Müllers Block

9. Januar 2004: Der Dramatiker, Dichter und Regisseur Heiner Müller wäre 75 Jahre alt geworden. So what? – sagen derzeit viele. Felix Klopotek hinterfragt sie lieber, die aktuelle Müller-Flaute an den großen deutschen Theatern

 

Wenn am 9. Januar der 75. Geburtstag Heiner Müllers gefeiert wird, dann wird, so scheint’s, auch einem Klassiker gedacht. Die Homepage seines Bühnenverlages Henschel listet eine ansehnliche Reihe von Aufführungen auf, zahlreiche Stadttheater in Deutschland, Europa, der ganzen Welt spielen in diesen Tagen Müllers Stücke. Gerade ist der sechste Band der bei Suhrkamp verlegten Werkausgabe erschienen, der seine Stückadaptionen und Übersetzungen versammelt. Damit sind seine gesamten Theaterarbeiten, im Ganzen vier Bände, das Herzstück seines schriftstellerischen Werkes, in einer einheitlichen, gut kommentierten Ausgabe erhältlich. Demnächst wird auch der von Stephan Suschke besorgte Text-Bild-Band »Müller macht Theater« ausgeliefert. Suschke, jahrelang Müllers (Regie-)Assistent, von 1997 bis 1999 Künstlerischer Leiter des Berliner Ensembles und seitdem frei schaffender Regisseur, dokumentiert in materialreichen Collagen Müllers Regiearbeiten, zehn Inszenierungen seit 1980 und eine abgebrochene - Müller starb am 30.12. 1995 an den Folgen einer Krebserkrankung. Es waren nicht zuletzt diese Regiearbeiten, die Müllers Ruhm in den 80er und 90er Jahren über die engen Grenzen der DDR hinaus enorm potenzierten. Darüber hinaus gibt es seit zwei Jahren eine umfangreiche, offiziöse Biographie von Jan Christoph Hauschild: »Heiner Müller oder das Prinzip Zweifel.« So feiert man also einen Klassiker, alles ist gesagt und dokumentiert, business as usual.
Allerdings ist Skepsis geboten. Wer sich die Liste mit den Aufführungen genauer anguckt, wird entdecken, dass Müller, zumindest hierzulande, kaum in großen Häusern gespielt wird, erst recht nicht im Westen (die Münchner Kammerspiele bilden die Ausnahme). In Berlin passiert auf den großen Theaterbühnen gar nichts. Was verwundert, Müller arbeitete in den 70er Jahren als Hausautor der Volksbühne, inszenierte am Deutschen Theater und war bis zu seinem Tod Intendant des Berliner Ensembles – zwanzig Jahre dominierte er zumindest das Ostberliner Theaterleben. Es sind kleine Theater im Osten, in Senftenberg, in Dessau, in Cottbus, die Müller in der Jubiläumszeit spielen, ihn wahrscheinlich schon immer gespielt haben.
Hinzu kommt, dass Müller eigentlich nicht zum Klassiker taugt. Es ist schon merkwürdig, seine Theatertexte in einer übersichtlichen chronologischen Ordnung (Müller selbst hat sie sich gewünscht) abgedruckt zu sehen; Texte, die zwischen strengem Formbewusstsein und epidemischem Formzerfall taumeln, die mal collagiert und zersplittert sind, dann wieder extrem verdichtet anmuten, die Brecht bisweilen in ihrer Kargheit übertreffen, aber auch die ganze postmoderne Theorie gierig einsaugen wie ein Kokser seinen Stoff. Sein ganzes Werk steht gegen den Versuch Ordnung darin zu stiften: Er ist zu geschwätzig (es gibt unzählige Interviews aus seinen letzten Jahren), zu undiszipliniert (seine Schreibhemmungen sind legendär), zu inkonsequent (mal brechtisch, mal antibrechtisch). Einerseits gibt es das Müller-Chaos, Stücke, Gedichte, Pläne, Notizen, Entwürfe, endlos viel Text-Kannibalismus und Diebstahl geistigen Eigentums, andererseits ist da sein Weltruhm der 80er und 90er Jahre. Ein spezifischer Ruhm: Müller ist wohl der einzige DDR-Autor, der es für längere Zeit zu weltweiter Bekanntheit brachte (Brecht lebte nur sieben Jahre in diesem Staat). Es ist offensichtlich, dass der aktuelle Kulturbetrieb diese Widersprüche ignoriert, ihn auf mittlerem Level kanonisiert. Und abseits des Kulturbetriebes?
Schaut man sich den Band »Müller macht Theater« an, wird man in eine untergegangene Welt versetzt. Müllers erste Regiearbeit findet 1980 im Dritten Stock der Berliner Volksbühne statt, ein winziger Theaterraum. Dort inszeniert Müller sein Stück »Der Auftrag«. Thema: Wie gehen (Berufs-)Revolutionäre – in ferne Länder geschickt, um den Aufstand anzuzetteln – damit um, dass ihr Auftraggeber, etwa der Konvent des revolutionären Paris oder die revolutionäre Arbeiterpartei, aufgehört hat zu existieren? Und trotzdem die objektive Notwendigkeit, die Revolution endlich zu entfachen, fortbesteht? Das Problem: Heute hat sich nicht nur die Agentur der Revolutionäre aufgelöst, sondern auch die »objektive Notwendigkeit«. Das – letztlich vergebliche – Ringen der Protagonisten in den Stücken Müllers, die um eine bessere DDR kämpfen (seine frühen Produktionsstücke), um eine bessere Partei und eine bessere Revolution (Stücke wie »Mauser«, »Der Auftrag«, »Wolokolamsker Chaussee I-V«), um einen gnädigeren Ausgang des alles Menschliche zermalmenden Geschichtsprozesses, wird heute als Zeitgeschichte gewertet.
Die Dokumentation seiner Regiearbeiten macht aber einen subversiven Aspekt in Müllers Schaffen deutlich, der über das Zeitgeschichtliche hinausweist. Je mehr Müller in seinen Stücken eine sich auflösende Realität darstellt, je stärker er schwarz in schwarz malt und seine Revolutionsstücke in zeitlosen Katastrophenszenarien münden, desto besser muss die Arbeit auf der Bühne funktionieren. Will man vor diesen monströsen Textkonvoluten, die immer weniger durch konzeptionelle Strenge zusammengehalten werden, nicht kapitulieren, dann muss die Darstellung auf der Bühne ein Kampf mit dem Text gegen den Text sein. »Ich habe oft Proben bei Brecht besucht, und da fiel mir auf, dass Brecht anfing, seinen Text als etwas ganz Fremdes zu behandeln«, erläutert Müller 1985 in einem Interview.
Zusammen mit seinen erstklassigen Teams und den Schauspielern (er arbeitet u.a. mit Corinna Harfouch, Ulrich Mühe, Martin Wuttke, holt die Altmeister Bernhard Minetti und Erwin Geschonnek zum letzten Mal auf die Bühne) gelingt es Müller, das Monströse darstellbar zu machen. Kompromisslos – seine Inszenierung der am 24. März 1990 am Deutschen Theater uraufgeführten »Hamlet/Maschine« dauert acht Stunden – aber nachvollziehbar. Wo die Partei keinen positiven Zusammenhang mehr stiften kann, wo der Staat, der die Chance verspielte, das bessere Deutschland zu verkörpern, sich auflöst, wird das Theater zum Experimentierfeld, zum sozialen Laboratorium. Indem der Horror der Geschichte spielbar – also auch: begreifbar – wird, bleiben die Ideale der Revolution als Maßgaben dieser Anstrengung aufbewahrt. Freilich ohne Gewähr, denn der Lauf der Geschichte garantiert nicht mehr, wie für viele alte Sozialisten, ihre Verwirklichung.
Müllers Theater wird zu einem radikalen Theater, ohne Rückversicherung und Legitimation, dabei aber nicht beliebig und geschmäcklerisch. Die Interviews, die Stephan Suschke mit den Schauspielern, Bühnenbildnern oder Inspizienten geführt hat, zeugen von den zähen Bemühungen aller Beteiligten, dem Formlosen Form abzuringen. Müller ist als Regisseur nun mal Dilettant, aber ein produktiver. Sein Verhalten verwirrt die Schauspieler, sorgt für Reibereien und Zuspitzungen. »Müller zeichnete laufend Arrangements, in denen er versuchte, die Spannung im Text in Spannung im Raum zu übersetzen. Er sagte: Wir machen heute die und die Szene. Wie ist der Raum? Wo sollen die Leute stehen? Ich zeichnete Grundarrangements, er zeichnete in seinen Notizen immer diese Linien zwischen den Positionen, und damit fing das Gewirr an. Der Rest war einfach Vernichtung von Interpretation. Das war die Hauptarbeit«, so der Bühnenbildner Hans-Joachim Schlieker über die Proben zum »Auftrag«. Die Hauptarbeit besteht also darin, mit dem Gewirr klar zu kommen und dabei Agent der Subversion, Anwalt des Gewirrs zu bleiben. Darin liegt das Antiklassische Heiner Müllers, seine Aktualität.

BUCH
Stephan Suschke, »Müller macht Theater.
Zehn Inszenierungen und ein Epilog«,
ca. 280 Seiten, Hardcover, Großformat,
ca. 200 Abbildungen, 34 Euro
Verlag Theater der Zeit, Berlin 2003.

TERMINE
»Quartett« von Heiner Müller,
R: Nada Kokotovich, Theater Tiefrot, 23., 24.1., 20 Uhr.
»H2OdH«, Hörspiel von Paul Plamper, nach dem Text »Herakles 2 oder die Hydra« von Heiner Müller, 6.1., 23 Uhr 1Live, 12.1., 23:05 Uhr WDR 3.