S.O.S. Videos in Not

Die Medienkunstgeschichte ist zwar noch relativ jung, trotzdem nagt an ihr schon der Zahn der Zeit: Materialverfall und der rasante technische Fortschritt bedrohen die Arbeiten. Intensive Rettungsdienste leistet die Kölner Agentur 235 Media in einem Pilotprojekt. Entstehen soll ein weltweit einmaliges »MedienKunstArchiv«, dessen Heimat allerdings nicht unsere arg ramponierte Kunstmetropole sein wird, sondern Düsseldorf. Christel Wester berichtet.

Gut 40 Jahre ist es her, dass Nam June Paik und John Cage sich im legendären Atelier von Mary Bauermeister in der Lintgasse in der Kölner Altstadt die Klinke in die Hand gaben – und Paik, inspiriert von Cage, die Videokunst erfand. So könnte eine hübsche Legende beginnen über den deutschen Geburtsort der Medienkunst, die sich bis in die 80er Jahre hinein vornehmlich per Video ausdrückte. Und in dieser Story steckte dann auch tatsächlich – wie im Genre der Legende üblich – ein wahrer Kern: 1958 bezog Nam June Paik sein Atelier in Köln. Und wie John Cage die Stille in seine Kompositionen integrierte, so reduzierte Paik in seiner berühmten Arbeit »Zen for TV« das Fernsehbild auf Null. Erstmals gezeigt wurde »Zen for TV« 1963 in einer Ausstellung, die heute gemeinhin als die Geburtsstunde der Videokunst gilt. Die jedoch fand – das müssen wir zugeben – nicht in Köln, sondern in Wuppertal statt.
Trotzdem: Die Initialzündung kam aus Köln. Seine ersten Experimente mit Bildröhren von Fernsehgeräten machte Paik auf Einladung des WDR in dessen Studio für Elektronische Musik. Was liegt also näher, als ein Archiv für Medienkunst in Köln anzusiedeln – zumal im Kölnischen Kunstverein 1976 nicht nur die erste große Paik-Retrospektive stattfand, sondern ein paar Jahre später auch die erste umfassende Videoausstellung Deutschlands. Das war 1982, und bis dahin hatten wiederum einige Kölner Künstler die Weiterentwicklung dieses neuen Mediums maßgeblich mit vorangetrieben – das »Dreigestirn« Ulrike Rosenbach, Marcel Odenbach und Klaus vom Bruch. Inzwischen gibt es hier eine Kunsthochschule für Medien (KHM), deren Absolventen auf internationalen Festivals regelmäßig Preise abräumen, was lokal anscheinend unbemerkt bleibt.
Denn warum sonst sollte die Stadt einem für die Medienkunst existenziell wichtigen Projekt die Unterstützung versagen? Die Medienkunstgeschichte steht vor einem gravierenden Problem: Die wegweisenden Arbeiten drohen im Orkus zu verschwinden. Denn die analogen Videobänder sind nicht ewig haltbar und weisen heute bereits Verfallsspuren auf. Hinzu kommt, dass die Arbeiten nur noch auf alten Abspielgeräten gezeigt werden können, die heute nicht mehr hergestellt werden und für die es größtenteils auch keine Ersatzteile mehr gibt. »Wir reden wirklich davon, dass ein Kulturgut gefährdet ist. Wenn man jetzt nicht aktiv wird, sind die Bänder aus den frühen 70ern in wenigen Jahren verschwunden«, sagt Axel Wirths, einer der Gründer von »235 Media«, einer Agentur in Köln, die seit 1982 internationale Medienkunst sammelt, zu Ausstellungszwecken verleiht und für die Künstler auch den Verkauf organisiert. Darüber hinaus stellt »235 Media« Museen und Galerien technisches Equipment für Ausstellungen zur Verfügung, an denen die Kölner Medienkunstfachleute nicht selten auch kuratorisch mitwirken. 1996 ergriff Axel Wirths gemeinsam mit Siegfried Zielinski, dem damaligen Direktor der KHM, die Initiative zur Gründung eines Großarchivs, das nicht nur genuine Werke der Medienkunst nach modernen wissenschaftlichen Methoden konservieren sollte. Man wollte auch die Archive der Kurzfilmtage Oberhausen und der Feminale, den Popdom und das Studio für Elektronische Musik des WDR integrieren. Das Land Nordrhein-Westfalen hätte dieses Projekt seinerzeit mit insgesamt 320.000 Mark unterstützt. Voraussetzung war allerdings, dass sich die Stadt Köln mit zehn Prozent des Fördervolumens beteiligt. Die vergleichsweise kleine Summe von 32.000 Mark brachte man jedoch damals nicht auf und verspielte auch sonst die Chance, ein weltweit einzigartiges Archiv für audiovisuelle künstlerische Medien in Köln aufzubauen.
Derweil hat sich »235 Media« zunächst einmal auf den Erhalt des eigenen Sammlungsbestands konzentriert, der inzwischen immerhin rund 3.000 internationale Arbeiten aus drei Jahrzehnten Medienkunstgeschichte umfasst. Ein immenses Unterfangen für ein kleines privatwirtschaftliches Unternehmen, das nicht einmal zehn Mitarbeiter beschäftigt. Dennoch hat »235 Media« in den vergangenen Jahren ein innovatives Konzept für ein »MedienKunstArchiv« erarbeitet, das derzeit im NRW-Forum für Kultur und Wirtschaft in Düsseldorf präsentiert wird. Nebenbei kann man hier auch die Evolution der technischen Geräte besichtigen: Betrachtet man die ganze Reihe der Apparate, die von einer der ersten Videokameras aus den 60er Jahren bis hin zum DVD-Rekorder reicht, dann begreift man sofort, vor welchen Schwierigkeiten die Medienkunstarchivare stehen. Aber nicht nur die alte Technik muss funktionsfähig sein. »Konservieren«, sagt Axel Wirths, »heißt auch recherchieren: Wo in der Welt gibt es vielleicht eine bessere Kopie, als die, die wir hier haben. Das ist also eine Konservierungsarbeit ohne jeden technischen Aufwand, dafür muss man kommunizieren.«
Auf Recherche und Kommunikation angelegt ist auch das »MedienKunstArchiv«. Hier wird nicht einfach ein traditionelles Bandarchiv in einen digitalen Datenspeicher verwandelt, sondern es entsteht ein regelrechter elektronischer Kunstkatalog: Man kann sich nicht nur wichtige Arbeiten der Medienkunst anschauen, sondern auch Künstlerbiografien abfragen, erläuternde Texte lesen und über einen Schlagwortkatalog nach bestimmten Themen suchen. Dabei sind die Zugangsmöglichkeiten ganz einfach. Dieses Archiv will nicht nur ein Forschungsinstrument für Wissenschaftler und Ausstellungsmacher sein, sondern auch ein neues Publikum für die Medienkunst gewinnen. Und tatsächlich bietet es Hintergrundinformationen, die den Zugang zu den oft sehr komplexen Arbeiten erleichtern. Ziel ist es außerdem, dieses Archiv zu einer Online-Datenbank auszubauen und somit weltweit zugänglich zu machen.
Aber noch ist das »MedienKunstArchiv« ein Pilotprojekt im Aufbau. In welchem Umfang es sich weiterentwickelt, hängt ab von der kulturpolitischen Förderung. Denn »235 Media« kann ein derart innovatives Projekt nicht allein realisieren. Aber glücklicherweise hat Axel Wirths in Düsseldorf Partner gefunden, die begreifen, dass der Erhalt einer bedeutenden Kunstsparte des 20. und 21. Jahrhunderts eine öffentliche Aufgabe ist. »Nordrhein-Westfalen kann als Land, wo die Medienkunst entwickelt worden ist, nicht auf so etwas verzichten«, sagt Regina Wyrwoll, die Leiterin der Kunststiftung NRW, die das Projekt nach Kräften unterstützt. Und das bedeutet eben nicht nur Geld locker zu machen, sondern auch Vermittlungsarbeit zu leisten, Kontakte herzustellen. So gibt es nun weitere logistische Hilfe aus dem Düsseldorfer Kulturdezernat. Der größte Batzen der dringend benötigten Finanzhilfe kommt dagegen aus Berlin, die Kulturstiftung der Länder stellt für die nächsten zwei Jahre eine Fördersumme von 230.000 Euro zur Verfügung. Spätestens bis dann soll das »MedienKunstArchiv« in eine eigene Stiftung überführt worden sein, damit sein weiterer Ausbau gewährleistet ist und längerfristig ein internationales Forschungszentrum entstehen kann. Denn die Probleme der Konservierung und Restaurierung von Medienkunst werden bei dem rasanten technischen Fortschritt nicht abnehmen. Für die Kunst der Zukunft ist Düsseldorf also gar kein so schlechter Ort.

Info
Präsentation des Pilotprojekts »MedienKunstArchiv« im NRW-Forum für Wirtschaft und Kultur, Ehrenhof 2, di-so 11-18 Uhr, bis 30. September.