Geoengineering auf 55 Quadratmetern

Heim & Welt

Wenn jemand sagte, er habe am Nordpol eine muntere Population Kakadus angetroffen, dann bezeichnete man den wohl zu Recht als einen Lügner. Warum aber nicht den, der frech kundtut, in Gesine Stabroths Wohnung sei es nicht nur ausreichend temperiert, sondern »muckelig warm«? Wer so dreist ist, das zu behaupten? Na, Gesine Stabroth!   

 

Gesine Stabroth hat stets alle Fenster auf Kipp. Kein Wunder, dass mich und jeden, der noch irgendetwas fühlt, fröstelt. Ich meine, wer in unseren Breiten auf 55 Quadratmetern ein bizarres Geoengineering betreibt und eine subpolare Klimazone inszeniert, der sollte seinen Gästen entsprechende Kleidung bereitstellen — und nicht auch noch darum bitten, die »dreckigen Straßenschuhe« auszuziehen. Da hilft kein Knäuel oller Wollsocken, das mir Gesine Stabroth hinwirft (»Hier, für deine kalten Füßchen!«). 

 

Mit der gastunfreundlichen Dauerkipplüftung meint Gesine Stabroth, den bösen Dämon »Wohnungsmief« bannen zu können. Mal neckt er sie mit dem Geruch von Blumenkohlkartoffelauflauf, mal mit dem Aroma meiner Regenjacke, die angeblich riecht wie ein überfüllter Omnibus an Regentagen. Ich riech nix. Gesine Stabroth aber ist nach eigener Auskunft mit einem hochfeinen Sensorium ausgestattet, das dort platziert ist, wo unsereins die Nase stecken hat. Es scheint mehr Fluch als Segen zu sein. Warum ekelt sich Gesine Stabroth vor dem Bouquet eines Blumenkohlkartoffelauflaufs, den sie zuvor beherzt verzehrt hat? Gäbe es ein Blumenkohlkartoffelauflauf-Duftbäumchen, ich hinge es mir unter die Nase!  

 

Gesine Stabroth aber ist dem Aberglauben verfallen, dass sich jene ominösen olfaktorischen Effekte in ihrer Wohnung nur durch dauerhaft auf Kipp gestellte Fenster verhindern ließen. Stoßlüftung lehnt Gesine Stabroth ab. Unsinn, sagt sie, und meint doch eigentlich: zu umständlich. Denn dafür müsste sie nach jeder Mahlzeit die Fensterbänke freiräumen. Das aber entspräche dem Aufwand, eine Kleinstadt zu evakuieren. Menschen halten es nicht aus, auf leere Fensterbänke zu blicken. Der horror vacui der Wohnraumgestaltung. Alles steht mit botanischem Plunder und Krimskrams voll, so dass nur noch die absurde Kipp-lüftung praktikabel erscheint. 

 

Mir träumt, ich wäre der Verfasser einer furiosen Kampfschrift (»Die Welt auf Kipp — Wie falsches Lüften uns krank und arm machen soll«). Ich spräche von »der mächtigen Lobby der Fenster-Fabrikanten«. Warum nämlich lassen sich Fenster auf Kipp stellen, wenn Kipplüftung nachweislich nur der Energieverschwendung dient. Wer hat daran ein Interesse? Warum schweigt die Politik? Diese Fragen müssen aufs Tapet! 

 

Fenster auf Kipp lassen die Wohnungen nicht besser riechen, sondern nur die Gäste frieren! Das wäre mein Fazit als Vorsitzender einer Enquetekommission. Klar, ich machte mir auch Feinde. »Hallo?! Haben wir keine anderen Probleme?«, tönten die einen, und die anderen höhnten: »Hilfe, Kippstellung der Fenster! Die Welt geht unter!« Da zöge ich mich zurück, vertiefte mich in meine fenster-kulturellen Studien. Vergäße vielleicht auch die Stoßlüftung. Mir würde blümerant. Ich raunte dann, dass Bibel, Tibetanisches Totenbuch und Voynich-Manuskript in Wahrheit gigantische Kompendien wider die Kipplüftung seien gerade weil das Thema dort überhaupt nicht vorkommt. Mein Leben würde verfilmt oder ich endete als Romanfigur. Junge Literaten aus den Creative-Writing-Seminaren suchen doch immer Figuren mit Obsession.

 

So denke ich, während ich in den ollen Wollsocken bei Gesine Stabroth auf Blumenkohlkartoffelauflauf warte. Brennt da was an? Irgendwie müffeln die Socken auch. Ob kurz vor dem Kältetod der Geruchssinn sensibilisiert wird? Ich fühle mich wie ein Kakadu am Nordpol.