Weskis Farewell

Fotografie und das Wirkliche: »Cruel and Tender« im Museum Ludwig ist das Abschiedsgeschenk von Kurator Thomas Weski.

Kerstin Stremmel über eine wirklich schöne Bescherung und ein paar ärgerliche Leerstellen

So stringent die Sammlungs- und Ausstellungspolitik des Museum Ludwig im Hinblick auf das 19. Jahrhundert ist, so heterogen war sie lange Zeit für das 20. Jahrhundert. Als Thomas Weski 2000 von Kasper König ans Haus berufen wurde, erhoffte sich die Fotowelt eine Profilierung durch den renommierten Kurator aus Hannover.

In den zwei Jahren am Museum Ludwig hat Weski, der letzten Sommer ans Haus der Kunst nach München gewechselt ist, William Eggleston als stilbildenden lakonischen Beobachter der Alltagswelt vorgestellt. Dafür muss ihm Köln genauso dankbar sein, wie angesichts der in die Ausstellung »Cruel and Tender« verpackten »Kleinen Geschichte der Fotografie« mit dokumentarischen Anspruch, für die Egglestons Bild eines kleinen Jungen in roter Jacke als Plakat und Katalogcover dient.

Gemeinsam mit der Londoner Co-Kuratorin Emma Dexter folgt Weski seinem Interesse für den »documentary style«, wie Walker Evans seine subjektive Sicht im dokumentarischen Zugriff auf die Welt nannte. Beste Prints der wichtigsten und in jedem Fotohandbuch genannten Vertreter dieser wirklichkeitsbeschreibenden Richtung sind in der umfangreichen Ausstellung zusammengetragen: von August Sanders Gesellschaftsportrait einer verlorenen Zeit über Renger-Patzschs Ruhrgebietslandschaften hin zu den Meistern der Erfassung des modernen Amerika.

Von Walker Evans sind die beeindruckenden Arbeiten zu sehen, die er im Auftrag der Farm Security Administration machte. Sie gingen über die bloße Dokumentation weit hinaus, doch die Art seiner Ästhetisierung respektierte stets das Dargestellte. Die Küchenwand im Hause der Fields, 1936 fotografiert, beweist Evans’ Sinn für sprechende Details, sie ist einfach, funktional und auf ein Minimum reduziert. Für dieses Obdach, für Kleidung, Nahrung und den Pachtzins bearbeiteten die share croppers ihr Stück Land. Floyd Burroughs, den Walker Evans mehrfach portraitiert hat, ist einer dieser Farmer. Er trägt eine Latzhose und ein schmutziges, kaputtes Hemd, seine Nase wirkt von der Sonne verbrannt, seine hellen Augen sind etwas zusammengekniffen. Mit großer Klarheit fängt Evans den erschöpften und besorgten Gesichtsausdruck eines hart arbeitenden Mannes ein. Anders als viele vorgeblich sozial engagierte Dokumentationen menschlichen Elends aus jüngerer Zeit gehört zu dem Bild der Name des Dargestellten, der sich seiner Identität versichern darf wie jeder portraitierte Prominente. Evans Bilder dokumentieren ein sozialkritisches Bewusstsein, das auf suggestive Inszenierungen verzichtet: Evans ästhetische Arbeit besteht im Erfassen und Bestehenlassen des Gesehenen.

Ähnlich beeindruckend ist das Panorama, das der aus der Schweiz stammende Robert Frank in seinem legendären Bildband »The Americans« vorlegte, klischeeszersetzende Bilder von unromantischer Schärfe. In Franks Tradition stehen auch die drei Fotokünstler, deren Arbeiten John Szarkowski 1967 im Museum of Modern Art unter dem Titel »New Documents« zusammen ausstellte: Diane Arbus, Garry Winogrand und Lee Friedlander, deren Bilder den amerikanischen Traum konsequent weiter dekonstruieren und die ebenfalls in »Cruel and Tender« gezeigt werden. Der Ausstellungstitel bezieht sich auf das Etikett »tender cruelty«, mit dem der amerikanische Kulturkritiker und Impresario Lincoln Kirstein in den 30er Jahren das Werk Evans’ versah: Es sei engagiert und distanziert-analytisch zugleich.

Tatsächlich kennzeichnet dieses Paradoxon viele Bilder der Ausstellung, die dem Besucher in seltener Fülle einen Überblick dieser »dokumentarischen« Richtung bietet, auch wenn dagegen – neben einem wirklich schlecht gedruckter Katalog – fehlende konzeptuelle Konsequenz ins Auge fällt. Um den Konflikt dokumentarischer Fotografie, die, auch noch wenn Manipulationen unterschiedlichster Art stattgefunden haben, stets als Spur des Wirklichen gilt, konsequent durchzudeklinieren, hätten weitere Positionen das Konzept ergänzen können.

Im »Museum unserer Wünsche«, das Kasper König im Hinblick auf eine Profilierung der Sammlung konzipiert hatte, war etwa Jeff Wall dabei, dessen Arbeit »Women and her doctor« in diesem Jahr angeschafft werden konnte. Wall vertritt eine der komplexen und realitätsbezogenen fotografischen Positionen des 20. Jahrhunderts, dass er in der Ausstellung nicht auftaucht, ist verwunderlich. Stattdessen sind dank der Co-Kuratorin von der Tate Modern einige Briten repräsentiert. Ob Martin Parrs grelle Bilder allerdings auf 102 x 157 Zentimeter aufgezogen und gerahmt werden müssen, bleibt fraglich, denn kleinformatig an die Wand gepinnt können die Motive als unprätentiöser Beleg für weitverbreitete Geschmacksverirrungen dienen.

Großbritannien ist allerdings das Land, in dem Richard Billingham seine eigene alkoholgezeichnete Familie festgehalten und Nick Waplington seinen leidenschaftlichen Blick auf zwei Familien aus der Arbeiterklasse gerichtet hat. Dass keiner von beiden vertreten ist, kann man als wirkliches Manko empfinden: Weit entfernt vom mitleidigen Duktus sozialer Reportage, sind ihre Bilder drastisch, distanzlos und bewahren dennoch Respekt vor den Portraitierten.

Die Frage bleibt natürlich, inwieweit sich diese Rezeption im Kunstkontext verändert, doch bei Waplington und Billingham scheint die Gefahr von Voyeurismus geringer als bei den ausgestellten Fotografien von Boris Mikhailov – über die Auswahl und Präsentation seiner Bilder muss gestritten werden. Von dem Mann aus Charkow gibt es viele herausragende Arbeiten, von seinen ironisch-kritischen »Red Series« über die berührende »Unfinished Dissertation« bis zu seinen schonungslosen Selbstportraits. Für Köln wurden die provokativsten Motive aus »Case History« in einer Größe von 230 x 127 cm ausgewählt, jene, in denen isolierte Obdachlose ihre geschundenen Leiber vor der Kamera entblößen. Damit wird das gezeigt, womit Mikhailov im Westen bekannt wurde, seine besten Arbeiten sind es sicher nicht.

Und ob in Köln, zumal zeitgleich zur großen Retrospektive im Düsseldorfer K 21, noch einmal die Becherschen Wassertürme gezeigt werden müssen? Was haben sie im Kontext eines zärtlich-grausamen Zugriffs auf die Welt zu suchen? Daido Moriyama mit seinem unerschrocken realistischen Blick hingegen hätte hervorragend ins Ausstellungskonzept gepasst, aber japanische Fotografie kommt bedauerlicherweise überhaupt nicht vor.

Mit »Cruel and Tender« verabschiedet sich Weski vom Museum Ludwig, auf die anstehende Neubesetzung seiner Stelle, über die bis Februar entschieden sein soll, darf man neugierig sein. Internationale Bewerber gastierten im Januar zu Gesprächen in Köln. Weskis sympathische, aber etwas eingeschränkte Vorliebe für bestimmte Verteter des documentary style ist eine gute Basis für ein Sammlungs- und Ausstellungs-
konzept, das Betrachter in Fotoliebhaber verwandeln kann. In diesem Sinne gibt es manches zu entdecken unter den mehr als 500 in »Cruel and Tender« gezeigten Abzügen.

Uneingeschränkt dankbar werden vermutlich alle sein, die in »Cruel and Tender« zum ersten Mal Rineke Dijkstras Fotografien von Frauen kurz nach der Entbindung und von Stierkämpfern nach ihrem Kampf sehen. Sie hängen gegenüber von Thomas Ruffs kleinen und großen Portraitfotografien, die in bewährter Glätte Oberfläche zelebrieren, und sind beeindruckender Beleg dafür, dass es so etwas wie Substanz gibt.

Daneben bleiben Nicholas Nixons großartige Familienbilder der Brown-Sisters sicher lange in Erinnerung, Fotografien von Menschen, die er liebt und deren Altern er über einen Zeitraum von mittlerweile 28 Jahren präzise beobachtet. Die Fülle hervorragender Bilder in umfangreichen Serien macht Lust auf mehr und kann hoffentlich dazu dienen, auch ein fotografieunerprobtes Publikum ins Museum zu ziehen.

Museum Ludwig, Bischofsgartenstr. 1, di, mi, sa, so 10-18, fr 11-18 Uhr, jeden 1. fr im Monat 11-23 Uhr; bis 18.2.

Rahmenprogramm
Hripsimé Visser im Gespräch mit
Rineke Dijkstra: Di., 3.2., 19 Uhr,
Kino im Museum Ludwig
(Vortragssaal), 1. OG
Boris Groys im Gespräch mit
Boris Mikhailov: Fr., 13.2., 19 Uhr,
Kino im Museum Ludwig
(Vortragssaal), 1. OG