Das Hölderlinkino

Wäre der literarischste unter den deutschen Dichtern heute Cineast? Die Film-Trilogie von Harald Bergmann oder: Das poetische Sprechen im Kino. Von Melanie Weidemüller

 

Fangen wir rückwärts an. Der neueste Film von Harald Bergmann, »Passion Hölderlin«: Sechs Hölderlin-Addicts unterschiedlicher Disziplinen geben Auskunft, der siebte ist der Regisseur selbst. Die Literaturwissenschaftlerin gesteht, dass es der Philologie bislang nicht gelungen ist, die Komplexität der Dichtung Hölderlins zu fassen. Der Hirnforscher Linke sortiert die Plastikteile eines Gehirnmodells. Die enthemmten Erfahrungs- und Wahrnehmungsweisen im Mescalinrausch entsprächen am ehesten den Hölderlinschen Gedichtbewegungen, beschreibt der Philosoph Heinz Wismann durchaus nüchtern die Verführung dieser Poesie und die Kamera steigt in ein Segelflugzeug. Kein Standpunkt mehr dort oben, dafür ständige Landschafts- und Perspektivwechsel. Wohin? Das wisse der Teufel, es käme schon auf das Verschlepptwerden an. Die Leine wird gelöst, das Segelflugzeug schwebt davon und das Motorflugzeug kehrt zur Erde zurück, Wismann spricht zwischen den Wolken weiter.
Hölderlin als bewusstseinserweiternde Droge? Das Segelflugzeug wird am Ende wieder auf dem Boden aufsetzen. Wo sind wir hier gelandet, wovon ist die Rede? »Passion Hölderlin« ist gewissermaßen der ergänzende Metafilm zur Trilogie des Berliner Filmemachers über den einfachsten und schwierigsten unter Deutschlands Poeten: Friedrich Hölderlin, geboren 1770, Utopist, Anarchist, Pantheist, poetologischer und politischer Revolutionär, philosophierender Dichter und dichtender Philosoph. Nach der gewaltsamen Einlieferung in eine Klinik 1806 entmündigt und dem Schreinermeister Zimmer zur Pflege übergeben, nach 36 Jahren im Tübinger Turm (Klavier spielend, zeichnend, weiter dichtend) gestorben 1843. Die Hinterlassenschaft: sinnliche Wörterwelten und Denksätze, gänzlich ungeeignet, in gemeine Verständigungsprosa übersetzt zu werden. Sie folgen poetischen Gesetzen, getragen von Rhythmus und Sprachmelodie, wo sich der Sinn dem schlichten logischen Verstand versagt. Damit hören die Gewissheiten auf. Bergmann macht weiter, im Uneindeutigen, mit den poetischen Gesetzen.
Was ist diese lebendige poetische Rede? Wie lässt sie sich filmisch adaptieren? Das gilt es auszuloten. Bergmann ist, um es vorweg zu nehmen, eine überzeugende Aneignung gelungen, die vielleicht einzig akzeptable Form, nämlich kein Film »über« Hölderlin, sondern das poetische Sprechen im Kino. In zehn Jahren sind drei abendfüllende Filme unterschiedlicher Stilarten entstanden: Eine Annäherung und Auseinandersetzung mit Leben, Werk und dem bis in die Gegenwart reichenden Mythos – analytisch, identifikatorisch, kritisch, dokumentarisch, liebevoll, ästhetisch. Jeder Film steht für sich, doch mit der Trilogie erst wird das Gesamtunternehmen erkennbar, ergänzen sich drei Perpektiven und »Töne« zu einem offenen Ganzen.

Es liebet aber der Sähmann / Zu
sehen eine, / Des Tages schlafend über / Dem Strickstrumpf.


Chronologisch am Anfang steht »Lyrische Suite / Das untergehende Vaterland«, eine Collage. Man muss sich Einüben ins Sehen, Hören, Folgen, doch dabei genügt es zunächst – das ist das »Einfache« an Hölderlin und an Bergmann – sämtliche Sinne zu öffnen. Rezitierte und animierte Texte rhythmisieren die gegenwärtigen Bilder, minutenlange Einstellungen einer einzigen Landschaftsperspektive, Bewegungen durch Großstadtverkehr, harte Schnitte zu ekstatischen Trommlern. Text, Bild und Musik (Alban Berg) bilden gleichberechtigte Elemente, treten in wechselnde Verhältnisse zueinander. Schon hier entwickelt Bergmann seine Bildgrammatik und verwendet die Mittel, die er auch in den folgenden Filmen kombiniert: rekonstruierte Zeitzeugnisse, Rezitationen (unschlagbar: Walter Schmidinger), Interview- und Reportage-Elemente, die in allen Filmen zentral eingesetzte »Sichtbarmachung« von Hölderlins Niederschrift per Trickanimation – ein Schlüssel zu Bergmanns Arbeit. Sie lässt die Handschrift handgreiflich werden, setzt Schrift als Bild, bringt die Bewegungen des dichterischen Entstehungsprozesses auf die Leinwand. Das abzulauschen ist fast ungeheuerlich, dient aber gerade nicht der Mystifizierung dieses Vorgangs, sondern seiner schlichten Anerkennung: der Rehabilitierung dichterischer Wahrheit. Hier wird nicht Wirklichkeit abgebildet oder behauptet, hier ereignet sich etwas. Jetzt. Anwesenheit. Was nicht zu bezweifeln ist.
Diesen Ort des Poetischen aufzusuchen, dem steht konkret Hölderlins unheilvolle Verortung in der deutschen Geistesgeschichte im Wege. »Lyrische Suite/ Das untergehende Vaterland« setzt sich auseinander mit der Rezeption und faschistischen Versuchung, enthält ein aufschlussreiches »Tod fürs Vaterland«-Filmzitat aus Karl Ritters »Stukas« von 1942 – als müsse Bergmann sich, um ein Verhältnis zum Gegenstand finden, zunächst durch all den historischen Schutt der Deutungen, Klischees, Vereinnahmungen hindurch arbeiten. Bergmann lässt das Vaterland untergehen und gewinnt die Texte und das poetische Sprechen zurück. Die Rückeroberung dieses Erbes, nicht nur für das Kino, das ist das Projekt und dazu beizutragen der Verdienst.

Nicht will wohllauten / Der deutsche Mund, / Aber lieblich / Am stechenden Bart rauschen / Die Küsse.

Vermutlich konnten erst nach dieser Teufelsaustreibung die beiden weiteren Teile entstehen: der Filmessay »Hölderlin Comics« und »Scardanelli« in Spielfilmform. Ersterer erzeugt Reibung, indem er die Texte Hölderlins mit Reaktionen seiner Zeitgenossen konfrontiert, und inszeniert die Geschichte bis zum Abtransport des Dichters ins Tübinger Klinikum. Der Dichter und das Klugheitsjahrhundert rollen auf dem Sound von John Zorn & Naked City – die dramatische Zuspitzung der Trilogie.
»Scardanelli« (Hölderlins spätere Unterschrift) schließlich widmet sich der zweiten Lebenshälfte im Turm – das wohl heikelste Unternehmen. Gnadenloser Kitsch über den Wahnsinn hätte es werden können, nichts davon. Mit Abstand, Respekt und Behutsamkeit ist dieser Film inszeniert, nimmt eine radikale Außensicht ein, hält sich an die Texte und die in ihnen enthaltenen Bilder, statt eine illusionistische Erzählung anzubieten. André Wilms als angeblich, vorgeblich, real (den Film interessiert das nicht) geisteskranker Hölderlin-Scardanelli in schwarz-weiß, in Farbe – cut – Szenen, in denen Menschen in bürgerlichen Wohnzimmern schwäbelnd alle verfügbaren Perspektiven von Zeitzeugen wiedergeben. Wir sind Zeitzeugen der Gedichte, nicht eines Lebens. Bergmann verwischt das nie.

spitzbübisch schnakisch / Lächeln, wenn dem Menschen / seine kühnsten Hoffnungen / erfüllt werden

Es gäbe an Einzelnem rumzumäkeln oder zu streiten – diese Details gehen unter in der Verteidigungsrede für das Gesamtprojekt. Hölderlin in einer gültigen Form im Kino zu lesen, das ist vorher Huillet/Straub gelungen, zuletzt hat Nina Grosses Historienschinken »Feuereiter« die Skala nach unten durchgehauen. Harald Bergmann hat mit seiner Filmsprache dem Kino etwas hinzugefügt, und mit seiner »Rettung« Hölderlins für uns Zeitgenossen die poetische Ausdrucksform neu belebt – jene also, die am ehesten die komplexe Erfahrungsweise gelebten Lebens zu fassen und zu vermitteln vermag. Das ist aktiver Widerstand gegen die Verdummung, die Versteinerung, das Vergessen. Im Kino, in Deutschland, wo auch immer.

Info
Eine Kooperation von Literaturhaus und Filmhaus
Ort: Filmhaus, Maybachstr. 111
5.12., 20 Uhr: Eröffnungsabend mit Harald Bergmann, Wilfried Reichart und dem Preview von »Passion Hölderlin«. D 2003, mit Heinz Holliger, Detlef B. Linke, D.E. Sattler, Walter Schmidinger, Anke Bennholdt-Thomsen, Heinz Wismann, 66 Min.
6.12. Trilogie 17.30 Uhr: »Lyrische Suite/Das untergehende Vaterland«, D 1992, D: Jean-Marie Straub, Udo Samel, Otto Sander, Tina Engel, Musik: Alban Berg, 84 Min.
19.30 Uhr: »Hölderlin Comics«, D 1994, D: Walter Schmidinger, Udo Samel, Otto Sander, Musik: John Zorn & Naked City, 90 Min.
22.15 Uhr: »Scardanelli«, D 2000, D: André Wilms, Walter Schmidinger, Geno Lechner, Musik: Mozart, Schubert, Bach, 112 Min.
7.12. Trilogie 18.30 »Hölderlin Comics«; 20.15 »Scardanelli«; 22.15 »Lyrische Suite/Das untergehende Vaterland«.
TV: Am 30.01.04 ARTE-Themenabend mit »Passion Hölderlin« und »Scardanelli«
Web: www.scardanelli-derfilm.de