»No Fear« vor Recklinghausen

Am 30. April beginnen die Ruhrfestspiele Recklinghausen unter neuer Leitung des Berliner Volksbühnen-Chefs Frank Castorf. Alexander Haas und Götz Leineweber haben den Theaterstar in seinem Berliner Intendantenbüro getroffen

 

StadtRevue: Herr Castorf, worin liegt für Sie der Reiz, die Ruhrfestspiele zu übernehmen?

Frank Castorf:Als Gerard Mortier mich fragte, wusste ich, dass das Festival bestimmt nicht durchschnittlich werden würde. Jetzt macht es mir Spaß, die aufkommenden Erwartungen teilweise zu enttäuschen und andere Realitäten zu zeigen, künstlerisch wie politisch. Das geht nur über Kampf und Auseinandersetzung. Im Osten habe ich Theater gemacht, weil ich so nicht in direkten Konflikt mit dem Gesetzbuch geriet. Die künstlerische Verrätselung ermöglichte noch einen bestimmten Freiraum, bevor ich dann mit einem Verbot belegt wurde.

Und heute? Was genau interessiert Sie am Ruhrgebiet?

Die Menschen, die ins Ruhrgebiet kamen, suchten sich dieses Schicksal nicht aus: die galizischen Juden, die Russen, dann die Polen, schließlich die Türken und andere Südeuropäer in den 50er Jahren. Es treffen Gruppen aufeinander, die nicht unbedingt zusammengehören. Das finden wir das Spannende. Dass das, was außerhalb unserer eigenen Welt lebt, durchaus einen Toleranzanspruch hat. Bert Neumann, unser Bühnenbildner, sagte dann: Mach das mal, das ist gut.

Auch um noch einmal etwas Neues
zu wagen?


Sicher. Ab einem bestimmten Punkt wird alles restaurativ, auch die Volksbühne. Anders als auf die Großstadt Berlin passt auf Recklinghausen eher die Bezeichnung Henrik Ibsens: Die kompakte Majorität des Liberalen, diese verfluchte. Das hat mit deutschen Kleinstädten zu tun, in denen jeder alles kennt, weiß, was er hat und auch weiß, was er wieder haben will. Das ähnelt sich in ost- und westdeutschen Kleinstädten, egal wie sie politisch lackiert sind.

An das Recklinghausener Festspielhaus schreiben Sie: »Ostbahnhof West«. Heißt das, dass Sie jetzt im Westen eine Dependance der Volksbühne eröffnen wollen?

Wir verstehen das Schild ja anders. Wir reisen in Berlin immer am Ostbahnhof ab. Mit seiner Glasfront sieht der aus wie das Festspielhaus. Deswegen hatte Bert Neumann die Idee mit der Leuchtschrift. Die polnischen Emigranten fuhren mit den Zügen in den Westen. Das ist unsere Verbindungsachse. Und was unser Programm betrifft, so sind die meisten Produktionen Uraufführungen, Europa- oder Deutschlandpremieren. Wir machen nicht nur die internationale Kramkiste auf. Das ist nicht nur ein Export der Volksbühne, sondern extra für Recklinghausen.

An der Volksbühne haben Sie ein völlig anderes, urbaneres Publikum als im Ruhrgebiet.

Natürlich interessieren uns auch andere Gruppierungen als das alte Ruhrfestspielpublikum, aber ich betone immer, dass ich nie ein bestimmtes Publikum ausgrenze. Es geht darum, möglichst viele Menschen zu überraschen, die dann hinterher sagen: Es war schlimm, aber nicht ganz so schlimm, wie wir es erwartet haben. (Schmunzeln)

In Ihrem Programm lenken Sie den Ost-West-Blick über das Ruhrgebiet hinaus bis nach Nord- und Südamerika. Welche Konzeption steckt dahinter?

Ich denke im Augenblick viel über den jetzigen Kapitalismus nach, und ich will nicht nur sagen: »Kapitalismus ist doof!«. Ich sehe ihn auch als unsere Realität. In Nordamerika liegt seine Endstation, sein großer Höhepunkt, aber auch seine größte Gefährdung. Dann gibt es das andere Amerika, den Süden, der karnevalesk und ganz anders ist. Beide Amerikas sind wichtig für jemanden wie mich, der sich manchmal wünscht, nicht nur mit dem Che-Guevara-Hemd rumzulaufen, sondern auch etwas zu tun. Das geht auch das Theater etwas an. Es war mal eine Barrikadenwaffe, in der Commedia dell’Arte. Deshalb machen wir auch die Rollende Roadshow, eine Art Straßentheater wie in den 60er Jahren. Wir eröffnen eigentlich ein ästhetisch-theatralisches Erinnerungshotel mit all dem, was wir im 20. Jahrhundert hatten.

Wo kommt denn dieses »Hotel« hin?

Bei unserem Versuch nehmen wir das Festspielhaus als das, was es ist und gleichzeitig als Geheimnis. Es wird darin einen Schlafsaal und eine Küche geben. Da werden dann beim Kochen Brechts »Flüchtlingsgespräche« vorgestellt. Es gibt auch einen Garten im Haus. Ein Stück Abenteuer. Ich hoffe, dass zwischen Tanz, der ebenfalls vertreten ist, Musik und Philosophie, zwischen Alltäglichkeiten wie Essen und Trinken eine Gemeinschaft entstehen kann. Dass man nicht nur passiv konsumiert, sondern dabei sein kann. In Recklinghausen herrscht erst mal ein Misstrauen, ob wir zu intellektualistisch, überheblich oder zu fremd sind. Daher die Öffnung des Hauses.

Ist Ihr Festivalmotto »No Fear« dann die hedonistische Verweigerung der international regierenden Angstpolitik, Stichwort »Krieg gegen den Terror«?

»No Fear« ist wie das Rufen oder Pfeifen des Kindes im Wald, das sich Mut macht. Ich mache mir Mut, obwohl ich Angst habe. »No Fear« heißt auch, nur bestimmte Sachen zu wissen. Wenn Du mich Scheiße findest, findest Du mich Scheiße, so ist es eben. Wir müssen eine andere Haltung gegenüber der eigenen Grenze haben. Wenn alle immer nur Angst haben zu versagen, geht es nicht. Manchmal ist mir mein Ausschlafen wichtiger, als hier den Frontkämpfer im Büro zu spielen. Dann sag’ ich: »Komm lass uns jetzt weiterschlafen, das ist doch ganz schön ...«

Was haben wir vom brasilianischen Teatro Oficina zu erwarten, das bei Ihnen die vierteilige Produktion »Krieg im Sertão« erstmals in Europa vorstellen wird?

Ich war in der letzten Zeit ein paar Mal in Südamerika. Das ist nicht nur schön. Man sieht, kluge, begabte, sportliche, sexy Menschen. Aber sie haben wenig gesellschaftliche Möglichkeiten, sich zu realisieren. In Südamerika ist das Bewusstsein, dass man kämpfen muss, präsenter als in unserer deutschen Demokratie. Trotzdem merkt man zur Karnevalszeit, dass da ein anderes Weltempfinden herrscht. Den Karneval in Rio hat etwas Transzendentales, und diese unverschränkte Sexualität ist eine Lebenslust. Aber es geht bei »Krieg im Sertão« auch um politische Inhalte. Dort wurde ein Aufstand der Deklassierten mit deutschen Kanonen vom brasilianischen Militär niedergeschossen...

... laut ihrem Programmheft sogar mit Essener Krupp-Kanonen ...

... und die Menschen, die sich wehrten, haben gegen eine Übermacht vier Jahre lang ausgehalten.

Sie selbst inszenieren zur Festivaleröffnung die Uraufführung von »Gier nach Gold« nach Frank Norris’ Roman »McTeague« und Erich von Stroheims Film »Greed«. Eine zutiefst (nord-)amerikanische Geschichte.

Sie geht gegen die Idee von uns, dass wir durch unsere sozialen Erfahrungen und unser Verständnis der Demokratie bessere Menschen geworden seien. Norris beschreibt sehr gut, natürlich ein bisschen sozialdarwinistisch, wie Konflikte oder Verunsicherungen den Menschen ganz schnell wieder zum Tier werden lassen. Das deckt sich mit der deutschen Geschichte.

Info
Ruhrfestspiele Recklinghausen, vom 30.4. – 13.6., Spielorte: Festspielhaus Recklinghausen, Theaterzelt und Außenspielstätten. Infos, vollständiges Programm und Karten: www.ruhrfestspiele.de, Tel.: 02361/ 9218-0

Person
Frank Castorf, 52, gehört zu den bedeutendsten Theaterregisseuren weltweit. Er wuchs in der DDR auf, wo er bis 1988 an verschiedenen Provinzbühnen und in Berlin als Dramaturg und Regisseur arbeitete. Nach dem Fall der Mauer avancierte er im Westen mit radikalen Inszenierungen neuer wie älterer Stoffe schnell zum Shooting-Star. Seit 1992 ist Castorf Intendant der Berliner Volksbühne.
Die Recklinghausener Ruhrfestspiele entstanden im Nachkriegswinter 1946/ 47 auf der Basis des »Kohle für Kunst – Kunst für Kohle«-Tauschs. Gesellschafter sind die Stadt und der Deutsche Gewerkschaftsbund. 1991 bis 2003 wurden sie von Hansgünther Heyme geleitet, zukünftig steht den Ruhrfestspielen in Personalunion der Intendant der Ruhrtriennale vor, in diesem Jahr noch Gerard Mortier (ab 2005 sein Nachfolger Jürgen Flimm). Er gewann Castorf als neuen Künstlerischen Leiter der Ruhrfestspiele mit einem Dreijahresvertrag. Der diesjährige Etat der Festspiele beträgt rund 4,5 Millionen Euro.