Fuck Betroffenheitsprosa

Edgar Hilsenrath: Im Ausland gilt er als einer der herausragenden deutschsprachigen jüdischen Autoren, in Deutschland ist er fast in Vergessenheit geraten, in Literaturkreisen ist seine saftig-satirische Prosa umstritten. Der Kölner Dittrich-Verlag legt seine Bücher neu auf. Jan Keith sprach mit dem Herausgeber Helmut Braun

Fast 20 Jahre musste der jüdische Autor Edgar Hilsenrath um die Publikation seiner Romane in Deutschland kämpfen. Deutsche Verleger, so schien es, hatten Angst vor seinen Beschreibungen des Holocaust. Erst nachdem die Romane »Nacht« und »Der Nazi und der Friseur« in den USA, England, Italien und Frankreich erfolgreich waren, erzielte Hilsenrath auch Erfolge in Deutschland. Die Weltauflage seiner Bücher beträgt mehr als fünf Millionen Exemplare, sie wurden in 18 Sprachen übersetzt und in 22 Ländern veröffentlicht. Hilsenrath wurde am 2. April 1926 in Leipzig geboren und flüchtete 1938 nach Rumänien. 1941 wurde er zusammen mit seiner Familie in das Gettho Moghilev-Podolsk deportiert. 1951 emigrierte er nach New York, seit 1975 lebt er in Berlin.

StadtRevue: Herr Braun, erinnern Sie sich noch an den Moment, als Sie Edgar Hilsenrath zum ersten Mal begegneten?

Helmut Braun: Ja, das war 1977 in Berlin. Ich begegnete ihm im Buchhändlerkeller, dort, wo sich jeden Donnerstag Buchhändler, Journalisten und Schriftsteller trafen, um über Bücher zu sprechen. Der Initiator des Buchhändlerkellers hatte mir vorher von einem ganz tollen Autor vorgeschwärmt, einem ehemals verfolgten Juden, der in Deutschland bisher keinen Verlag gefunden habe. Ich wollte diesen Autor kennen lernen.

Ihr erster Eindruck?

Ich sah einen nicht sehr großen, nicht mehr jungen Mann vor mir, der ziemlich ungewöhnlich gekleidet war. Er trug eine Baskenmütze, eine reichlich lädierte Parkerjacke und eine ziemlich verschlissene Jeans. So sind damals nur die jungen Leute rumgelaufen. Aber Hilsenrath war schon 51. Er erzählte mir, dass etwa 60 deutsche Verlage seine Bücher »Nacht« und vor allem »Der Nazi und der Friseur« abgelehnt hatten.

Obwohl diese ja im Ausland, vor allem in den USA, sehr erfolgreich waren. Warum wollte kein deutscher Verlag Hilsenraths Bücher verlegen?

Der Tenor der Ablehnungsbriefe war immer der gleiche: So kann man über den Holocaust nicht schreiben. Die Nachfolgegeneration der Täter wollte also dem Opfer vorschreiben, wie angemessenes Schreiben über den Holocaust auszusehen hat. Das war eine Unverschämtheit.

Was war denn seinerzeit in der deutschen Gesellschaft »angemessen«?

Wenn über den Holocaust geschrieben wurde, handelte es sich meistens um die typische Betroffenheitsprosa, oder um dokumentarische Erinnerungsarien, in denen die Opfer immer die »Edlen« waren. Dagegen hat Hilsenrath angeschrieben.

Was empfanden Sie, als Sie ein paar Tage nach Ihrer ersten Begegnung mit Hilsenrath sein Manuskript von »Der Nazi und der Friseur« lasen?

Mir war sofort klar, dass dieses Buch gemacht werden musste. Es war für mich sogar absolut zwingend, also schickte ich ihm sofort einen Vertrag. Das besondere an diesem Buch war nicht nur seine herausragende literarische Qualität, sondern das extrem ungewöhnliche Herangehen, nämlich die Auswirkungen des Holocaust auf Täter und Opfer in Form einer bitterbösen, pechschwarzen Satire zu erzählen.

... in der das Schema »edle Opfer, böse Täter« durchbrochen wird.

Genau. Und deswegen fand ich es um vieles authentischer und wahrhaftiger als alles, was mir bisher an Holocaust-Literatur bekannt war.

Sieht man von der Kindler-Ausgabe von »Nacht« aus dem Jahre 1964 ab, waren Sie also der erste deutsche Verleger Hilsenraths in Deutschland. Wie war die Reaktion, als »Der Nazi und der Friseur« 1977 erschien?

Mein Verlag war damals klein und unbekannt, aber die Medien stürzten sich auf die Geschichte. Nahezu jede Zeitung berichtete über Hilsenrath. Fast alle Kritiken waren sehr positiv, auch die Buchhändler zogen mit. Ich startete mit einer Auflage von 10.000 und verkaufte insgesamt 30.000. Für Hilsenrath war das bahnbrechend, vor allem, weil wir ja kein Großverlag waren.

Heute ist Hilsenrath in Deutschland wieder fast vergessen.

Leider. Vor allem bei den jungen Leuten. Der Piper Verlag, bei dem Hilsenrath zuletzt war, hat sich nicht mehr um ihn gekümmert.

Was Hilsenrath wohl sehr verärgert hat. Ist das der Grund, warum Sie noch mal das gesamte Werk herausbringen? Schließlich ist Hilsenrath ein langjähriger Freund von Ihnen.

Es gibt zwei Gründe. Erstens zählt Hilsenraths Werk zur Weltliteratur, wie ich finde. Und man muss alles dafür tun, dieses Werk für die Zukunft zu retten. Für die kommenden Generationen müssen seine Erfahrungen und Erzählungen bewahrt werden. Zweitens hat der Piper Verlag, der Hilsenrath so vernachlässigt hat, auch meinen Kampfgeist geweckt. Ich will es den Großen noch mal zeigen.

Die amerikanische Germanistin Leslie Morris hält Hilsenrath für den wichtigsten deutschsprachigen jüdischen Autor...

Nun, da bin ich natürlich nicht mehr objektiv. Aber ich könnte mir vorstellen, dass sie recht hat.

Das sehen andere freilich ganz anders. Sie stören sich an der vulgären Sprache, an dem »kranken Sex« in Hilsenraths Romanen. In »Bronskys Geständnis« geht es ständig ums »Ficken«...

Ficken ist sein Standardausdruck. In »Bronskys Geständnis« beschreibt Hilsenrath das Leben eines jungen jüdischen Exilanten in New York, der völlig fixiert ist auf das, was er nicht hat: Sex. Er muss zu Nutten gehen, eine Freundin kann er sich nicht leisten. Es ist ein armseliges Leben: Ohne Geld, ohne Job, am Rande des Existenzminimums.

So wie es Hilsenrath in seiner New Yorker Zeit erlebt hat?

Ja, das Leben des Bronsky in »Bronskys Geständnis«, das wir unter dem Titel »Fuck Amerika« neu auflegen, ist sehr autobiografisch. Das Exilantencafé, in dem die Gescheiterten täglich herumsitzen und den Nutten hinterher stieren, hat es wirklich gegeben. Hilsenrath bildet die hierarchischen Strukturen über die sexuelle Ebene ab: Nur wer Geld hat, bekommt eine »nomale« Frau. Die armen, arbeitslosen jüdischen Exilanten zahlen sechs Dollar für die schnelle Nummer mit der Negerin.

Hilsenrath schreibt über ehemals verfolgte Juden, die zu Nutten gehen, die klauen und betrügen, ein Leben, das auf Triebbefriedigung reduziert ist. Was sagen Überlebende des Holocaust dazu?

Die waren teilweise empört. Damals, als »Nacht« im Kindlerverlag mit einer Auflage von 1.200 erschien, hatte eine verlagsinterne Opposition den Verkauf gestoppt. Es wurden nur 160 Bücher ausgeliefert. Der Vertriebsleiter und der Cheflektor waren Auschwitz-Überlebende und fühlten sich persönlich beleidigt. Aber Hilsenrath beschreibt in seinen Büchern nur die Wahrheit: Die Täter hatten es geschafft, die Opfer auf ihre Triebe zu reduzieren, sie sozusagen ihres Menschseins zu berauben.

Mittlerweile gibt es Autoren, die Vergleichbares schreiben...

Richtig. Sex in der Holocaust-Literatur ist inzwischen kein Tabu mehr. Es gibt dokumentarische Überlebensberichte, in denen die Autoren ganz offen schreiben, wie wichtig auch der Sex gewesen sei. Der Sex ist damals animalisch gelaufen, weil alle sich ständig vom Tode bedroht sahen. Sie vollzogen den Geschlechtsakt immer in dem Gedanken, es ist das letzte Mal. Hilsenrath war der erste, der dies thematisiert hat in seinen Büchern.

Edgar Hilsenrath: Fuck Amerika – Bronskys Geständnis. Dittrich Verlag, Köln 2003, 287 S., 19,80 Euro.
Für Februar 2004 ist eine Veranstaltung in Köln mit Edgar Hilsenrath geplant (Literaturhaus).