Der Weg zur eigenen Stimme

Tönende Phonografen, stumme Filme und frisierte Stimmen – Peter Scharf hat nachgehört, was Kurt Wagner und seine Band Lambchop mit der Geschichte der Stimm- und Tonaufnahmen zu tun haben

>?Am 18. Juli 1877 zieht Thomas Alva Edison einen mit Paraffin überzogenen Papierstreifen an einer Membran mit Nadelspitze vorbei. Dabei spricht er das Wort »Hello« laut gegen die Membran. Als er den Papierstreifen erneut an der Nadelspitze vorbeizieht, vernimmt er leise seine eigene Stimme: »Hello«. Dieser scheue Gruß gilt als das erste historisch verbürgte Wort, das konserviert worden ist, auch wenn die OriginalAufnahme heute nicht mehr existiert. Einige Monate später spricht Edison dann den Text von »Mary Had A Little Lamb« in den von ihm in der Zwischenzeit konstruierten Phonografen. Mit diesem alten Kinderlied beginnt offiziell die Geschichte der Tonaufzeichnung: Schallplatten, Kassetten, CDs, MP3s und Internet-Downloads von Stimme oder Musik gelten heute als Söhne, Enkel und Urenkel von Edisons epochaler Erfindung.
Was hat das jetzt mit einer Gruppe von 10 bis 15 Musikern aus Nashville zu tun, die sich seit gut einem Jahrzehnt um den 45-jährigen Hobby-Golfer, studierten Bildhauer und ehemaligen Holzbodenverleger Kurt Wagner scharen? Okay, ohne Edison keine neue Lambchop-CD bzw. gleich zwei neue Lambchop-CDs. Aber das ist natürlich nicht alles.
Edison hat mit seiner Erfindung nicht nur Wissenschafts- und Mediengeschichte geschrieben. Er hat auch eine bis dahin
einzigartige Erfahrung gemacht: Als erster Mensch hört er eine Aufnahme der eigenen Stimme. Wer schon mal einen Anrufbeantworter besprochen hat (wer hat das nicht?), weiß um das Befremden, das einen erfasst, wenn man sich zum ersten Mal auf diese Art und Weise selbst begegnet: Die
eigene Stimme – plötzlich klingt sie fremd und andersartig.
Auch Kurt Wagner hat diese Erfahrung gemacht. Zum ersten Mal Mitte der 80er Jahre, als er noch im Trio unter dem Namen Posterchild selbst vertriebene Cassetten mit so hübschen Titeln wie »I’m Fucking Your Daughter« aufgenommen hat. »Ich fand schon damals, dass meine Stimme auf den Tapes irgendwie seltsam klang, irgendwie viel zu hoch«, erzählt er im Interview.
Den eigenen Gesang hören zu müssen, möglicherweise nicht gerade professionell aufgenommen, ist ein entäußernder Akt, geradezu ein Eingriff in die Intimsphäre. Das Zurückschrecken vor dem eigenen Sound ist aber in erster Linie nicht psychisch, sondern physikalisch begründet. Normalerweise hören wir die eigene Stimme auf zwei
Arten: Zum einen durch den Luftschall zwischen Mund und Ohr. Zum anderen durch die Knochenschallleitung innerhalb des Kopfes. Denn auch die Schädelknochen leiten den Schall durch den Kopf zur Gehörschnecke. Erklingt unsere Stimme aus einem Aufnahmegerät, hören wir aber nur den Schall, der sich über die Luft ausbreitet. Zumeist kommt uns unsere Stimme dann höher vor als erwartet.
In der Regel gewöhnt man sich an diesen Umstand, lernt die »andere« Stimme zu akzeptieren. Kurt Wagner hat das bis heute nicht getan: »Ich habe immer
daran gearbeitet, meine Gesangsstimme an das anzupassen, was ich für meine natürliche Stimme halte. Für mich hat das nicht nur etwas mit Sound zu tun, sondern vor
allem auch mit Image und Identität.« Mit diesem Vorwissen ausgestattet, kann man die acht bis heute erschienenden Lambchop-Alben unter neuen Vorzeichen rezipieren: Als Suche eines Sängers nach seiner stimmlichen Identität.
Natürlich erzählen diese Platten auch davon, wie eine Band aus den Versatzstücken populärer Musik einen eigenen, unverkennbaren Stil entwickelt hat: Wie aus der Indie-Rock-Band eine Country-Band wird, die sich in eine Soul-Band verwandelt und deren Reichtum an unterschiedlichen Arrangements, Songideen und Instrumentierungen einen permanenten ästhetischen Mehrwert produzieren.
Doch man kann die Geschichte auch anders erzählen: Da ist Kurt Wagner, der sich in den Gesangsstil von klassischen Croonern wie George Jones verliebt hat und sich daher einen countryesken Begleit-Sound verpasst; der sich in einem an Curtis Mayfield geschulten Falsett-Gesang übt und sodann seiner Band den Soul-Anzug verpasst; der, wenn er mal schreien will, eine Portion gut abgehangenen Noise-Rock ordert. Was vor allem live nicht selten vorkommt.
Über ein Jahrzehnt hat sich so aus dem Nukleus von drei Musikern eine Band mit phasenweise mehr als 15 Mitgliedern entwickelt, die immer neue Klangfarben in ihr musikalisches Spektrum integrieren und deren kollektive Stärke es ist, sich in den Dienst von Wagners Stimme und seinen Songs zu stellen. Wie bestimmend Wagners sonorer Bariton für den Sound der Band ist, lässt sich auf den beiden neuen, zeitgleich veröffentlichten Alben »AWCMON« und »NOYOUCMON« perfekt nachhören. Auf keiner der Vorgängeralben ist Wagners Gesang derart voluminös und dicht. Man kann nicht sagen, dass man seine Stimme hört, sie kommt über
einen. Sie füllt den Raum und umschließt den Hörer, der in einen akustischen Cocoon versinkt. Einen solchen Sound erzeugt man nicht ohne studiotechnische Tricks: Jede Menge Hall? Endloses Echo? Gedoppelte, gedreifachte Aufnahmespuren? Was ist das Geheimnis, Herr Wagner? »Ganz einfach. Was man da hört, das bin nicht ich. Oder besser gesagt: Das bin nicht nur ich. Ich habe einen professionellen Bass-Sänger verpflichtet, der die Songs mitsingt. Und dann habe ich seine Stimme mit meiner gemischt. Mal mehr, mal weniger.«
Ein seltsamer Weg zu sich selbst: Mit Hilfe einer fremden Stimme findet Wagner die
eigene. Künstliches Authentizitätsgebaren ist ihm in diesem Zusammenhang komplett fremd. Falsche Eitelkeit? Fehlanzeige. Das gilt auch für den kuriosen Umstand, dass viele Songs des neuen Albums einfach ohne die Stimme des Lambchop-Chefs auskommen. Nun ja – auskommen müssen. Denn die so entstandenen Instrumentals gehören nicht unbedingt zu dem Besten, was die Band bisher gemacht hat. Mit dem Verschwinden des Sängers wirkt die Musik längst nicht mehr so klar und fragil arrangiert, sondern fast schon glatt und beliebig. Die prachtvollen Cinemascope-Bilder verblassen oder sehen auf einmal leicht vermatscht aus.
Dabei ist es das doch, was Lambchop mit diesen Instrumentals machen wollten: großes Kino. Schließlich ist die Band von den Machern des Film-Festivals in San Francisco beauftragt worden, eine Filmmusik zu schreiben. Und zwar für eine Live-Aufführung der restaurierten Fassung von »Sunrise«, einen 1927 entstandenen Klassiker des deutschen Regisseurs Friedrich Wilhelm Murnau. Ausschnitte dieser ansonsten nicht veröffentlichten Filmmusik sind nun in die neuen Alben eingegangen.
Lambchop trifft Murnau: Was für eine irrwitzige, gleichzeitig höchst beziehungsreiche Konstellation. Eine Band, bei der sich alles um die Stimme ihres Sängers dreht, schreibt Instrumentalmusik für einen Stummfilm. Für einen Stummfilm, der
eigentlich gar keiner mehr ist: Auch wenn in »Sunrise« noch nicht gesprochen wurde, so ist es doch der erste Langfilm mit einer eigenen Tonspur, auf der sich allerdings nur die originale Filmmusik befindet. So steht der Film mediengeschichtlich für eine Zäsur: Er signalisiert gleichzeitig das Ende des Stummfilms und den Beginn der Tonfilmära. Die Schauspieler, die von nun an die Leinwand beherrschen sollten, hatten ein Problem, mit dem sich Kurt Wagner bestens auskennt: Sie mussten erst ihre eigene Stimme entdecken.
Die Alben »AWCMON« und »NOYOUCMON« sind bereits bei Labels/Virgin im preisgünstigen Doppelpack erschienen.
Filmtipp: »Das Geheimnis der menschlichen Stimme«, Dokumentation von Peter Scharf und Andrew Davies, Arte, 22.4., 19 Uhr.

Lambchop spielen am 15.4. um 20 Uhr in der Kantine. Wir verlosen 5x2 Gästelistenplätze.
Mails bis zu 10.4. an verlosung@stadtrevue.de, Stichwort: »Stimmen hören«.