»Die Zahlen kennen keine Moral«

Der erste abendfüllende Dokumentarfilm des Kölner TV-Journalisten Peter Scharf kommt diesen Monat in die Kinos. »Was bin ich wert?« zeigt, wo überall die Würde und das Leben des Menschen in Geld aufgewogen werden

Herr Scharf, Ihre Frage, wie viel Geld ein Mensch wert ist, erscheint wohl jedem zynisch...

 

Ja, es ist eine Frage, von der man denkt, dass man sie nicht beantworten kann oder dass sie nicht beantwortet werden sollte. Aber wenn man wie ich losgeht und sich in die verschiedenen ökonomischen Systeme hineinbegibt, stellt man fest, dass die Frage durchaus beantwortet wird. Arbeitgeber lassen den Wert ihrer Belegschaft ermitteln, Versicherungen rechnen aus, wieviel ein Menschenleben kostet, Juristen berechnenden Wert eines Menschen, etwa wenn es um Schmerzensgeld oder Entschädigungen geht.

 

Sie lassen sich unter anderem die »Saarbrücker Formel« erläutern, anhand der sogenanntes Humankapital von Unternehmen ausgerechnet wird.

 

Viele, die diese Berechnungen vornehmen, fühlen sich moralisch in die Ecke gestellt. Sie rechtfertigen sich und sagen, dass sie ja nicht den Menschen als Menschen berechnen, sondern nur den Durchschnittswert einer Belegschaft. Allerdings: Man muss sich fragen, warum die Chefetage eines Konzerns überhaupt wissen will, wieviel eine Abteilung wert ist. Und welche Konsequenzen sie dann daraus zieht. 

 


Ihr Film zeigt aber auch, wie Menschen sich selbst zu Geld machen. Und Sie beginnen bei sich: Sie gehen zur kommerziellen Blutspende, zur Samenspende oder versuchen, Ihre Haare zu verkaufen, die aber nicht lang genug sind.

 

Ich fand es naheliegend, mit meinem eigenen Körper zu beginnen. Es war der Einstieg, um zu erfahren, was Verwertbarkeit und Wertverlust bedeuten. Ich brauchte zunächst überhaupt mal ein Gefühl dafür, wie es ist, wenn man bei einer Blutspende mit einem Konsumgutschein abgespeist wird oder die Spermaspende abgelehnt wird, weil die Qualität nicht hoch genug sei.  

 


Das ist am Anfang noch lustig oder skurril. Aber dann zeigen Sie auch, was Menschen aus finanzieller Not von sich verkaufen, um zu überleben oder ein Existenzminimum zu sichern.

 

Etwa, indem sie sich Organe entnehmen lassen. Die Menschen, mit denen ich in Moldawien spreche, können eigentlich gar kein Leben mehr führen. Nach der illegalen Nierenspende können sie nicht mehr körperlich arbeiten und haben dafür gerade mal 3000 Dollar bekommen — abzüglich der sehr teuren Tickets für den Bus zurück von der Türkei nach Moldawien. 
Ihr Film belegt, wie sehr der Wert des Menschen offensichtlich von dessen Herkunft und seinem sozialen Status abhängt. Nur ein Beispiel: Seit 2007 gibt es statt dem »Erziehungsgeld«, das für alle Eltern gleich war, das sogenannte Elterngeld. Wer sich um die frühkindliche Erziehung kümmert, bekommt für einen gewissen Zeitraum eine Transferzahlung, die vom bisherigen Nettoeinkommen aus berechnet wird. Heißt de facto: Für das Kind einer Professorin wird mehr Geld bereitgestellt als für das Kind einer Supermarktverkäuferin. In ein Kind, dessen Eltern einen höheren sozialen Status haben, wird also — überspitzt gesagt — mehr investiert.  

 


Sie haben auch mit Kenneth Feinberg über den Wert des menschlichen Lebens gesprochen.

 

Feinberg hat unter anderem das von der US-Regierung bereitgestellte Geld zur Entschädigung der Opfer der Anschläge des 11. Septembers 2001 aufgeteilt. Manche Hinterbliebenen bekamen mehrere Millionen, andere bloß 250.000 Dollar. Ich wollte das im Film nicht moralisch bewerten. Ich habe es aber dramaturgisch so aufgebaut, dass im Anschluss die Gespräche mit den Hinterbliebenen folgen. Die Schwester eines umgekommenen Feuerwehrmanns will sich gar nicht darauf einlassen, zu diskutieren, ob die Entschädigung für ihren Bruder angemessen war. Vielmehr empört es sie, dass jedes Opfer quasi durchgerechnet worden ist — nach Faktoren wie Alter, Kinderzahl, verheiratet, Einkommen und so weiter. Die Frage ist ja tatsächlich, ob durch diese Berechnungen nicht längst eine Grenze überschritten ist.

 


Feinberg behauptet, dass es gerechtfertigt sei, weil eben der Tellerwäscher in seinem zukünftigen Berufsleben viel weniger verdient haben würde als der Banker und entsprechend weniger an seine Angehörigen hätte weitergeben können.

 

Kenneth Feinberg sagt, er könne sich nur an die Fakten halten. Das Geld, das ein Mensch noch hätte verdienen können, ist für ihn die wichtigste Komponente. Aber warum errechnet sich der Wert der Opfer anhand ihres Gehalts? Warum wird etwa nicht berücksichtigt, dass der Feuerwehrmann für andere sein Leben aufs Spiel setzte, der Banker nicht? Dieses Rechnen ist wirklich ein Wahnsinn, und man kann sich dem kaum entziehen. 

 


Die meisten Zuschauer werden diese Berechnungen abschrecken...

 

Aber dieses Denken ist längst in unserer Gesellschaft verankert. Es wird etwa als normal empfunden, wenn Gesundheitspolitiker sagen, es sei nicht zu rechtfertigen, wenn die Krankenkassen jedem 75-jährigen ein neues Hüftgelenk bezahlen. Das heißt ja, ein 75-Jähriger ist weniger wert als ein 30-Jähriger — weil er wahrscheinlich keine Steuern mehr zahlt, weil er eher Kosten als Nutzen verursacht. Unsere Gesellschaft tendiert zu einer völlig ökonomisierten Denkweise.

 


Sie erfahren unter anderem auch, dass Ökonomen mit dem »Wert des statistischen Lebens« rechnen...

 

Die Volkswirtschaftler wollen damit eine Antwort auf die Frage geben, was eine Gesellschaft finanziell aufwenden sollte, um ein bestimmtes Risiko auszuschließen oder zumindest stark zu minimieren. Man kann ja den Standpunkt vertreten, dass alles nur Mögliche unternommen werden sollte, jedes Risiko auszuschließen. Praktisch geht das aber nicht. Also werden Grenzwerte ermittelt. Etwa, wenn es darum geht, durch Umweltschutzmaßnehmen die Zahl der Krebserkrankungen zu verringern. Und nun kommen Kosten-Nutzen-Rechnungen ins Spiel — ganz praktisch. Was kostet der erhöhte Schutz? Wieviele Menschen werden dadurch nicht sterben? Und: Was sind diese Menschen wert? Auf letzteres geben Ökonomen heutzutage durchaus sehr konkrete Antworten.

 


Hat sich Ihr Leben durch die Arbeit am Film eigentlich verändert?

 

Mir ist durch die Recherchen klargeworden, dass bereits an dem Punkt, an dem ich mich darauf einlasse, den Wert des menschlichen Lebens zu berechnen, schon etwas in Bewegung gesetzt wird. Zahlen kennen keine Moral — und wenn ich mit dem Rechnen anfange, überschreite ich schnell auch moralische Barrieren. Ich sehe die Dinge heute schon anders: Wenn man einen Kredit nicht bekommt oder vielleicht eine Kur benötigt, nimmt man das normalerweise so hin. Heute überlege ich, warum bekomme ich den Kredit nicht? Weil ich schon zu alt bin, um ihn noch zurückzahlen zu können? Will man in meine Gesundheit nicht mehr investieren, weil das gesellschaftlich gesehen nicht mehr lohnt? Ich höre immer wieder, dass man älteren Menschen sagt, bestimmte Operation seien für sie zu gefährlich, zu belastend. Aber was steckt in Wahrheit hinter solchen Aussagen?