Auszählfehler unterlaufen bei jeder Wahl — aber nie nur zu Lasten einer Partei: Paket mit den Briefwahlzetteln | Foto: Manfred Wegener

Völlig verzettelt

Gab es Fehler bei der Auszählung der Kommunalwahl? Ob es bei der knappen rot-grünen Mehrheit im Rat der Stadt bleibt, wird nun vor Gericht entschieden

»Jede Stimme zählt!« — wenn Politiker so was sagen, dann tut man es ab als Floskel, die aus der Verzweiflung geboren ist. Für SPD und Grüne ist es nach der Kommunalwahl vom Mai aber Alltag geworden. Lediglich mit der Stimme von Oberbürgermeister Jürgen Roters (SPD) können die beiden Fraktionen im Rat der Stadt weiterhin Politik machen. Das ist schon deswegen heikel, weil bereits im September 2015 ein neuer Oberbürgermeister gewählt werden wird. Gelänge es der CDU, die OB-Wahl zu gewinnen, wäre die rot-grüne Mehrheit dahin. Ganz unwahrscheinlich ist das nicht. Zum einen, weil die Grünen einen eigenen Kandidaten aufstellen werden, der einem SPD-Kandidaten Wähler abluchsen könnte. Zum anderen, weil Jürgen Roters nicht mehr als OB zur Verfügung steht, die SPD einen neuen Kan­didaten sucht und daher nicht aus dem Amt heraus Wahlkampf führen kann.  

 

So steht Rot-Grün unter dem Druck, wichtige Entscheidungen zu treffen, während gleichzeitig der OB-Wahlkampf vorbereitet werden muss. Und ausgerechnet jetzt, wo SPD und Grüne gerade noch dabei sind, einen neuen Koalitions­vertrag auszuhandeln, ist eine Debatte darum entbrannt, ob die bestehende rot-grüne Ratsmehrheit überhaupt recht­mäßig sei. Wie das? CDU und FDP haben entdeckt, dass es in einem Rodenkirchener Briefwahlbezirk ein kurioses Resultat gegeben hat: Mitten in der CDU-Hochburg setzte sich die SPD-Kandidatin Elke Bußmann in einem einzigen Stimmbezirk gegen Alexandra Gräfin von Wengersky (CDU) durch, obwohl diese sämtliche anderen Stimmbezirke im Wahlkreis für sich entscheiden konnte. Und das, obwohl bei der zeitgleich abgehaltenen Wahl zur Bezirksvertretung und dem Europaparlament selbst in diesem Briefwahlbezirk die CDU vorne lag.

 

CDU und FDP unterstellen nun, die Wahlhelfer hätten im Protokoll die Stimmen vertauscht — und fordern eine neue Auszählung. Denn wenn die CDU-Kandidatin in diesem Stimmbezirk gewonnen hätte, hätte die CDU im Stadtrat ein Mandat mehr erhalten. Rot-Grün besäße dann selbst mit der Stimme des OB keine Mehrheit mehr. Zudem wäre der einflussreiche Parteichef der SPD, Jochen Ott, der nur über die Reserveliste nachrückte, nicht mehr im Rat vertreten. Entsprechend wortkarg reagierten zunächst SPD und Grüne auf die Nachricht. Und entsprechend hartnäckig zeigt sich jetzt die CDU.

 

Für die Kölner Christdemokraten ist die Entdeckung ein Glücksfall. Endlich haben sie ein Thema gefunden, das — mit Hilfe der lokalen Tagespresse — verfängt. Bislang gab es nur Flops und Peinlichkeiten bei der CDU zu vermelden: Ihr umstrittenes Bürgerbegehren gegen ein Haus der Jüdischen Kultur scheiterte daran, dass die Eingabefrist um mehr als ein Jahr verpasst wurde; einer ihrer Hoffnungsträger, Henk van Benthem, hat sich von den Rechtsextremen und Rechtspopulisten im Porzer Rathaus zum Bezirksbürgermeister wählen lassen; ansonsten geriert sich die Partei trotzig als Lobby der Autofahrer und ignoriert den Wunsch von immer mehr Kölnern, die Lebensqualität in der Stadt zu verbessern ebenso wie die aktuellen stadtplanerischen Überlegungen in der Fachwelt.

 

Nun lancierte die CDU mit medialer Unterstützung des Kölner Stadt-Anzeigers eine Kampagne, die an den gesunden Menschenverstand appelliert — und sich dabei über juristische Grundsätze hinwegsetzt, die freilich der Intuition zuwiderlaufen. Zu Recht gibt es jedoch hohe Hürden, um ein Wahlergebnis anzufechten. Ansonsten könnte bei jedem unerwarteten Ergebnis die unterlegene Partei eine Neuauszählung beantragen. Das zu vermitteln ist allerdings schwierig — wer würde im Zweifel nicht darauf wetten, dass in Rodenkirchen tatsächlich etwas schiefgelaufen ist? Nur ein Beleg ist das nicht.

 

Juristisch gibt es keine Möglichkeit, das Wahlergebnis in Rodenkirchen zu beanstanden, bloß weil es ungewöhnlich erscheint. »Ansonsten bestünde auch die Gefahr der Willkür«,sagt Grünen-Fraktionsgeschäftsführer Jörg Frank. »Schließlichsoll unsere Demokratie nicht ost­europäisch abgleiten.« Um eine Neuauszählung durchzusetzen, braucht es sogenannte substantiierte Gründe. Etwa, indem Hinweise auf Wahlfälschung gegeben sind — statistische Auffälligkeiten allein reichen nicht aus. Aus gutem Grund. Denn diese Auffälligkeiten gibt es bei jeder Wahl.

 

Zudem konnten die Grünen durch ein statistisches Gutachten, das sie in Auftrag gegeben haben, nachweisen, dass durch eine punktuelle Neuauszählung das Gesamtergebnis sogar weiter verfälscht würde. Denn wenn man Fehler beim Auszählen als zufällig betrachtet — und das muss man, wenn man keine gesteuerte Manipulation unterstellt — dann gehorchen sie den statistischen Gesetzen einer Zufallsverteilung. Das bedeutet, dass Auszählfehler bei jeder Wahl unterlaufen, aber aus statistischen Gründen nie nur zu Lasten einer Partei. Die Fehler gleichen sich aus. Diese mathematischen Gesetze sind freilich dem common sense kaum zu vermitteln. Allerdings konnten die Grünen zeigen, dass es ebenso kuriose, vom Trend abweichende Ergebnisse in anderen Stimmbezirken gab, dort aber zu Lasten der SPD.

 

Die Linke im Rat lehnt nach wie vor jede Neuauszählung ab, obwohl es ihr nützen könnte, wenn Rot-Grün keine Mehrheit mehr hätte. »Der Kölner Stadtrat darf sich im Rahmen der Gewaltenteilung nicht über das Wahlrecht und seine Organe erheben«, so Fraktionschef Jörg Detjen und Güldane Tokyürek, die für die Linke im Wahlprüfungsausschuss sitzt. Sie sehen in einer unbegründeten neuen Auszählung »einen Eingriff in die hoheitlichen Aufgaben und die ehrenamtliche Arbeit des Wahlvorstandes.«

 

Nach allen bisherigen Prüfungen und allen Gutachten bestätigt sich diese Auffassung: Es gibt keine juristische Entscheidung, ab wann statistische Ausreißer Anlass für eine Überprüfung geben würden und die Arbeit der Wahlvorstände in Zweifel ziehen könnten. Zumal die Niederschriften der ehrenamtlichen Wahlvorstände keine Unregelmäßigkeiten zeigten, wie Stadtdirektor Guido Kahlen mitteilte. Nach der Rechtssprechung, so Kahlen in einer Stellungnahme gegenüber dem Wahlprüfungsausschuss, führten »statistische Daten daher nur zu Vermutungen, nicht aber zu einem Tatsachenvortrag, der einen Wahlfehler hinreichend substantiiert darzulegen vermag.« Eben das bestätigt auch das NRW-Innenministerium.

 

Dennoch wollen SPD und Grüne, jetzt, wo die Debatte einmal entfacht ist, eine Klärung. Die Grünen plädierten daher dafür, die gesamte Kommunalwahl in Köln, also alle 1024 Stimmbezirke, neu auszählen zu lassen. Das ist aber vermutlich juristisch ebenso wenig zu rechtfertigen wie eine punktuelle Neuauszählung. Und so steht Rot-Grün nun weiterhin im Verdacht, politische Beschlüsse zu fassen, die nicht durch den tatsächlichen Wählerwillen legitimiert sind.

 

Martin Börschel, SPD-Fraktionschef und selbst Jurist, hat unterdessen vorgeschlagen, dass Rot-Grün bis zu einer abschließenden rechtlichen Bewertung auf ihre eine Stimme Mehrheit verzichten soll. Der Vorschlag sei so mit den Grünen bereits abgesprochen, versichert deren Fraktionsgeschäftsführer Jörg Frank. Es bedeute letztlich, so Frank, dass Rot-Grün bis auf Weiteres als »Kernbündnis« im Rat der Stadt regiere und sich wechselnde Partner für Beschlüsse suchen werde. Das hatte es 2006 bereits gegeben. Auf kommunaler Ebene ist eine solche Minderheitsregierung nichts Ungewöhnliches.

 

Die CDU bemängelt selbstverständlich auch diesen Vorschlag. Schließlich habe der Rat der Stadt in seinen konstituierenden Sitzungen bereits abgestimmt — etwa über die Besetzung der Ausschüsse und der Aufsichtsräte in Unternehmen mit städtischer Beteiligung. Jörg Frank spielt diesen Einwand herunter und rechnet vor, dass auch bei einem Mandat mehr für die CDU sich hier keine wesentlichen Veränderungen ergäben.

 

Nun will die CDU vor Gericht für eine Neuauszählung in Rodenkirchen streiten, auch wenn dies ausweglos erscheint. Die CDU hat offenbar ihr Thema gefunden.