Fremde und seltsame Realität

2003 war eines der erfolgreichsten Kinojahre für Dokumentarfilme. Über das Boomjahr und die Dokumentationen des sechsten »Stranger Than Fiction«-Festivals.

Stranger than fiction: Auf welches Werk würde diese Definition des Dokumentarfilms besser zutreffen als auf »Bowling for Columbine«? Während seiner Irrfahrt entlang der amerikanischen Waffenobsession konnte Michael Moore eine Reihe von Fakten auflesen, die wohl jedem Hollywood-Autor die Schamesröte ins Gesicht getrieben hätten. Vom Vierbeiner, der sein Herrchen erschoss, bis zur Sparkasse, die ihre Kunden bei Eröffnung eines Kontos mit einem Gewehr bedenkt, reichen die Absurditäten, denen man ihre Alltäglichkeit nicht glauben mag. Stranger than fiction, das trifft aber auch auf den zweiten Dokumentarfilm zu, der letztes Jahr in den Programmkinos für Furore sorgte – zumindest, wenn man das Wörtchen »strange« nicht mit seltsam, sondern mit fremdartig übersetzt. Nicolas Philiberts »Être et avoir« rekapituliert ein Grundschuljahr an einer unscheinbaren französischen Dorfschule und öffnet die Augen für etwas, das uns vom Dokumentarfilmgenre immer wieder neu zu entdecken aufgegeben wird: die Normalität.
Diese beiden von Grund auf verschiedenen Filme eint vermutlich allein der Glaube daran, dass das Leben die besseren Geschichten schreibt. Die Schlüsse, die ihre Autoren daraus ziehen, sind jedoch unterschiedlich: Während Philibert gänzlich hinter seinen Gegenstand zurücktritt, spielt Michael Moore einen Bühnenmagier, der in beständigem Wechsel surreale Situationen und haarsträubende Fakten aus seinem Hut hervorzaubert. Diese Spannweite des Dokumentarfilms ist derzeit, allen Doku-Soaps zum Trotz, seine größte Qualität. Wenn man schon nicht genau definieren kann, was das Genre ausmacht – die nachträgliche Inszenierung einer gegebenen Realität vielleicht, oder doch die Tatsache, dass der Kameramann den Film selbst in die Trommel legt? –, dann ist es Zeit, sich einfach auf die Vielfalt der Formen einzulassen.
»Stranger Than Fiction« heißt das kleine, aber feine Dokumentarfilmfestival, das im März zum sechsten Mal in Köln stattfindet. Die gut ein Dutzend gezeigten Arbeiten bilden ein beachtliches Spektrum, in dem auch eine der markantesten Positionen des Genres seinen Platz hat: das Werk des amerikanischen Strukturalisten James Benning. Mit einer 16mm Bolex-Kamera durchstreift der ehemalige Mathematiker die Welt und versucht, dem Kino seine kontemplative Natur zurückzugeben. Bennings kalifornische Trilogie (»El Valley Centro«, »Los« und »Sogobi«) besteht aus dreimal je 35 Einstellungen von zweieinhalb Minuten, statischen Bildern natürlicher und urbaner Landschaften, die nur von den vor Ort aufgenommen Originaltönen begleitet werden. Bei den Vorbereitungen für sein neuestes Projekt »13 Lakes« hat ihn der WDR-Redakteur Reinhard Wulf eine Woche lang begleitet und als Resultat seinen Film »James Benning: Circling the Image« mit zurückgebracht. Wulf zeigt Benning bei der Begutachtung möglicher Drehorte, führt seine akribischen Rituale des Kadrierens, der Suche nach dem perfekten Bildausschnitt vor und lässt uns nach und nach verstehen, dass es die Sehnsucht nach dem reinen, durch nichts abgelenkten Schauen ist, die Benning immer wieder die Einsamkeit der Bilder suchen lässt. Der deutsche Gast ist dabei so vornehm zurückhaltend wie sein Gastgeber verschwiegen.
Ein großes Pathos, wenngleich bezogen auf das Bewahren und Erinnern, zeichnet auch die Filme von Claude Lanzmann aus. Wenn er in »Sobibor« mit der
Kamera die Stätte des gleichnamigen Konzentrationslager abfährt, durch heute friedlich daliegende Parkanlagen schlendert und das weithin hörbare Gegackere von Gänsen aufnimmt, dann ist dies eine Geste der Beschwörung: In den Bildern der Gegenwart liegen die Spuren der Vergangenheit begraben. Lesbar werden sie in »Sobibor« durch die Erinnerungen Yehuda Lerners, der als 16-Jähriger in diese insgesamt 250.000 Opfer fordernde Hölle kam. Gemeinsam mit 19 weiteren Todgeweihten, zumeist russisch-jüdische Kriegsgefangene, entfachte er den einzigen erfolgreichen KZ-Aufstand, den es während des Zweiten Weltkriegs gegeben hat und rettete sein Leben. Ursprünglich wollte Lanzmann seine Interviews mit Lerner in das monumentale Werk »Shoah« eingehen lassen, doch er fand, dass die Ereignisse von Sobibor einen eigenen Film verdienten. Vielleicht erschien ihm Lerners Rettung damals auch zu märchenhaft: Nachdem er im allgemeinen Durcheinander der Rebellion entkommen konnte, floh Lerner in einen nahe gelegenen Wald, fiel zu Boden und schlief ein.
Während Benning und Lanzmann das Bekenntnis zur getragenen Erzählweise teilen, verbindet der nervöse Reportagestil zwei Arbeiten aus Amerika. Paul Devlins »Power Trip« wirkt wie eine soziale Versuchsanordnung, in der kapitalistisches Know-how auf die Beharrungskräfte des Sozialismus trifft: Der amerikanische Strommulti AES hat den staatlichen Energieversorger der Republik Georgien gekauft und scheitert daran, auf der geschäftlichen Ebene Fuß zu fassen. Jahre der Anarchie haben das Stromnetz zur tödlichen Falle werden lassen, 90 Prozent der Kunden bleiben ihre Zahlungen schuldig, und was an gutem Willen bei den gebeutelten Investoren übrig geblieben ist, droht von der Korruption verzehrt zu werden. Die tief sitzende
Depression der Bevölkerung lässt das von viel Idealismus getragene AES-Engagement wie eine Friedensmission erscheinen – mit allen Ressentiments, aber auch allen Hoffnungen, die eine ungebetene Aufbauhilfe begleiten. Irgendwann im Lauf des Films fällt der bezeichnende Satz eines Einheimischen: »AES ist Georgien, und wenn AES scheitert, ist auch Georgien gescheitert.«
»The Weather Underground« von Sam Green und Bill Siegel ist ein in Deutschland schon beinahe zur Gewohnheit gewordenes Format. Die beiden Filmemacher versammeln eine Reihe von ehemaligen 68ern, die sich und dem Publikum über ihre damalige Radikalisierung Rechenschaft ablegen. Verglichen mit den Terroristen der RAF wirken die nach einem Bob-Dylan-Song benannten Wettermänner und -frauen beinahe unschuldig – niemand wurde bei ihren Bombenanschlägen jemals verletzt. Der Film besteht zur Hälfte aus talking heads, seine stärksten Momente hat er in den zeithistorischen Aufnahmen: Die Bilder aus Vietnam sind in ihrer Unmittelbarkeit immer noch schockierend und so geschickt in die Handlung einmontiert, dass man den Funken der Gewalt gleichsam überspringen sieht. Leider bringen Green und Siegel wenig über die Gruppendynamik der Freiheitskämpfer in Erfahrung und behandeln auch ihre Desillusionierung nach Beendigung des Krieges nur kursorisch. Alles in allem ist »The Weather Underground« eher das Dokument eines in sich zerrissenen Amerika als ein Soziogramm des radikalen Untergrunds. Dass er für den Oscar nominiert ist, liegt wohl auch daran, dass sich die Zeiten ähneln.
An den Rändern des Genres bewegt sich Amie Siegle mit ihrem spielerischen Essayfilm »Empathy«. Der am leichtesten zu identifizierende Erzählstrang ihres mäandernden Werks setzt sich aus Gesprächen zusammen, die Siegle mit drei New Yorker Psychoanalytikern geführt hat; daneben gibt es inszenierte Sequenzen mit einer leicht neurotischen Frau im Mittelpunkt und eine Art in den Film integriertes »Making of«. Der rote Faden im Labyrinth ist die Frage des Voyeurismus: Warum macht sich jemand das Privatleben anderer Menschen zum Beruf, und warum sehen wir gerne zu, wenn er dazu interviewt wird? Eine abschließende Antwort bleibt Siegle schuldig, doch ihr eigentliches Anliegen ist ohnehin, die Natur des Dokumentarischen zu hinterfragen. Zweifelsohne ist der Psychoanalytiker im Ohrensessel für sie der Prototyp des Zuschauers und die therapeutische Sitzung in medialer Hinsicht eine intimere Variante der Doku-Soap. Eine bisschen kommt man sich nach »Empathy« vor, als hätte man den Dingen unters Kleid geschaut: Sollte die Neugier auf’s Reale vielleicht generell nicht so unschuldig sein, wie es die Gralshüter des Dokumentarfilms behaupten? Dennoch braucht deshalb niemand die Augen vor der Wirklichkeit verschließen. Es genügt schon, hin und wieder diskret beiseite zu sehen.

Info
Das Festival findet vom 18.3. bis 27.3. statt. Alle Termine im Tageskalender und unter www.koelner-filmhaus.de.