Tomatensuppe ohne Tomaten

Angela Merkels Widerstand gegen eine

EU-Mitgliedschaft der Türkei hat auch in Köln die

meisten Türken geärgert – aber die Meinungen

über Chancen und Probleme gehen weit auseinander.

Ein Stimmungsbild von Murad Bayraktar

Yasemin Mutlu, 29, hat ihre Tochter zum Kindergarten gebracht und will heute zu Hause die Gardinen waschen. Nebenbei läuft der Fernseher. Auch wenn die türkischstämmige Familie Mutlu sämtliche türkischen TV-Sender empfangen kann, schaut Yasemin sich viel lieber die Gerichtsshows im deutschen Fernsehen an. Die junge Mutter, die selbst in Deutschland geboren ist, interessiert sich kaum für den Alltag in der Türkei – geschweige denn für die türkische Politik. Aber über den Streit um die Nachfolge von Bundespräsident Johannes Rau oder die Reformen der Bundesregierung will sie informiert sein und schaltet deswegen zwischendurch auch mal zu den Nachrichten.

»Die CDU-Vorsitzende Merkel stieß heute bei einem Besuch in Ankara mit ihren Vorstellungen auf deutliche Ablehnung. Sie schlug eine so genannte privilegierte Partnerschaft statt einer Vollmitgliedschaft vor. Ministerpräsident Erdo<breve>gan nannte dies außerhalb jeder Diskussion«, sagt die Sprecherin. »Bu kadar da olmaz ki«, sagt Yasemin empört – »So weit darf man doch nicht gehen«. Auch wenn sie die Türkei praktisch nur als Urlaubsland kennt und das, was sonst in Ankara passiert sie nicht sonderlich interessiert, ein Thema geht nie an ihr vorbei: Die angestrebte EU-Mitgliedschaft der Türkei. Yasemin Mutlu wünscht sich, dass das Land am Bosporus – ihre »zweite Heimat« – endlich in die Union aufgenommen wird.

Das Wort »endlich« taucht immer wieder auf, wenn man mit Türken über die EU spricht. Knapp 45 Jahre geht die Türkei schon den Weg Richtung Europa. Ein Weg, den die meisten Türken nach einem Volkslied als »langen, schmalen Pfad« bezeichnen. Die Beziehungen zwischen der Türkei und der Europäischen Union begannen 1959 mit der Bewerbung Ankaras um die Vollmitgliedschaft in der EWG (Europäische Wirtschaftsgemeinschaft). Die Aufnahme folgte im Jahr 1964, anschließend wurde ein Assoziationsabkommen unterschrieben. Eine Zollunion wurde 1996 beschlossen. Dann, »endlich«, wurde die Türkei 1997 auf dem EU-Gipfel in Luxemburg zwar zum Beitrittskandidaten ernannt, Ankara aber regte sich auf: Während mehrere ost- und mitteleuropäische Staaten zu Verhandlungen eingeladen wurden, durfte die Türkei immer noch an der Tür warten.

Ibrahim Polat, 60, ist Pförtner bei der Stadt Köln. Im Moment hat er aber Urlaub, sitzt im Teehaus und spielt Karten mit seinen Freunden. »Schröder hat Merkel gezeigt, wie man sich gegenüber der Türkei verhalten sollte«, sagt Polat. Bundeskanzler Schröder besuchte Ankara eine Woche nach Angela Merkel und signalisierte der türkischen Regierung Unterstützung für die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen. Polat erinnert sich an seine Jugend: »Als ich damals nach Deutschland gekommen bin, wollten schon alle in die Union. Damals gab es noch den Ostblock. Jetzt haben die uns überholt und sind schon aufgenommen, aber wir werden immer noch abgewiesen.« Er schiebt seine Brille etwas herunter, schaut sich seine Karten genauer an und wirft eine auf den Tisch. »Eigentlich hat die Türkei sehr gute Karten, und die wird sie nach und nach ausspielen. Die in Brüssel wissen doch gar nicht, was sie verpassen, wenn sie noch weiter so mit den Türken herumspielen«, sagt er und gewinnt die Runde.

Merkels Vorstellung einer »privilegierten Partnerschaft« hat die meisten Türken aufgeregt. Artin Danal?, 62, ist der Meinung, dass dieses Angebot der Christdemokratin ein großer Fehler war. »Alles oder nichts«, sagt der Besitzer eines Export-Import-Ladens in der Weidengasse. Er will zwar, dass der Türkei eine Vollmitgliedschaft zugesprochen wird, glaubt aber nicht mehr daran. Brüssel würde Ankara seit Jahren »veräppeln«, und wenn das alles so weiter gehe, kehre die Türkei dann auch der EU den Rücken.

Yalç?n Ceco kommt aus der östlichsten Provinz der Türkei – aus Kars. »Zehn Jahre wird es noch dauern, bis die Türkei in die EU aufgenommen wird«, schätzt er. Wenn es dann klappt, ist Kars die östlichste Grenze der Union. Seit sieben Jahren lebt Ceco in Deutschland. Er ist sich sicher: Früher oder später wird es dazu kommen. Die geografische Frage sei überhaupt nicht von Relevanz, die Türkei gehöre kulturell zu Europa. Die
Union sei kein »christlicher Club« und solle deshalb sogar stolz sein, ein Land aufzunehmen, dessen Bürger zum größten Teil Moslems sind. »Wir« – damit meint er die Türkei – »brauchen die EU nicht, die EU braucht uns!«

Zeynep Lal ist 30 und verkauft Brautkleider. Die Deutsche türkischer Herkunft ist hier geboren und aufgewachsen. Mit ihren Freundinnen diskutiert sie über Gerhard Schröder und regt sich über die Reformen auf: »Der bekommt meine Stimme nicht mehr«, sagt sie. Die wirtschaftliche Lage macht ihr am meisten Sorgen. »Aber viel schlimmer ist es in der Türkei. Fahren Sie doch mal runter, dann werden Sie schon sehen, warum das Land niemals in die EU kommen wird.« Niemals? »Na gut, so in zehn oder zwanzig Jahren vielleicht«, antwortet sie und fügt hinzu: »Die Türkei ist sehr zurückgeblieben«. Auch Meral Göks¸en, 38, ist nicht grade optimistisch: »Das wird sowieso nicht passieren, dass die Türkei EU-Mitglied wird.« Wenn aber doch, dann würde die Türkei davon profitieren, ganz gewiss nicht Deutschland, so Göksen. Sie ist sich sicher, dass dann »jeder, der nur das Geld für das Ticket zusammenbekommt, in den Flieger steigt und nach Deutschland kommt.« Diese Euphorie für Deutschland sei besonders in den armen Regionen von Anatolien noch nicht erloschen. Es sei also gar nicht im Interesse der Union, die Türkei als Vollmitglied aufzunehmen.

Ganz anderer Meinung ist da der Juwelier Erkan Demir, 32. Die Europäer würden enorm davon profitieren, wenn sie der Türkei »endlich die Arme öffnen« würden. »Denn dann wird der reale Laizismus, der in Europa herrscht, auch in der Türkei übernommen. Fundamentalistische Bewegungen hätten dann keine Chance mehr.« Eine ganze Reihe von Reformen habe das Land ja schon hinter sich gebracht, und eine Mitgliedschaft in der Union würde dann auch gesellschaftliche Veränderungen anstoßen. »Wenn die Türkei abgestoßen wird, verlieren nicht die Türken, dann verliert die EU«, sagt er stolz. Stolz ist er auch, dass er Schröder gewählt hat. Der habe bei seiner Reise nach Ankara bewiesen, dass er nicht so bösartig wie Angela Merkel sei, sondern aufrichtig und vertrauenswürdig. Er glaubt, dass Deutschland die Mitgliedschaft der Türkei weiterhin unterstützen wird.

Der Besuch von Kanzler Schröder hat den meisten Türken in Deutschland Hoffnung gemacht. Die Kölner SPD-Abgeordnete Lale Akgün, die in der Delegation von Schröder war, ist der Meinung, dass die Diskussion auch eine große psychologische Bedeutung für die Türken hierzulande hat. »Sollte die Türkei am Ende dieses Jahres kein Datum genannt bekommen, wäre das für die in Deutschland und Europa lebenden Türken wieder ein Zeichen von Ausgrenzung und Nichtgewolltsein«, sagt sie.

Ümit Kurnaz, 15, sitzt vor einem PC im Internetcafé und chattet, halb deutsch, halb türkisch. Das Thema »EU und die Türkei« habe schon ein paarmal in der Schule auf der Tagesordnung gestanden. Aber was genau Ankara machen muss, um in die EU zu kommen, davon hat er »keine Ahnung«. Trotzdem will er, dass die Türkei es »endlich schafft«.

Ob es die Türkei schafft oder nicht, darüber wird auch in den religiösen Gemeinden der Türken gesprochen. Die größte in Köln ist die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion (DITIB), die ihren zentralen Sitz für Deutschland in Köln-Ehrenfeld hat. Generalsekretär Mehmet Yildirim glaubt, dass die Türkische Republik seit ihrer Gründung schon zu Europa gehört: »Die Türkei wollte schon immer mit dem Westen zusammenkommen, ohne dabei eigene kulturelle und religiöse Werte aufgeben zu müssen.« Die Türkei habe es nach fast 45 Jahren nun endlich verdient, auch offiziell zu Europa zu gehören. Ein kulturell vollendetes Europa müsse auch ein vorbildliches muslimisches Land in seine Grenzen aufnehmen.

Seit 37 Jahren lebt Müjgan Aygün, 64, schon in Deutschland. Eines der ersten türkischen Restaurants überhaupt hat sie damals mit ihrem Mann in Köln eröffnet. Jetzt haben sie das Geschäft aufgegeben und spielen mit dem Gedanken, vielleicht auch einmal in die Türkei zurückzukehren. Für Aygün ist klar: »Stellen Sie sich eine Tomatensuppe ohne Tomaten vor. So ist das auch mit der EU. Ohne die Türkei ist die EU nicht komplett«. Die Menschen seien doch schon viel weiter als die Politiker: »Ich lebe in Europa und bin Europäerin.«