Der verdauende Zyklop

Im Museum Ludwig ist seit Oktober die Ausstellung »Roth-Zeit« zu sehen und im November

ein Literarisches Programm zu hören. Der Künstler und die Bücher: Eine kurze Einführung

in das monströse literarische Werk des Dieter Roth von Stefan Ripplinger

Der Mann hat Käse in Koffer gestopft und stinken lassen, er hat mit einer Scheibe Wurst einen Sonnenuntergang simuliert, er hat mit beiden Händen Schnellzeichnungen angefertigt und er hat den Müll seines Ateliers bis an die Decke gestapelt und ausgestellt. Das ist alles einigermaßen bekannt und wird immer bekannter werden. Aber dass der Universalkünstler Dieter Roth auch ein höchst eigenwilliges literarisches Werk von schätzungsweise 200 Bänden vorgelegt hat, ist noch nicht bekannt genug.
Als Dichter hielt Roth nicht viel vom Verdichten. Das Zusammenpressen, Destillieren, Ausdünnen und Abschmecken war seine Sache nicht, wohl aber das Breitschlagen, Aufkochen, Verdicken und Umschaffen. Stellen wir deshalb in die Mitte seiner literarischen Tätigkeit die Idee der »Gesammelten Werke«, wohlgemerkt nicht der »Sämtlichen«. Allein schon jene, gewissermaßen das Bergmassiv ohne seine Ausläufer, sollten wenigstens 40 Folianten umfassen, immerhin 26 stattliche Bände im Verlag seines Freundes Hansjörg Mayer sind es geworden.
Die Idee, nicht eine ganze Welt in einen Satz zu pfriemeln, sondern einen Satz so lange zu zerreden, zu zerdehnen und zu zerreiben, bis das, was Welt in ihm ist, zergeht, ist vielleicht romantisch. Ganz bestimmt aber der Geschmack, den Roth an Größe, an der maßlosen Projektemacherei fand. Ob er aber Romantiker war oder sich über romantische Klischees bloß lustig machte, ist nicht immer leicht zu entscheiden. Rechnen wir ihn deshalb zu den Zyklopen, diesen ungeschlachten Baumeistern und Schmieden von Blitzen.
Wie einem solchen etwas Klitzekleines, fast Graziles unter der Hand zu einer unüberschaubaren Monstrosität gerät, ist am leichtesten an der »Scheisse«-Multilogie zu demonstrieren. Ursprünglich gab es da nur ein paar seltsam derbe, merkwürdig versonnene Gedichte (»Und ich sehe Deine Futz / Und ich hoere Deinen Winter / und Deinen Sommer / weil ich Sommer hoere / wenn ich Hintern hoere«), 1966 von seinen Studenten in Providence gesetzt und von Roth mit allen Fehlern und Verhebungen als ein blaues Poesiebüchlein herausgegeben. Durch Ergänzen, Abwandeln, Verschneiden, Bebildern entstanden in rascher Folge: »Noch mehr Scheisse. Eine Nachlese«, »DIE GESAMTE SCHEISSE. Gedichte und Zeichnungen«, »scheisse. vollständige sammlung der scheisse gedichte mit allen illustrationen«, »FRISCHE SCHEISSE (eine Nachlese)«, »Die DIE GESAMTE SCHEISSE«, »die Die DIE VERDAMMTE SCHEISSE«, »die Die DIE GESAMTE SCHEISSE«, »Die die Die DIE verdammte GESAMTE Scheisse«, »Die die Die DIE GESAMTE verdammte SCHEISSE«, »Die die Die DIE GESAMTE VERDAMMTE KACKE«, »Die Die Die DIE verdammte GESAMTE KACKE«.
Emmett Williams, wohl der beste Roth-Interpret, räumt ein, er hasse das Wort, »it’s too easy, but what, in the name of Scheisse, what can one call it but a Gesamtkunstwerk?« Ich hasse das Wort auch, auch mir fällt kein besseres ein für dieses Auswuchern, das zugleich ein Zusammenwuchern ist. Beispielsweise ist nicht leicht zu erkennen, wie die »Scheisse«-Gedichte mit den feinen sprachphilosophischen Reflexionen des »Mundunculum« (1967) zusammengehen. Und doch folgt er hier wie da dem Gedanken, dass Wahrnehmen Verdauen sei (»mein Auge ist ein Mund«). Er zeigt an, wo dichterisches, skulpturales und bildnerisches Werk ihren gemeinsamen Grund haben: im Magen, im Darm, im Verschlingen, im Ausspeien.
Dass sein gewaltiger Stoffwechsel »Literaturwürste« hervorbrachte, die Roth übrigens zu seinen Büchern zählte, ist insofern begreiflich. Seit Anfang der 60er Jahre weichte er besonders verhasste Zeitschriften, Zeitungen (das bekannte Nachrichtenmagazin oder den Daily Mirror) und Bücher (Andersch, Grass, Hegel, M. Walser) ein, pökelte und würzte sie nach allen Regeln der Metzgerskunst und stopfte sie in Därme. Auch dass in der von Roth veranstalteten Zeitschrift Poetrie (1966-70) erst zarte, schiefe Aphorismen (»Wolken«), dann aber veritabler Kohl und saftige Koteletts in Plastikbeuteln serviert wurden, fügt sich in diesen Zusammenhang, und natürlich auch, dass er für die letzte Edition Pisse in die bedruckten Beutel füllte.
Der Unterschied zwischen dem frühen und dem späten Werk mag darin bestehen, dass erst die andern, die ekligen Produkte des Common Sense, geduldig gefressen, verdaut und ausgeschieden werden, und am Ende er selbst. Die letzten Jahrzehnte seines Lebens gehören einer unaufhörlichen Selbstbeobachtung, Selbstzerfleischung, Selbstverdauung, die sich in Super-8-Filmen, Tagebüchern, Materialsammlungen (beispielsweise von »Flachem Abfall«) dokumentiert, nach der Trennung von Mayer 1980 in den so genannten Kopiebüchern. Das sind in Auflagen von höchstens einem Dutzend herausgegebene Konvolute von Zeichnungen und Aufzeichnungen. Ungefähr 80 soll es geben, ein Massiv für sich, von niemandem je erklommen.
Im Grunde aber gibt es keine autobiografische Wende, nur eine Verschiebung der Gewichte. Betrachtet man nämlich die frühen konstruktivistischen und konkreten Arbeiten, zeigt sich auch da bereits eine intensive Beschäftigung mit dem »ich«, dem »rot«, sowohl mit dem Mann als auch mit seinem Chaos (»ròt« bedeutet auf Isländisch, einer Sprache, in der Roth schrieb und aus der er übersetzte, »böser Mensch« und »Unordnung«). Im »bok« 1956-1959« etwa folgt auf die am Fuß der Seiten sich hinziehende Sequenz »ar ur ar ir re ra re ri ro ru or ir er« erst ein einzelnes »ir« (ihr), dann ein »ich«. Dass sich aber hier ein Ich vorwagt, stand strikt im Gegensatz zum Objektivismus seiner Weggefährten Eugen Gomringer oder Daniel Spoerri.
Dieses Ich präsentiert sich auch im Weiteren nie als Überblicker, Überflieger, sondern als ein zitterndes Knäuel aus Angst und Schwachheit, als gehetzter »Scheißhase« (auch eine Skulptur aus Hasenmist heißt so). Das Größte an Roth ist, dass er sich bei aller Gigantomanie so klein macht und doch so lange Schatten wirft. Kaum eine seiner literarischen Arbeiten belegt das schöner als der »Lebenslauf von 5C Jahren« (1980), aus dem hier zum Schluss der Anfang zitiert sei:
»Kristbaumsplizer Christbaumsplitter in der. In der Fortbewegungs- und Erlebnismaschine, wie der Pökel im Braten. Wie Frau Schwein in Kleinwürfelgestalt in Herrn Hasen, vertreten von seinem eigenen Rücken, sitzt. Ohweh! Wie viele Runden Lebenslaufes später sitzen ihm noch Kritz Christpfahlsplitter im den Weichteilen den weichen Muskelseilen der Fortbewegungsmaschine? Es sitzen ihm viele viele Runden später die Kritzpflaumsprinter im Zentralorgan. Wie heisst dieses Zentralorgan, wie heiss ist es? Es heisst nicht etwa heisser Brei, frau Katz! Sondern hier wird gesprochen, wie man wohllesen kannn von den Paulusinischen Pfählen, welche der R., auch D.R. abgekürzterweise genannt sich aus dem Fortbewegungs- und ErlebensKombinat langsamlich her- oder hinausgedreht hat – sagt er.«

Ausführlich befasst sich S. Rippliger mit dem literarischen Werk Dieter Roths in seinem Beitrag zu dem Band »Dieter Roth. Bücher und Editionen«, der Ende 2003 in der Edition Hansjörg Mayer erscheint (mit 1500 Abb.; bearbeitet von Dirk Dobke).


Ausstellung: »Roth-Zeit« – Retrospektive Dieter Roth, Museum Ludwig, Bischofsgartenstr. 1, bis 11.1.04
Programm zur Ausstellung: Das Kölner Literaturhaus veranstaltet mehrere Abende zu Dieter Roth:
7.11., 20 Uhr: »Alles von Dieter Roth« – Der Baseler Editor Urs Engeler stellt Texte und (Film)Aufnahmen von Lesungen vor.
11.11., 19 Uhr: Hanns Zischler (Berlin): »Islandschaft«
25.11., 19 Uhr: Hans-Joachim Müller (Basel): »Ich binde das Bild an den Strichen fest.« Knoten und Verknüpfungen im Werk von Dieter Roth.
9.12., 19 Uhr: Lazlo Glozer (Hamburg): Die Eingemeindung des Nomaden. Dieter Roth in postumer Sicht.