Die ultimative House-Reduktion als Familienausflug: ESG | Foto: ©Gino Maccar

Abschied von Kandor City

Das Week-End Fest bringt mit seiner vierten Ausgabe ein grandioses Programm in die Mülheimer Stadthalle. Das ist alles andere als selbstverständlich

Freitag, 2. Dezember 2011, Bauaufsichtsamt Köln, kurz vor 17 Uhr: Ein Mann läuft mit wild schlagendem Herzen in den Gängen umher und klopft hämmernd an verschlossene Türen. Niemand mehr da. Was jetzt? Verlegen? Absagen? Nachhausegehen?! Da öffnet sich am Gang­ende eine Tür, eine Frau mittleren Alters steuert automatenhaft über den Flur, ihr Blick flackert leicht als sie im Augenwinkel sieht, wie der Mann auf sie zustürmt: »Kennen Sie Jochen Distelmeyer?« bricht es aus ihm hervor. Sie: »Ja!?« Er, verzweifelt: »Der spielt in drei Stunden hier in Köln und wir haben von Ihnen immer noch keine Freigabe!«

 

Als Jörg Waschat diese kleine Anekdote erzählt, merkt man ihm die damalige Anspannung noch an. Wir sitzen mit seinem Kuratorenpartner Jan Lankisch in einem Café im Belgischen Viertel und unterhalten uns über die Anfänge des Week-End-Festivals vor drei Jahren. Veranstalter kennen den Tango mit Ordnungs- und Bauaufsichtsämtern, aber dieser Tanz hatte für Köln eine nicht ungewichtige kulturpolitische Bedeutung. Neben Distelmeyer waren Thurston Moore, John Maus, Family Fodder und einige andere hochkarätige Künstler für besagtes Wochenende in den ehemaligen UFA-Palast am Ring geladen — eine verweigerte Freigabe durch das Bauaufsichtsamt wäre nicht nur finanziell ein Desaster gewesen.

 

Die Stadt wäre heute vermutlich ohne Leuchtturm-Festival. Und niemand hätte dies bemerkt, hatte doch bis dahin kaum jemand ein solches Festival in Köln für möglich gehalten. Dietmar Dath hatte in seinem Schlüsselroman »Phonon« zehn Jahre zuvor Köln »Kandor City« genannt. Die Parallelen zwischen Realität und »Superman«-Saga sind in der Tat verblüffend: in der Comic-Reihe ist die Hauptstadt von Krypton, Supermans Heimatplaneten, von einem skrupellosen Wissenschaftler namens Brainiac mitsamt ihrer Bewohner ge­­schrumpft und in eine Flasche gesperrt worden. In der Realität drohte der Kulturstandort Köln in den Nullerjahren auf Schneekugel-Format zu schrumpfen. Brainiac war in diesem Szenario kein grünhäutiger Alien, sondern Berlin: nach der Jahrtausendwende vollzog sich — wie in vielen Städten der Republik — ein Braindrain zugunsten der neuen alten Hauptstadt. Der fehlende Weitblick der Kölner Kulturpolitik tat ihr Übriges.

 

In den letzten Jahren hat sich gottlob einiges in der Stadt getan. Auch dank dieses Engagements zweier Musiknerds hat sich Köln wieder zurück auf die internationale Landkarte des Pop gesetzt. Die Bekanntgabe des Line-ups des Week-End-Festivals löst in den sozialen Netzwerken Begeisterungsstürme aus, die überregionale Presse berichtet euphorisiert und die Besucher kommen nicht nur aus der gesamten Republik, sondern auch aus Frankreich, Belgien und den Niederlanden.

 

Waschat und Lankisch haben auch dieses Jahr wieder ein tolles Gesamtpaket geschnürt oder, wie sie selbst sagen, Mixtape zusammengestellt: dieses Mal firmieren die New Yorker Funkateer-Legende ESG und die Factory-Heroen A Certain Ratio aus Manchester als Hauptattraktoren. Beide Bands sind selten live zu sehen, ESG haben zudem angekündigt, dass sie diese Saison das letzte Mal in Europa unterwegs sein werden. Dass sich die Bands persönlich kennen, ist kein Zufall — Markenzeichen der Festivalkuratierung ist das feinsinnige (Weiter-) Stricken von pophistorischen Verbindungslinien: weil ACR 1980 bei Aufnahmen in New York schneller fertig waren als geplant, konnten ESG in den übrig gebliebenen Studiotagen ihre erste Platte aufnehmen. Heute gilt der gymnastische Funk von ESG als Blaupause für die House-Szene und ist hundertfach von HipHop-Acts gesamplet worden. Ihr Auftritt wird eine Lehrstunde in Pop ganz ohne museumspädagogischen Beigeschmack.

 

Weitere Highlights sind die schottische Band Teenage Fanclub und der genialische Pop-Vignettist Owen Pallett: TF wurden von Liam Gallagher einmal die »zweitbeste Band der Welt« genannt, ihr unaufgeregter Sound gehört im Gegensatz zu ihrem prominenten Fürsprecher zu den sympathischen Indie-Entwürfen der 90er-Jahre. Pallett zählt derzeit mit seinem schillernden Barockpop zu den aufregendsten Alleinunterhaltern seit Arthur Russell und Patrick Wolf. Großartig versprechen auch die Auftritte von Kate Tempest und Mdou Moctar zu werden. Die 27-jährige Tempest wird derzeit auf der Insel hoch gehandelt, Vergleiche mit Mike Skinner sind angebracht, Chuck D und Roots Manuva gehören bereits zu ihren Fans. Moctar ist einer dieser fantastischen Tuareg-Gitarristen aus dem Niger, die mit ihrem euphorischen Rock’n’Roll-Entwurf Diskussionen über den Status von »Weltmusik« ganz weit hinter sich lassen. Last not least der (Comeback-)Auftritt der Kölner Von Spar, die endlich ihr neues Album »Streetlife« vorstellen werden — die erste Single »Chain of Command« der Post-Post-Modernisten ist schon mal ein Hit.  

 

Dass man dann auch noch den Berufsironiker und Oberdandy Jarvis Cocker, Ex-Sänger der Britpop-Legende Pulp, für ein nächtliches DJ-Set gewinnen konnte, fällt im Gesamtzusammenhang kaum mehr auf. Ebenso wenig verblüfft ein Brian-Eno-Special, das Lankisch kurzerhand initiiert hat: dem Onkel der No-Wave-Szene huldigen die Festivalkünstler mit Live-Performances von Stücken seines 2. Soloalbums, Richard Prince steuert ein Neubearbeitung des Covers bei. Okay, Hand aufs Herz: ich bin verblüfft. Den Machern ist wieder ein grandioses Programm gelungen. Adieu, Kandor City!

 

Text: Bastian Tebarth

 


StadtRevue präsentiert:
Week-End Fest #4, Fr. 27.11.–So 29.11., Stadthalle Mülheim, weekendfest.de
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Außerdem in der StadtRevue November: Nippes: Tälchen, Tower, Tadsch Mahal +++ Straßen zu Radwegen: Stadtplaner Jan Gehl blickt in Kölns Zukunft +++ Flüchtlinge: Letzte Zuflucht Baumarkt +++ Ebertplatz: Doch nicht so schlecht? +++ Bürgerhaushalt: Längst gescheitert +++ Karneval im Kino: Positiv bekloppt +++ Neues in Kolumba: Playing By Heart +++ Museumsnacht: Das Programmheft