubplates mit jamaikanischen Gaststars aufzunehmen. Auch Rasta-Botschaften sucht man vergebens. Dafür fließen in ihren von Dancehall, Roots und HipHop geprägten Sound auch chansonesque, arabische und afrikanische Elemente ein. Es ist der Mix, den ihre mediterrane Heimatstadt zu bieten hat und den es so auch nur hier gibt.

Noch mehr Sklaven: die Fabulous Troubadors aus Toulouse

Einiges verbindet Massilia Sound System mit den Toulousern Fabulous Troubadors. Eine Beziehung, die im Jahr 1992 anfing, als Massilia Sound System auf ihrem Label »Roker Promotion« das Debüt des Duos »Eras pas de faire« herausbrachten. Auch sie sind überzeugte Anti-Zentralisten, benutzen für ihre agitatorischen Texte auch die okzitanische Sprache und verwenden neben südamerikanischen Rhythmen ebenfalls Reggae-Elemente. Doch im Gegensatz zu ihren Marseiller Gesinnungsgenossen hat die Tradition des mittelalterlichen Folk, die Musik der Troubadoure einen starken Einfluss.
Claude Sicre und sein Duo-Partner Jean Marc Albert alias Ange B. werfen sich im Wechsel zu mindestens genauso fabulösen Background-Frauen-Chören schnelle Reime an den Kopf. Ihre Songs sind äußerst trocken und minimalistisch arrangiert. Meist reicht ein Tambourin, die arabische Basslaute Gumbri und Ange B. als Human Beatbox. Diesen unverwechselbaren Stil halten sie auch auf ihrem neuem Album »Duels des tchatche« durch, obwohl sie ihr Soundspektrum diesmal durch eine sechsköpfige Band erweitern, die sie auch auf ihrem Deutschlandausflug begleiten wird. Im Zentrum stehen aber auch nach fünf Jahren Aufnahmepause weiterhin rasante Sprechgesang-Duelle und akustische Instrumente.
Claude Sicre bringt es auf den Punkt: »Wir benutzen Rhymes, aber wir sind keine Rapper. Wir spielen Musik aus Brasilien, aber wir machen keine Weltmusik. Wir singen auf Französisch, aber machen keine Chansons. Wir sind komplette Außenseiter.«
In diesem Sinne sind die Fabulous Trobadours und das Massilia Sound System vor allem eines: eine moderne, und dabei authentische Folk-Band.

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