Die Avantgarde wird Pop

Wenn Kritiker bei einem Spielfilm von »Clipästhetik« sprechen, meinen sie meist nichts anderes als eine Beschleunigung der Bilder, doch das Verhältnis von Musikvideo und Langfilm ist weitaus komplexer.

Eines der erstaunlichsten Phänome im zeitgenössischen Kino ist der Umstand, dass selbst schwierige popkulturelle Strategien und Referenzen heute offenbar von einem breiten Publikum verstanden werden können wenn auch vielfach ohne Kenntnis der tieferen historischen, sozialen und ästhetischen Implikationen. Vor einigen Jahren noch wären Filme, in denen kauzige Schallplattenverkäufer Mädchen mit selbst aufgenommenen Audiokassetten zu beeindrucken versuchen, wohl nicht gerade als breitenwirksam angesehen worden. Das komplexe und verschlüsselte System von Referenzen, das »High Fidelity« (Stephen Frears), »Being John Malkovich« (Spike Jonze), »Jackie Brown« (Quentin Tarantino) oder »The Virgin Suicides« (Sofia Coppola) entwerfen, hätte ein popdiskursiv nicht gut konditioniertes Publikum wahrscheinlich hochgradig verstört.
Popkultur macht keine Angst mehr, nicht dazu zu gehören. Das freilich ist nicht das Ergebnis von erledigten Hausaufgaben im Fach Jugendkultur, sondern erst einmal der erfolgreichen Adaption von Popkultur selbst im Bereich der Markenartikel. Über Popkultur zu verfügen als ein Wissen vom gewissen Unterschied gehört heute zum kleinen Einmaleins der Hauptzielgruppe des Kinos, den Unterdreißigjährigen. Daher ist es ein echtes Kunststück geworden, der Popkultur nicht doch irgendwie anzugehören selbst dann, wenn man kein Freak ist.

Popmusik im Kino

Die neue Präsenz der Popkultur im Kino eröffnet ungeahnte Abspielmöglichkeiten für Musik. Das kann man an den mit Pop-Retro aufgepeppten Soundtracks feststellen, mit denen die Filmindustrie in letzter Zeit die Zweitauswertungen in Gang brachte. Die meisten großen Verleiher und Musiklabels sind in den gleichen Händen. Es wäre allerdings zu kurz gegriffen, die neue Bedeutung des Soundtracks nur auf einen sinnvollen Marketingansatz zu reduzieren. Offenbar werden heute einigermaßen artifizielle Erzählstrukturen im Kino viel besser verstanden als früher. Das pop-afine Publikum hat durch das Musikvideo gelernt, zum Teil recht komplexe Abläufe und Bildkompositionen allein durch den Zusammenhalt, den die Musik schafft, aufzunehmen. Die hoch gelobte, relativ dialogarme und elliptische Struktur von Paul Thomas Andersons »Magnolia« wird vor allem über den Einsatz der Songs von Aimee Mann und den eigens komponierten Score ausgefüllt, ohne die der Film vollkommen auseinander fiele. Da macht die Musik das Bild. In Deutschland hat XFilme diese Strategie virtuos mit den beiden letzten Tom-Tykwer-Filmen praktiziert. Auch Filme wie Lars von Triers »Dancer in the Dark« oder zuletzt Cameron Crowes »Almost Famous« erschließen für Soundtracks ganz eigene Möglichkeiten. Daraus entstehen Erzählungen, die wie im Fall »Magnolia« etwas voreilig als experimentell angesehen wurden.

Wechselseitiger Einfluss: Kino und Clip

An diesem Punkt werden auch die Musikvideoregisseure für das Erzählkino interessant, denen man bisher mehr als fünf Minuten nachvollziehbaren Plot nicht zugetraut hätte; andere wie David Fincher oder Jean-Pierre Jeunet arbeiten schon länger im Spielfilmbereich mit Erfolg. Im Zuge der breiten Affinität für Popkultur in den letzten Jahren haben sich fast alle Regisseure, die seit Mitte der 90er Jahre die Ästhetik des Musikvideos international maßgeblich bestimmt haben Spike Jonze, Hype Williams, Jonas Akerlund, Chris Cunningham, Mike Mills, Roman Coppola, Michel Gondry , mehr oder weniger erfolgreich um ihre ersten Langfilme bemüht (von den kurzen ganz zu schweigen). Im Musikfernsehen gab es auf einmal weniger grandiose Clips zu sehen, und im Kino hat man sich gewundert, dass die Leute mitspielten und sich von Spike Jonze in John Malkovichs Kopf versetzen ließen. Michel Gondry hat sich dann von Jonze gleich den Drehbuchautor Charlie Kaufman, der sich eine solch unfassbare Sache hatte einfallen lassen, für seinen ersten Langfilm »Human Nature« ausgeliehen, der im Mai in Cannes Premiere hatte.
Diese Entwicklung lässt sich mit einem relativ überschaubaren Personenkreis und kleinen Produktionsfirmen in Verbindung bringen: Partizan (Paris/London), die Gondry vertreten, The Directors Bureau (Los Angeles/London), zu denen Mills, Roman Coppola und im weiteren Umfeld auch die jüngst in den Ehestand getretenen Sofia Coppola und Spike Jonze gehören, sowie Oil Factory (Los Angeles/London), bei der einige Zeit auch Doug Aitken und Jonas Akerlund gearbeitet haben. So ist eine Gruppensituation entstanden, in der man die gleiche Musik hört (für die man zuvor die Musikvideos gemacht hat) und gemeinsam Projekte entwickelt.
Keineswegs aber sieht jetzt im Kino alles so aus wie sich Leute, die wahrscheinlich noch nicht einmal den Sendeplatz von Musikfernsehen finden, aktuelle Musikvideos vorstellen. Der entnervte Filmkritiker, der das Wort von der »Clipästhetik« im Mund führt, meint in der Regel kulturkritisch etwas verstanden zu haben von der Beschleunigung der Bilder. Bei genauer Durchsicht jedoch erscheinen die genannten wegweisenden Filme und die Musikvideos selbst alles andere als schnell oder »clipartig«. Im Gegenteil, man wundert sich, dass in den letzten Jahren eine derart ungeheuerliche Verlangsamung im Kino stattfinden konnte. In »Jackie Brown« oder »High Fidelity« diskutieren die Leute minutenlang über Schallplatten; Daft Punks Musikvideo »Fresh« besteht aus einer einzigen, felliniesk langen Kamerafahrt am Strand; und in Jonathan Glazers »A Song for the Lovers«, in dem Richard Ashcroft in einem fast dunklen Zimmer sitzt, passiert eigentlich gar nichts mehr selbst die Musik setzt teilweise aus. Sie rückt in den Hintergrund.
Einige der herausragenden Musikvideos der letzten zwei Jahre wurden zur Lichtspielszene einer Begleitmusik. Bei Daft Punk oder Ashcroft zitiert das Musikvideo sogar bestimmte Strategien des großen Erzählkinos: den ausschweifenden Blick, die Inszenierung des Raums auf der Leinwand. Cunningham in »Come to Daddy« oder »Windowlicker« (Aphex Twin) oder <0x8f>kerlund in »Smack My Bitch Up« (Prodigy) entwickeln Schockeffekte des Horrorkinos weiter, Michel Klöfkorn und Oliver Husain mit der Einzelbildschaltung von Garagentoren in »Star Escalator« (Sensorama) Mittel des strukturellen Films, Deborah Schamoni und Ulli Lindenmann in »Weil wir einverstanden sind« (Die Goldenen Zitronen) die Ästhetik der Assemblage und Jonze in »Praise You« dokumentarische Formen oder in »Weapon of Choice« Techniken der chinesischen Schwertkampffilme (beide Fatboy Slim). Das Musikvideo hat es erreicht, dass man Kino heute anders sieht, weniger kritisch vielleicht, aber komplexer, eklektischer.

Adaption der Avantgarde

Statt von einer groß angelegten Epidemie des »Clips« und der Beschleunigung im Kino zu sprechen, müsste die Kritik also eher aufzeigen, wie das Musikvideo, das zahlreiche Mittel des Avantgardekinos in sich aufgesogen hat, dazu beiträgt, auf der Leinwand andere Geschichten durchzusetzen. In den vielen Genres und Formen des Musikvideos ist das Bewusstsein eines anderen Kinos aufgehoben. Keineswegs zufällig stammen einige der frühesten und bedeutendsten Musikvideos von Regisseuren des Undergrounds, etwa von Derek Jarman, John Maybury, Robert Frank, Zbigniew Rybczynski (heute Professor an der Kunsthochschule für Medien in Köln), James Herbert oder Jem Cohen. Die Beschleunigung und die Zerlegung der Bilder im Film hat die Avantgarde erfunden, nicht das Musikvideo. Das Musikvideo dagegen hat die Avantgarde interpretiert und adaptiert und vielleicht auch ausverkauft. Aber man ist schon ganz glücklich, wenn einem auf einem Filmfestival Menschen begegnen, die von einem großartigen Experimentalfilm schwärmen, der sich dann als ein Musikvideo herausstellt.

Der Autor ist Leiter der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen, die seit 1999 den weltweit ersten Festivalpreis für Musikvideos (»MuVi«) vergeben.
Das Musikfilm-Festival »Sound on Screen« zeigt am 11.8. die elf für den »MuVi 2001« nominierten deutschen Musikvideos und am 9.8. Werke von Spike Jonze, Chris Cunningham und Mike Mills. Komplettes Programmheft auf S. 67.
Das diesjährige Open-Air-Programm des Filmhaus Kinos mit dem Titel »The Sky Is High and so Am I« vom 28.7-18.8. hat ebenfalls den Schwerpunkt Musikfilme, gezeigt werden u.a. als Previews »Elvis That\\\\\\\\\\\\\\\'s the Way It Is« und »Der Traum ist aus die Erben der Scherben«. Komplettes Programm siehe S. 79.