Die Blitzlichtbegleiter

Fotos sollen Kunstwerke sein. Doch 175 Jahre nach Erfindung der Foto­grafie sind nicht alle Fotografen froh darüber, weiß Daniel Kothenschulte

Die Mutter war eine Bildhauerin, die nie ausstellte. Der Vater ernährte die Familie als Maler von Filmplakaten. Und der Sohn? »Nichts lag mir ferner, als auch noch Künstler zu werden«, sagt Joel Sternfeld. »Ich begann zu fotografieren, weil mir jedes Talent zur Kunstausübung fehlte.«

 

Wer die Widersprüche im musealen Umgang mit Fotografie erfahren möchte, muss sich mit dem New ­Yorker Joel Sternfeld unterhalten, der zu den bekanntesten amerikanischen Fotokünstlern gehört. Anderthalb Jahrhunderte lang galten Fotografien lediglich als technisch-kunsthandwerkliche Artefakte, bis sie Ende des 20. Jahrhunderts in die Museen kamen. Das Berufsbild des Fotokünstlers war entstanden, doch Sternfeld, der mit seinem Fotobuch »American Prospects« 1987 zum Star der Kunstwelt wurde, bleibt dabei, sich Fotograf und nicht Artist zu nennen. »Ich will keine Retrospektive«, sagte er 2011 den Eröffnungsgästen einer ihm gewid­meten Schau im Essener Folkwang-Museum. Fotografen, so Sternfeld, dränge es nach vorn und nie zum Stillstand. Sternfelds »American Prospects« durfte nicht fehlen, als am 19. August in Köln das erste »PhotoBookMuseum« eröffnete. Der Buchhändler und Verleger Markus Schaden hatte einen Großteil des Startkapitals über Crowdfunding sammeln können. Bis zur Möglichkeit der Eingemeindung in die Kunstwelt war das Fotobuch für viele Fotokünstler vielleicht der einzige autonome Wirkungsraum abseits des Journalismus.

 

175 Jahre nach ihrer Erfindung geht es der Fotografie wie dem lieben Gott: dauernd zitiert, aber kaum jemand glaubt noch daran. Vielleicht sind es nur noch ein paar Pressefotografen, die eine Wahrhaftigkeit des Kamera­bildes hochhalten — Shawn Baldwin zum Beispiel. Am 11. März 2006 brachte es sein Porträt eines Irakers auf die Titelseite der New York Times, die diesen als weltbekanntes Folter-Opfer von Abu Ghraib identifizierte. Wenige Tage später korrigierte sich das renommierte Blatt: Der Abgebildete war nicht mit jenem verkabelten Kapuzenträger auf einer Holzkiste identisch, dessen Bild — ge-­schossen von einem seiner Folterknechte — im Mai 2004 um die Welt gegangen war und das er auf Baldwins Foto in der Hand hält. Baldwin, der ihm seine Geschichte geglaubt hatte, hält sein Bild inzwischen für wertlos, ja für »falsch«, wie er gegenüber dem Doku­mentarfilmer Errol Morris in dessen lesenswertem Fotobuch »Believing is Seeing — Observations on the Mysteries of Photography« sagt.

 

Dabei wird das Bild umso interessanter, desto weiter man in seine Geschichte eintaucht. Denn eine Fälschung ist es ebensowenig wie man den Porträtierten der Lüge bezichtigen kann. Er hatte offenbar im Gefängnis Abu Ghraib das gleiche Schicksal erlitten und war vielleicht sogar ebenfalls fotografiert worden, als man auch ihm eine schwarze Kapuze übergezogen hatte. Bloß war er eben nicht mit dem Mann aus dem ikonischen Foto des US-Sergeants Ivan Frederick identisch. Wertlos ist dieses Bild des unbekannten Folteropfers daher lediglich in der Währung eines an Prominenz orientierten Journalismus. Herausgelöst aus diesem Wertesystem könnte das Bildnis des inzwischen als Ali Shalal Qaissi identifizierten Folter-Opfers durchaus in die Geschichte der Fotografie eingehen: Höflich lächelnd, aber mit gesenktem Blick bittet ein namenloses Opfer eines fragwürdigen Krieges um Aufmerksamkeit.

 

Eine kleine ästhetische Unvollkommenheit, die Schräge der Kameraposition, hätte die New York Times unschwer korrigieren können. Doch diese Unebenheit steigert offensichtlich die Eindringlichkeit und fügt sich zu jenem Überschuss an Information, der für Walter ­Benjamin erst das »Fotografische« ausmachte. Nach ­Benjamins einflussreichem Aufsatz »Kleine Geschichte der Photographie« von 1931 führt erst das Dechiffrieren fotografischer Dokumente zu einer neuen »Wahrnehmung der Wirklichkeit in ihrer fotografischen Abbildbarkeit«.

 

Auch 175 Jahre nach ihrer Erfindung hat sich am Dilemma der Fotografie nichts geändert: Was man im Bruchteil einer Sekunde herstellen kann, lässt sich kaum ebenso schnell »dechiffrieren«, wobei eine vollständige Entschlüsselung von Bildwerken natürlich weder möglich noch erstrebenswert wäre. Gleichwohl wollten jene kulturellen Institutionen, die sich für das Dechiffrieren von Bildern zuständig fühlen, mit der Fotografie lange nichts zu tun haben: In den Kunstmuseen ist die Foto­grafie erst seit gut zwanzig Jahren angekommen — vorausgesetzt, dass sie sich auch als Kunst verstehen lässt. Als Fotokunst.

 

Die angewandte Fotografie, die den größten Teil der Fotogeschichte ausmacht, fällt in den meisten Fällen nicht darunter. Nur wenige spezialisierte Fotomuseen und Ausstellungsräume zeigen in Deutschland Fotografie als Fotografie — darunter das ehemalige Agfa-Fotohistorama im Kölner Museum Ludwig und das Forum für Fotografie an der Schönhauser Straße. Darüber hinaus aber verschwinden die Wirkungs- und Deutungsräume, in denen professionelle Fotografie als eigenständiges Medium lange gelesen wurde. Nur noch wenige Zeitschrif­ten drucken Bildstrecken. Sogenannte Bildergalerien im Internet, wie sie Nachrichtenartikeln angeschlossen sind, füllen die Lücke kaum: Sie erlauben ebensowenig das Fla­nieren innerhalb der Bilder wie den vergleichenden Blick. Was also wird aus jener Fotografie, die keine Kunst sein will?  

 

Klassische Fotogalerien gibt es kaum noch, Ausstellungsforen wie sie in den 50er Jahren nach dem Vorbild von Wanderausstellungen wie Edward Steichens »The Family of Men« oder den Kölner »Photokina Bilderschauen« blühten, sind ausgestorben.  

 

In der Flut der Übersichtsschauen zum 175. Geburtstag der Fotografie machen zwei Ausstellungen im Museum Ludwig diesen Wandel besonders anschaulich. In »Das Museum der Fotografie — Eine Revision« präsentiert die Fotokuratorin Miriam Halwani die Sammlung Erich Stenger. Zwar ist die Sammlung des 1958 verstor­benen Chemikers und Foto-Lobbyisten schon lange bekannt, doch so hemmungslos und lustvoll wurde seine geradezu kunstfeindliche Auffassung des Mediums noch nie durchexerziert. Einem strengen Gattungsdenken verpflichtet, hängte Stenger Landschaft an Landschaft, Tier an Tier — und stellte Meisterwerke von Stieglitz oder ­Steichen neben Postkarten-Idyllen oder Völkisch-Fol­kloristisches der in der NS-Zeit gefeierten Fotografin Erna Lendvai-Diercksen. Es geht um Ordnung, nicht um Autorenschaft. Konsequent trennte der Archivar die Fotografen-Etiketten von seinen Daguerreotypien — und klebte sie, nach Größe sortiert, auf Fotokarton — spätere Zuordnung ausgeschlossen.

 

Zeitgleich widmet sich eine großflächiger gehängte Schau im Kölner Museum einer Schnittstelle zwischen angewandter und künstlerischer Fotografie — jener spannenden Phase der Fotogeschichte, in der sich Ende der 70er Jahre dokumentarische Bildserien als Konzeptkunst stilisierten. »Unbeugsam und ungebändigt« spannt den Bogen von Robert Adams, David Goldblatt, Boris Mikhailov oder Gabriele und Helmut Nothhelfer zu den ersten Porträt-Serien von Thomas Ruff. Man wünscht sich dabei jene Zeit zurück, als nicht erst der Aufwand teurer Plexiglas-Veredlung die Fotografie dem Kunstvolk schmackhaft machte.

 

Nicht zufällig fiel die Eroberung der Kunstmuseen mit der breiten Debatte über die Manipulierbarkeit von Fotos zusammen. Professionelle Bildbearbeitung, früher Domäne spezialisierter Laboranten und Retuscheure, machen die Arbeiten eines Andreas Gursky zu engen ­Verwandten der Malerei. Es war die Emanzipation von der bildenden Kunst, die der modernen Fotografie im 20. Jahrhundert den Aufschwung bescherte und sie den malerischen Piktoralismus überwinden ließ. Wer hätte damals gedacht, dass der Weg fort von der »Kunstfoto­grafie« der Salons einmal zur »Fotokunst« der Museen führen würde?

 

Noch immer sieht man professionelle Fotografen bei öffentlichen Veranstaltungen, vielleicht sogar häufiger als in den Glanztagen der Fotografie. Zu sehen sind ihre Bilder aber meist nicht mehr. »Wir sind nur noch Blitzlichtbegleiter«, erklärt ein Fotograf, der nicht genannt werden möchte. Im Auftrag der Veranstalter stellt er seine Fotos online. Heruntergeladen werden sie nie. Engagiert wird er allein für das Blitzlichtgewitter.