Juan und wie er die Welt sieht

Javier Salinas erfrischend andere Scheidungsgeschichte »Die Kinder der Massai«

Wann gilt man als hochbegabt? Ganz einfach, wenn man den entsprechenden Test bestanden hat. Juan ist in der Schule nur mittelmäßig, aber seine hochbegabte ältere Schwester Laura hat ihm verraten, wie man den Test ausfüllen muss. Seitdem könne er in aller Ruhe schlechte Noten schreiben, sagt Juan, »denn wenn ich schlechte Noten schreibe, denken alle, daß ich einfach zu intelligent bin. Was die Nachteile angeht: Ich schreibe eben schlechte Noten.«
Juan, der kindliche Ich-Erzähler, denkt viel nach. Zum Beispiel darüber, wie es wäre, wenn man den Körper auseinandernehmen könnte. Wenn man etwas nicht sehen oder hören möchte, nimmt man sich einfach die Augen oder Ohren ab. Vor kurzem hätte er das gerne einmal gekonnt, in der »Nacht der zerbrochenen Vasen« nämlich, als unmissverständlich klar wurde, dass sich die Wege der Eltern trennen.
Juan ist von der Welt der Erwachsenen irritiert. Um sie zu verstehen, sucht er auch bei der Schwester Rat, die auch ein guter Kumpel sein kann. Machmal sind ihre Erklärungen ein bisschen verworren philosophisch. Sie redet etwas von Bezugspersonen und Selbstvertrauen und sagt, »der Welt sei es egal, ob man an sie glaube oder nicht, sie sei in jedem Fall rund«. Juan versteht, dass er in mancher Hinsicht eben auf sich allein gestellt bleibt. Mama ist Redakteurin und schreibt, wie es Juan scheint, »sämtliche Fernsehnachrichten für alle Fernsehsender dieser Welt«, Papa ist als Straßenbauingenieur ständig in Afrika unterwegs.
Prekär wird die familiäre Situation für Juan, als die »sehr zarte und feinfühlige« Sportlehrerin Frau Matutes, »die nur aus Versehen vierundfünfzigmal pro Satz flucht«, ihn beim Spielen in die andere Gruppe steckt: In der einen Mannschaft spielen alle Kinder aus »intakten Familien«, in der zweiten alle, deren Eltern getrennt sind. In eben diese muss Juan nun wechseln, was bedeutet, alle zukünftigen Spiele zu verlieren, weil die zweite Mannschaft eben die Verlierergruppe ist. Dass dieses fiese kleine Modell einer Gewinner- und Verlierergesellschaft nicht alternativlos ist, wird für Juan schließlich zumindest vorstellbar.
Salinas Roman ist alles andere als eine Zeigefinger-Geschichte vom harten Los des Scheidungskindes in einer Welt der zerfallenden Werte. Der in Köln und Madrid lebende 31-jährige Autor verleiht seinem jungen Helden eine so frische Sprache, dass es ihm und auch der Übersetzerin fast traumwandlerisch gelingt, die schwierige Balance zwischen kindlicher Naivität, literarischem Niveau und griffiger Ironie zu meistern.
Und der Titel? Über »die Kinder der Massai« hat Juan von seinem Vater erfahren, dass sie alle ihren biologischen Vater nicht kennen – und somit auch keinen verlieren können. Die Massai sind automatisch Kinder von allen, Kinder des ganzen Dorfes. Eine interessante Alternative zur hiesigen Familienkonstruktion, zumal wenn diese zerbricht.

Javier Salinas: Die Kinder der Massai. Aus dem Spanischen von Stephanie von Harrach, Ammann Verlag, Zürich 2004, 136 S., 15,90 €.
Lesung: 1.4. um 20 Uhr im Anderen Buchladen, Weyertal 32 (dt. Text: Oliver Matthiae, Moderation: Alexander Dobler)