Mentale Osterweiterung

Polnische Alltagskultur – in Köln? Pünktlich zum EU-Beitritt Polens hat Thomas Goebel tief im Westen nach dem Osten gesucht

Köln, sagen die Kölner gerne, sei die mediterranste Stadt Deutschlands. Konrad Adenauers geografischer Lagebericht – »östlich vom Rhein beginnt die sibirische Steppe« – bestimmt Blickrichtung und Lebensgefühl. Ab 1. Mai liegt Köln noch etwas tiefer im Westen Europas – rein rechnerisch zumindest, denn im Osten der Europäischen Union kommen neue Länder dazu: Polen, Tschechien, die Slowakei, Slowenien, Ungarn, die baltischen Staaten. Grund genug also für den Versuch einer mentalen Osterweiterung. Polnische Kultur zum Beispiel, polnisches Alltagsleben – gibt es das bisher in Köln überhaupt?

Polen in der Nachbarschaft

Nehmen wir Gremberg. Das kleinbürgerliche Viertel auf der Schäl Sick ist einer der unbekanntesten Kölner Stadtteile. Eingeklemmt liegt er zwischen mehrspurigen Autobahn-Zubringern. In Gremberg hat Aniela Wintoniak-Narzynski ihr Geschäft, »Beim Schlesier« heißt es, ein kleiner, schmaler Laden, gleich neben »Kfz-Teile Stephan« und dem Billig-Supermarkt. Hauptattraktion ist die große Wursttheke: Krakauer in allen Variationen, Schinken, Grützwurst, Kabanossi. Was immer die polnische Küche an Wurstspezialitäten hervorgebracht hat – die Chance ist groß, es hier zu finden. In der Kühltruhe lagern Pierogi mit Sauerkraut oder Fleisch, im Regal stehen Bigos und Kohlrouladen in Dosen, polnische Fertigsuppen, Süßigkeiten, Bier und vier verschiedene polnische Vodka-Sorten. Daneben liegen die »Gala« auf Polnisch, einige Frauen- und TV-Zeitschriften, und »Infos&Tips«, eine Wochenzeitung für Polen in Deutschland, herausgegeben in Frankfurt am Main.
»Klein, aber fein« sei ihr Geschäft, sagt Wintoniak-Narzynski. »Man kann es betrachten als Laden für polnische Spezialitäten – aber außerdem ist es ein kleines Kultur- und Kommunikationszentrum«. Polen aus der Nachbarschaft kommen vorbei, um einen Kaffee zu trinken und ein bisschen zu reden. Um zu erzählen, dass sich demnächst eine praktische Ärztin aus Polen in Gremberg niederlassen will. Um einen Zettel ans Schwarze Brett neben der Wursttheke zu hängen und nebenbei einen Euro in die Sammelbüchse des Katholischen Zentrums für behinderte Kinder in Lubaczow zu werfen.

Kinder Europas

Etwa 9.000 Polen leben in Köln und Umgebung, schätzt Pater Edmund Druz von der Gesellschaft Christi für Emigrantenseelsorge. Er ist Leiter der Polnischen Katholischen Mission in Köln-Kalk. »Wir machen das Gleiche wie andere Gemeinden auch – nur auf polnisch«, sagt er: Seniorenkreis, Religionsunterricht, Kirchenchor, Messe. Er glaubt nicht, dass sich durch den EU-Beitritt Polens hier viel ändern wird. »Vielleicht kommen etwas mehr Leute aus Polen – das bedeutet für uns dann mehr Arbeit.« Vier Gottesdienste gibt es jetzt schon an einem normalen Sonntag, morgens um neun geht es los in St. Severin in der Südstadt und endet um 18 Uhr in der Klarissenkirche in Kalk mit einer Messe für Jugendliche – »mit einer Band«, erklärt der Pater, und immerhin etwa 25 Besuchern.
Das »Ocean Drive« ist eine Bar im Cinedom, in der auch Partys stattfinden. Manchmal, in unregelmäßigen Abständen, sind es polnische Partys. Außerhalb der Community sind sie kaum bekannt. Der Trend der Polen- oder Russenpartys hat es nicht bis Köln geschafft – während in Berlin ironische Selbstinszenierungen (»Russendisko«, »Club der polnischen Versager«) einen regelrechten Kultur- und Party-Boom auslösten, gibt es in Köln kaum Verbindungen zur Clubszene.
»Ich mag diese Polendiskos nicht besonders«, sagt Agnieszka Stoklosa. Sie ist 24 Jahre alt, studiert in Düsseldorf Englisch und Medienwissenschaften. »Unter manchen polnischen Jugendlichen gibt’s so eine Tendenz, dass man lieber unter sich bleiben will.« Agnieszka war sechs, als sie mit ihren Eltern nach Deutschland kam, der Vater hatte eine Stelle bei einer polnischen Firma in Düsseldorf angenommen.
»Ich bin ein Europa-Kind«, sagt sie. Zum Unter-sich-Bleiben hat sie keine Lust – auf mehr polnische Kultur schon. »Dass zum Beispiel mal Bands aus Polen hierher kommen, ist sehr selten«. Agnieszka ist in Köln auf die polnische Schule gegangen, »das haben zuerst natürlich meine Eltern entschieden«, sagt sie, »aber später wollte ich auch selbst meinen Hintergrund kennen lernen.« Neben dem Studium arbeitet sie beim Kölner WDR-Programm Funkhaus Europa, selbst dort, ist ihr aufgefallen, gibt es kaum polnische Journalisten. Hier im Westen herrsche Distanz zu Osteuropa, auch ihre Freunde wüssten zum Teil einfach wenig. »Wenn ich erzähle, dass ich für ein paar Wochen nach Polen an den Strand fahre, kommt schon mal als Antwort: Wie, so was gibt’s da?«

Verschweigen der Herkunft

Durch den EU-Beitritt, hofft Agnieszka, könnte sich aber einiges ändern – »für mich als polnische Bürgerin ist das sehr interessant«. Bisher, zum Beispiel, war eine Reise nach England ein großer formaler Akt – »am Flughafen musste ich immer in die Schlange für böse Ausländer«. Durch erleichterte Bedingungen könnten auch mehr Polen hierher kommen und wenigsten ein bisschen polnische Kultur mitbringen. »Es gibt in Köln und Düsseldorf zum Beispiel kein polnisches Restaurant – ich hab’ schon mit meiner Mutter überlegt, selbst eins aufzumachen«, sagt Agnieszka. »Beim Essen bin noch sehr polnisch.«
Wenn im osteuropäischen Kulturzentrum Ignis »Polnischer Abend« ist, sorgt Aniela Wintoniak-Narzynski aus dem Gremberger Spezialitäten-Geschäft auch hier für das Essen. Liliana Andrzejewski hat das Zentrum vor 20 Jahren gegründet, als Ort für osteuropäische Kunst, Literatur, Musik – und als Ort, an dem Kölner osteuropäischer Kultur begegnen können. Im letzten Dezember sah es so aus, als müsste Andrzejewski pünktlich zu Jubiläum und EU-Osterweiterung die Räume in der Riehler Art-Déco-Villa schließen: Zuschüsse waren gestrichen worden, das Geld reichte nicht mehr. Nun geht es erst mal doch weiter – nach einem Umbau mit weniger Räumen.
Der »Polnische Abend« im Ignis ist eine neue Idee Andrzejewskis – erst seit März gibt es ihn, immer freitags ab sieben. Rund fünfzig Menschen sitzen um die Tische und trinken Tyskie, ein polnisches Bier. »Das werden wir auch in Köln populär machen«, sagt Andrzejewski.
Wojciech Jakubowski ist auch ins Ignis gekommen. Er ist Konsul der Republik Polen im Kölner Generalkonsulat. Durch die Osterweiterung werde polnisches Leben auch in Köln sichtbarer, glaubt er. »Es werden mehr Menschen aus Polen kommen – es gibt Nischen, wo polnische Fachleute sehr gefragt sind. Ich kenne eine Firma, die rekrutiert jetzt schon polnische Ärzte für deutsche Kliniken, vor allem in ländlichen Gebieten«. In der Vergangenheit sei es für viele Polen beschämend gewesen, über ihre Herkunft zu reden – wegen Vorurteilen, wie sie die so genannten Ruhrpolen erlebt haben, die als Arbeitskräfte Ende des 19. Jahrhunderts nach Deutschland kamen. »Aber jetzt ist ganz sicher die Zeit gekommen, dass meine Landsleute ihre Herkunft nicht mehr verschweigen.«

Polen im Kölner Dom

Im Bewusstsein der Westdeutschen, sagt Jakubowski, spiele Osteuropa kaum eine Rolle. »Wenn die Deutschen nach Westen schauen, sehen sie Frankreich, wenn sie nach Osten schauen, oft nur Moskau – und dazwischen wenig«. Gerade deshalb hat Jakubowski Spaß daran, ahnungslose Zuhörer mit Geschichten zu verblüffen, in denen sich Polen und Köln plötzlich berühren. »Wussten Sie eigentlich, dass die erste polnische Königin im Kölner Dom begraben ist?«, fragt er nebenbei und erzählt beim nächsten Tyskie in ein paar Sätzen die Geschichte von Richeza, der Gattin des ersten polnischen Königs Mieszko II., und wie ihr Leichnam schließlich in den Kölner Dom gelangte.
Dann singt Jolanta Lis für das Publikum im Ignis, eine polnische Sängerin, die in Köln und auf Mallorca lebt. Gewöhnlich tritt sie auf Kreuzfahrtschiffen auf, sie hat ein Programm internationaler Hits von Cher bis Whitney Houston mitgebracht, in ihrer Moderation wechselt sie zwischen Polnisch und Deutsch hin und her. Mit der Musikauswahl sind nicht alle zufrieden. »Sing doch mal was Polnisches!«, ruft eine Frau aus dem Publikum – auf Deutsch.

INFO
IGNIS e.V. Europäisches Kulturzentrum
Elsa-Brändström-Str. 6, 50668 Köln
Tel. 0221/72 51 05, www.ignis.org

7.5. bis 4.7.
Ausstellung: C O I N C I D E N C E I/2004 mit Marta Tomczyk (Polen), Graphik, Malerei, und Josef Snobl, (Deutschland/Tschechien), Fotografie, freitags 19-20 Uhr, sonntags 15-18 Uhr, und nach telefonischer Vereinbarung. Eintritt frei. 7.5., 20 Uhr: Vernissage.

14.5., 20 Uhr
Lange Nacht der polnischen Literatur mit Katarzyna Grochola und Antoni Libera, außerdem Prosa von Witold Gombrowicz, vorgestellt von Bernt Hahn. Veranstaltung in deutscher und polnischer Sprache. Eintritt frei.