Erasmus Schöfer

Der Kölner Autor Erasmus Schöfer veröffentlicht den zweiten Teil seiner Roman-Tetralogie »Die Kinder des Sisyfos«

Der Zeitroman hat es schwer: er ist nämlich unzeitgemäß. Mindestens in Deutschland, vor allem in der Nachkriegsentwicklung. Seinen Roman, wie bei Erasmus Schöfer geschehen, einen Zeitroman zu nennen, ist daher ein gewagtes Unterfangen – aber auch ein ebenso gelungenes.
»Epochenwerke« wie etwa Uwe Johnsons »Jahrestage« oder Peter Weiss’ »Ästhetik des Widerstands« sind Solitäre in der deutschen Literaturlandschaft geblieben, viel gelobt, aber wenig gelesen: »Wer wird nicht einen Klopstock loben, doch wird ihn jeder lesen? Nein!« (G.E. Lessing) Ein ähnliches Schicksal ist dann auch jenen geradezu irrwitzigen Projekten beschieden wie Hermann Lenz’ achtbändigem Romanzyklus über die Kunstfigur des Eugen Rapp, mittels derer (Alltags-)Geschichte vom Ende des Kaiserreichs bis in die 90er Jahre des 20. Jahrhunderts ausgebreitet worden ist, oder auch Peter Kurzecks nicht minder ambitiösem Unternehmen, in einer noch unabsehbaren Folge von Romanen minuziös Geschichte(n) am Leitfaden des Leibes zu entwickeln. Von Tag zu Tag zu erzählen, oft quälend langsam, dann wieder bestürzend aktuell und immer punktgenau.

Distanziertes Engagement...

Erasmus Schöfers als Tetralogie geplanter Roman lässt sich durchaus in diese Versuchsreihe einordnen. Sie verweist sogar ausdrücklich – auch romanintern durch etliche Fingerzeige – auf Peter Weiss’ Romantrilogie, als inhaltliche Lektüreerfahrung der Protagonisten, aber auch poetologisch im Blick auf das eigene Schreiben und seine Vorsätze. Mit Peter Weiss teilt er das strenge Exerzitium, dass eine Ästhetik und Poetik im Handgemenge – im Widerstand gegen den Faschismus bei Weiss, in den politischen Kämpfen und Auseinandersetzungen in der alten Bundesrepublik bei Schöfer – entwickelt werden muss, dass Kunst und vor allem Literatur (aufklärerischen Eingedenkens) nicht bloß vergnügen, sondern ebenso auch belehren und – politisch wie moralisch – durchaus nützen sollen und können.
Das ist, so konnte man bereits angesichts von Erasmus Schöfers »Ein Frühling irrer Hoffnung« (2001), dem ersten Teil der Romanfolge, feststellen, hier und heute liebenswert-anachronistisch, denn es geht um Realismus und Parteilichkeit bzw. Engagement, was in Zeiten von Postmoderne und Popkultur allenfalls noch höhnisches Gelächter nach sich zieht. Engagement bei Schöfer bedeutet aber nie eine plakative, agitatorische Art und Weise, sondern ist vermittelt, reflektiert und mithin distanziert.
Das macht die besondere Bedeutung der Texte aus, jenes ersten Teils, der die Entwicklung von Viktor Bliss in den wilden Jahren um 1968 auf der Straße, im Theater, an der Diskurs- und Diskussions-Front zeigt, und auch des neuen, nun abgeschlossenen zweiten Teils.

... und bilanzierte Beobachtungen

»Zwielicht« behandelt die »bleierne Zeit« der Post-68er-Jahre: eine zersplitterte Linke, die ersten Akw-Großdemonstrationen (Brokdorf, Wyhl, Kalkar), Betriebsbesetzungen und die Werkkreisbewegung, schließlich die RAF-Aktionen und die staatlichen Reaktionen darauf samt der Diskussionen um Gesetzesverschärfungen einerseits, die Stellung der Linken zur Gewaltfrage andererseits. Die Protagonisten sind Vertreter der Linken, ob nun innerhalb oder außerhalb der Partei, und Schöfer versteht es, sie in die Auseinandersetzungen der Zeit, die politischen Kämpfe wie diskursiven Verwicklungen auf unterschiedlichsten Feldern (Liebe und Sexualität als ganz besonderer »Arbeitsgrund«; Taktik und Strategien der Linken; Funktion und Bedeutung von Literatur und Kunst) hineinzuführen und dabei ein dichtes Zeitpanorama zu gestalten.
Schöfer hält bei allem Engagement, Distanz zu den Dingen und Ereignissen. Er bleibt der Beobachter, der mal kühl nüchtern bilanziert, dann wieder aus der Bewegung heraus, aus dem Inneren der Vorgänge gleichsam »Zeit-Geschichte« veranschaulicht. Auffallend ist sein multiperspektivisches, auf eine Reihe von Einzelpersönlichkeiten verteiltes, bisweilen sogar parallellaufendes Erzählen, wodurch er Vielschichtigkeit und besondere Tiefe erreicht.
Sollte Erasmus Schöfers ehrgeiziges Romanprojekt einmal seinen Abschluss finden, mit dem Heranführen bis an die Zeit um 1989, dann hielte man mit diesen vier Bänden einen gewaltigen Zeitroman über die Geschichte und Entwicklung der alten Bundesrepublik in Händen. Ein Zeitroman, der in Fortführung und historischer Verlängerung der Argumentationen von Hegel und Lukacs ein »subjektives«, und zwar: proletarisches »Epos« vorstellt, anhand dessen tatsächlich erneut »die Totalität einer Welt- und Lebensanschauung (...) innerhalb der individuellen Begebenheit zum Vorschein kommt.« (Hegel) Das ist nicht eben wenig. Kommende Generationen werden es Schöfer zu danken wissen.

Erasmus Schöfer: Zwielicht. Die Kinder des Sisyfos (Teil 2). Zeitroman, Dittrich Verlag, Köln 2004, 420 S., 19,80 EUR.
Ders.: Ein Frühling irrer Hoffnung. Die Kinder des Sisyfos (Teil 1). Zeitroman, Dittrich Verlag, Köln 2001, 493 S., 20 EUR.