Vom Leben

In »Vierzig Leben« sucht der Kölner Navid Kermani das Allgemeine im Besonderen und umgekehrt

Was ist Leidenschaft? Vielleicht, wenn der Künstler Daniel sein Kind Egon nennt, ohne sich um die Folgen dieser Entscheidung für den Jungen zu sorgen – nur weil der Name so schön ist. Was ist Vernunft? Vielleicht, wenn der Back Gammon-Spieler Wilhelm Goubeaud möglichst genau und unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Faktoren kalkuliert, wann er sich einen wirklich unvernünftigen Zug leisten kann.
»Vierzig Leben« heißt Navid Kermanis schmaler Band mit 40 kurzen Geschichten, die aus dem Leben von Menschen in Köln und anderswo erzählen, von FC-Fans und Whiskytrinkern, von Schriftstellern und Waschmaschinenfachverkäuferinnen, von Rechtsanwälten und Filmvorführern. Und alle 40 Geschichten haben einen abstrakten Begriff als Titel und Thema: »Vom Gehorsam«, »Vom Frieden«, »Von der Vernunft«, »Von der Leidenschaft« ...
Wer solche Titel wählt, sollte wissen was er tut, schließlich ruft eine derart klassische Bezeichnung von Texten ein ganzes Spektrum historischer Bezüge herauf – von den persönlich-philosophischen Betrachtungen Michel de Montaignes, die den modernen Essai begründeten, bis zum Katechismus, dem Lehrbuch für den Glaubensunterricht.

Vom Alltag und praktischer Philosophie

Navid Kermani weiß, was er tut. Der 37-jährige Kölner Autor, Journalist und promovierte Islamwissenschaftler hat sich nicht nur mit islamischen Mystikern befasst, sondern in seinem »Buch der von Neil Young Getöteten« auch westlicher Alltagsmystik gewidmet. In den Texten aus »Vierzig Leben«, die zuerst als Kolumne im Feuilleton der Frankfurter Rundschau erschienen, finden sich Spuren alldessen – doch bei aller sprachlichen und formalen Virtuosität, sind die kurzen Texte alles andere als belehrend oder besserwisserisch. Nur hin und wieder haben die eben so präzise beschreibenden wie ausufernd räsonierenden Sätze, die gelegentlich beinahe Kleist’sches Format erreichen, einen Hang ins Übervirtuose.
Kermanis Geschichten suchen das Allgemeine im Besonderen, und umgekehrt. Sie spielen mit den großen Begriffen, die sie zur Überschrift haben; Alltag und praktische Philosophie verbinden sich nebenbei im Konkreten, wenn der Ich-Erzähler aus dem Leben von ebenso normalen wie besonderen Menschen berichtet, die ihm selbst etwas erzählt haben, oder von denen ihm jemand erzählt: »Wie mir mein jüngerer Cousin Dariusch in der Halbzeitpause eines gewohnt trostlosen Spiels im Müngersdorfer Stadion entdeckte, konnte Heiko Taylor, den er aus drei gemeinsamen Jahren in einem norddeutschen Internat kennt, Stunden, nein Tage, ganze Wochen damit verbringen, für sich oder einen beliebigen Bekannten einen Flug zu buchen.« (»Von der Neugier«).
So ist ein ebenso intelligentes wie unterhaltendes Lesebuch entstanden, dessen kleine Prosastücke letztlich alle vom selben, eben so konkreten wie abstrakten Gegenstand erzählen: Vom Leben.

Navid Kermani: Vierzig Leben. Amman Verlag, Zürich 2004, 208 S., 19,90 EUR.

Lesung
Navid Kermani liest am 11.5. um 20.30 Uhr in der Mayerschen Buchhandlung, Neumarkt