Das grosse Kabbeln

Mit »Findet Nemo« lehrt das Animationsstudio Pixar auch seinem Partner Disney das Fürchten

Die schönste Komödie des amerikanischen Kinosommers beginnt als Schlachtfest: Eine vielköpfige, noch nicht einmal dem Ei entschlüpfte Brut von Clownfischen wird samt ihrer Mutter Opfer eines gefräßigen Räubers. Nur ein einziger Nachkomme bleibt dem verzweifelten Vater, um ihn an glücklichere Tage zu erinnern. So unerbittlich hat das Naturgesetz vom Fressen und Gefressen-werden in einem animierten Film seit dem Tod von Bambis Mutter nicht mehr zugeschlagen, doch wird gerade dadurch die Kluft zwischen Mensch- und Tierwelt erfolgreich eingeebnet. Aus dem unverschämt fruchtbaren Fisch wird der alleinerziehende Vater Marlin, der seinen verbliebenen Spross dermaßen ängstlich umsorgt, dass es für den neugierigen kleinen Nemo eine Qual ist. Alles außer dem idyllischen Korallenriff ist für ihn verboten. Natürlich wird der offene Ozean so erst recht zum dunkel lockenden Kontinent.
Eines unvermeidlichen Tages nimmt Nemo vor der liebevollen Umklammerung Reißaus, erprobt die Weiten der Unterwasserlandschaft – und endet erst in den Fängen eines Tauchers und schließlich zwischen den Wänden eines Aquariums. Für den jammernden Marlin beginnt mit diesem erneuten Schicksalsschlag die Zeit des Heldenmuts. Um seinen Sohn zu retten, schwimmt er hinaus ins Ungewisse, von nichts als guten Wünschen und einer skurrilen Fischdame begleitet. Auf ihrem Weg eröffnet sich den beiden dann neben der Schönheit einer unentdeckten Welt auch die Fantastik einer anthropomorphen Fauna: ein Trio schuldgeplagter Haie gründet eine Selbsthilfegruppe Anonymer Fischfresser, eine sehr entspannte Schildkrötenkolonie reitet die Wellen unter Wasser, und in Nemos Aquarium tummeln sich die Neurosen wie sonst nur im Wartezimmer des Psychiaters.
»Kleiner Fisch ganz groß« titelte das deutsche Manager-Magazin als sich andeutete, dass es zwischen dem Animationsstudio Pixar und seinem Verleiher Disney nicht mehr zum Besten steht. In seiner Welt mag Nemo nur ein niedlicher Clownfisch sein, im amerikanischen Kinosommer entwickelte er sich jedoch zum Hecht im Karpfenteich. Dank eines Einspiels von mehr als 330 Millionen Dollar markiert »Findet Nemo« den bisherigen kommerziellen Höhepunkt des Jahres und könnte sich schon bald zum erfolgreichsten Animationsfilm aller Zeiten mausern. Was für DisneyChef Michael Eisner einerseits Grund zur Freude ist, wurde für ihn bei den neuerlichen Vertragsverhandlungen mit Pixar zum Ärgernis. Ermutigt vom anhaltenden Erfolg diktiert das kleine Studio seinem Seniorpartner die Konditionen und stößt damit erwartungsgemäß auf wenig Gegenliebe. Selbst der Bruch dieser so vorbildlichen Firmen-Ehe ist nicht mehr ausgeschlossen.
Das Pikante an der ganzen Sache ist, dass Pixar mittlerweile genau die Stellung im Reich des animierten Films einnimmt, die Disney eigentlich mit Pixars Hilfe zu festigen und später gegen die Konkurrenz von Dreamworks (u.a. »Antz«, »Shrek«) zu verteidigen gedachte. Doch Disneys Eigenproduktionen waren zuletzt nicht nur ästhetische Offenbarungseide, sondern auch kommerziell derart enttäuschend, dass die Konstanz, mit der Pixar vom Publikum dankbar angenommene Meisterwerke produziert, umso deutlicher ins Auge fällt. Titel wie die beiden »Toy Story«-Filme, »Das große Krabbeln« und die »Monster AG« sprechen für sich: Aus Disneys Zulieferer ist ein eigenes Markenzeichen geworden, mit dem sich so unterschiedliche Regisseure wie John Lasseter, Peter Docter oder nun Andrew Stanton anschicken, gemeinsam das verwaiste Erbe Walt Disneys anzutreten.
Bezeichnenderweise ist die Firmengeschichte Pixars ein herrlicher Anachronismus, der direkt an die Pionierzeiten des
Zeichentrickfilms anzuschließen scheint: Eine kleine Firma wächst kontinuierlich mit den technischen Möglichkeiten ihres von ihr selbst vorangetriebenen Mediums. 1986 ging Pixar aus einer von Apple-Chef Steve Jobs erworbenen Abteilung von Lucasfilm hervor. Nachdem die junge Firma eine Reihe erfolgreicher Kurz- und Werbefilme produzierte, begannen 1991 Pixar und Disney ihre bis heute andauernde Kooperation, und bereits mit John Lasseters »Toy Story« (1995) trug diese erstaunlich reife Früchte. Durch ihre Konzentration auf ein gut behütetes Nischengenre, den im Computer animierten Film, konnten sich die bei Pixar beschäftigen Talente in aller Ruhe fortentwickeln. Das Ergebnis ist eine stets verblüffende Erzählkunst und ein tiefes Verständnis für das, was den Animationsfilm im Innersten zusammenhält: der Kindheitstraum, die Dinge um sich herum zum Leben zu erwecken und die Welt zu verstehen, indem man sie sich anverwandelt. In »Toy Story« mit seinen abenteuerlustigen Spielzeugfiguren ist dies ganz buchstäblich der Fall, die »Monster AG« inszeniert das Animationsgenre souverän als eigentliche Traumfabrik, und auch »Findet Nemo« hat seinen Anteil an der Ursprungsfantasie des Zeichentricks. Nach diesem Film wird man ein Aquarium mit anderen Augen sehen.

Findet Nemo (Finding Nemo) USA 03, R: Andrew Stanton, Lee Unkrich, 100 Min. Start: 20.11.