Mehr arbeiten, weniger verdienen

Als wir vor einem guten Jahr unsere Serie »Zukunft der Arbeit« starteten, waren uns die niederschmetternden Ergebnisse der einzelnen Analysen nicht bewusst. Müsste man die sechs bisher erschienenen Texte in einem Satz zusammenfassen, er lautete ungefähr so: Die Zukunft der Arbeit besteht in der dauerhaften Einführung von als Dienstleistungen deklarierten Billiglohnjobs, die die Leute obendrein noch als Gnade, Selbstverwirklichung und Errungenschaft der alten Arbeiterbewegung zu begreifen haben. Wir hatten durchaus gehofft, einer der AutorInnen würde uns eine schöne Utopie der Arbeit präsentieren – es hat sie ja schließlich immer wieder gegeben! Sie hießen Arbeitszeitverkürzung, Humanisierung der Arbeit und Selbstverwaltung. Felix Klopotek geht im letzten Text unserer Serie der Frage nach, was aus diesen Utopien geworden ist. Er kommt zu dem Ergebnis, dass sie verwirklicht wurden, nur ganz anders, als die Protagonisten der Alternativbewegung es erhofften.

Vielleicht wird der 28. März 2004 in die Geschichtsbücher eingehen, als Tag, an dem die Zukunft der Arbeit offiziell beschlossen wurde. Es war kein Tag, an dessen Ende die Gewerkschaften zu einem Generalstreik aufriefen, noch nicht mal einer, auf dessen wichtigstes Ereignis zahllose Leitartikel, Kommentare und Talkrunden folgten. Es war schlicht der Tag, an dem der Tarifstreit über längere Arbeitszeiten im öffentlichen Dienst sich zuspitzte. Es verkündete CDU-Generalsekretär Meyer: »Ein bis zwei Stunden Mehrarbeit pro Woche ist der verträglichste Weg um die Wettbewerbsfähigkeit in Deutschland zu erhöhen und gleichzeitig das Einkommen der Beschäftigten zu sichern.« Und Edmund Stoiber brachte es auf den Punkt: »Die Kündigung des Tarifvertrags über die bisherige 38,5-Stunden-Woche im öffentlichen Dienst wird die Arbeitswelt in Deutschland verändern.« Die 42 Wochenstunden, die die im öffentlichen Dienst Beschäftigten demnächst arbeiten sollen, werden Signalwirkung auf die Privatwirtschaft haben: Was die einen vormachen, sollen die anderen bald nachmachen können.

Das Ideal der 35-Stunden-Woche

Zynische Zeitgenossen werden vielleicht mit den Schultern zucken und darauf hinweisen, dass die Realität in den Betrieben schon längst dem offiziellen Mehrarbeitsideal entspricht. Sind nach zähem Ringen am Verhandlungstisch endlich Arbeitszeitverkürzungen durchgesetzt, gibt es für die Betriebsführungen zig Möglichkeiten, Ausnahmeregelungen und Sachzwänge (»Globalisierung«), die 35-Stunden-Woche zu unterlaufen: durch Überstunden, Sonderschichten und permanente Flexibilisierung.
Die IG Metall hat 1984 die 35-Stunden-Woche nur deshalb durchsetzen können, weil sie den Unternehmern eingeräumt hat, die tatsächliche Arbeitszeit von der rechnerischen zu trennen. So werden die 35 Stunden zu einem abstrakten Durchschnitt, der bloß in einem Monat, in einem Jahr, in zwei Jahren etc. erreicht werden muss. Die Realität sieht so aus, dass die Lohnabhängigen zwischen 40 und mehr Wochenstunden einerseits und Zwangsurlaub und Kurzarbeit andererseits eingeklemmt sind. Das (rein rechnerische) Mehr an Freizeit wird durch die (sehr konkrete) erhöhte Vernutzung der Arbeitskraft aufgefressen. Die Einführung der 35-Stunden-Woche hat also nicht zu mehr Zeit-Souveränität der Lohnabhängigen geführt. Noch nicht einmal zum Rückgang der Arbeitslosigkeit. Auch wenn mit den 35 Stunden die tatsächliche Wochenarbeitszeit gemeint wäre, hätten schon Intensivierung, schnellere Verausgabung der Arbeitskraft, und Rationalisierung, ihre produktivere Anwendung, dafür gesorgt, dass sich die Anzahl der Beschäftigten nicht erhöht.
Trotzdem kommt Stoibers Forderung nach unbezahlter Mehrarbeit einem Tabubruch gleich. Denn ganz gleich, wie abstrakt die 35-Stunden-Woche ist und wie oft sie umgangen wird, gesellschaftlicher Konsens war über Jahrzehnte, dass »wir« in (naher) Zukunft weit weniger für den wachsenden Wohlstand arbeiten müssen.

»Mehr Demokratie wagen«

Seinen Ursprung hat dieser Konsens in der ersten bundesrepublikanischen Rezession Ende der 60er Jahre. Der Traum einer krisenfrei sich immer höher entwickelnden Marktwirtschaft zerplatzte. Das, was heute selbst dem Linksabweichler der SPD ungeheuerlich vorkommt, wurde damals in staatlichen und kommunalen Kommissionen diskutiert: dass die krisenanfällige Marktwirtschaft Elemente der Planung bräuchte, dass nicht nur der Staat, sondern auch die Arbeitswelt und die Reproduktionsbereiche (Wohnviertel, Schulen, Universitäten) demokratisiert werden müssten, dass bestimmte Bereiche der Produktion der Privatwirtschaft entzogen gehören, weil sie Belange der Allgemeinheit betreffen. Willy Brandt versprach damals »mehr Demokratie« zu wagen, und die Gewerkschaften propagierten die »Humanisierung der Arbeitswelt«, mehr Bildung für Arbeiter, Mitbestimmung, selbstbestimmtere Arbeitsprozesse – 1978 tauchte die 35-Stunden-Woche als gewerkschaftsoffizielle Forderung auf.
Die außerparlamentarische Linke entdeckte darin nur reformistisches Machwerk und sprach von »Sozialstaatsillusionen« und den »notwenigen Grenzen politischer Planung im Spätkapitalismus«. Ihr Kalkül: Kommt die nächste Krise, werden die halbgaren Projekte von SPD und DGB weggespült vom dann endlich erwachenden Drang revolutionärer Arbeitermassen. Die Krise kam (spätestens ab 1975), die Revolution blieb aus. Vielen Linken dämmerte es, dass es keinen zwangsläufigen Zusammenhang von Krise und Revolution gibt, und sie zogen den Schluss, dass die Revolutionstheorie mit ihrem Vertrauen in ein rebellisches Proletariat falsch sei. Der Kapitalismus verschwindet demnach erst, wenn wir jetzt und hier Autonomie fordern, »aussteigen«, und das wahre Leben im falschen beginnen.

Die Erfindung der Teilzeitarbeit

Es war die Zeit der alternativen Ökonomie, und die Welle selbstverwalteter Betriebe – von den ersten ökologischen Landwirtschaftsbetrieben bis zu den frisch ins Leben gerufenen Stadtzeitungen – rollte mächtig heran.
Dem Prinzip der Selbstverwaltung lag dabei nicht nur ein moralisches Postulat zugrunde, sondern auch ein ökonomisches Prinzip: »Labour hires capital«. Soll heißen: Kapital, in Form von Geld, Maschinen oder Arbeitskräften, wird dem normalen Kapitalmarkt, wo es gewinnbringend investiert werden muss, damit es sich als Kapital überhaupt erhält, entzogen. Selbstverwaltete Arbeit bedient sich des Kapitals, um eine an Gebrauchswerten und humaner Arbeitsweise orientierte Produktion aufzuziehen. Mitten im Kapitalismus wird ein Stück Gemeinwirtschaft verwirklicht.
Die Entstehung selbstverwalteter Betriebe wurde aber auch auf der anderen Seite durchaus erfreut zur Kenntnis genommen. So kam Anfang der 80er Jahre eine vom damaligen baden-württembergischen Ministerpräsidenten Lothar Späth eingesetzte Kommission »Zukunftsperspektiven gesellschaftlicher Entwicklung« zu dem Schluss, dass immer mehr Arbeitszeit durch Automatisierung und Informationstechnologie eingespart wird. Als Kompensation wurde nicht eine gesamtgesellschaftliche Verkürzung der Arbeitszeit vorgeschlagen, sondern Teilzeitarbeit, Individualisierung und Flexibilität.
Prognosen aus dieser Zeit gingen davon aus, dass nach 1990 in den Industrienationen nur noch die Hälfte der arbeitsfähigen Bevölkerung eine feste, ständige Anstellung hat. Heute sind zwar noch knapp zwei Drittel der Beschäftigungsverhältnisse sogenannte Normalarbeitsverhältnisse, also unbefristet und sozial sowie rechtlich abgesichert. Aber auch das ist eine abstrakte Größe wie die 35-Stunden-Woche. Sind doch die Tarifverträge, die die Normalarbeitsverhältnisse festschreiben, aufgeweicht: 35 Prozent aller Betriebe haben bisher Öffnungsklauseln der laufenden Flächentarifverträge genutzt.

Alternativen zur Arbeitslosigkeit

Vor 20 Jahren gab es noch keine Ich-AGs, aber selbstverwaltete Betriebe, die mit linkem Background die Funktionen erfüllen, die heute den Ich-AGs zugeschrieben werden: Da selbstverwaltete Betriebe in der Regel chronisch unterkapitalisiert sind, sind sie gezwungen, auf Basis von Selbstausbeutung zu arbeiten und sich einem ständigen Innovationsdruck auszusetzen. Und da sie kaum in der Lage sind, Produkte in Massenproduktion herzustellen, müssen sie ständig neue Marktlücken finden. Sie stehen in dem Widerspruch, dass sie die Entwicklung der innovativen Produkte besser gewährleisten können als große Unternehmen – weil die selbstverwalteten Betriebe als kleine Einheiten und auf Basis von Selbstausbeutung und Erfindergeist arbeiten; dass sie aber kaum bewerkstelligen können, diese Produkte auch gewinnbringend herzustellen. So wurden ihre innovativen Produkte regelmäßig aufgesogen: Ökofood, alternative Stromversorgung, die IT-Branche – alles Kinder der Selbstverwaltungswelle – sind längst industrialisiert. Und die Vorstellung, dass jede Stadt eine eigene Kulturzeitschrift mit Tipps, Terminen und Hintergrundberichten braucht, wird in den meisten Fällen von großen Verlagen realisiert.
Die selbstverwalteten Betriebe, angetreten, um eine selbstbestimmte Zeitökonomie zu verwirklichen, waren de facto kaum mehr als outgesourcte Forschungs- und Hochtechnologieeinrichtungen großer Unternehmen, billiger als Leiharbeitsfirmen und wendiger als die Firmenbürokratie. Sie übernahmen die Entwicklung neuer Produkte, sowie neuer Produktionsmittel und Distributionswege.
Auf dem Wege, Arbeitszeitverkürzung und Selbstbestimmung konkret vorzunehmen, erreichten sie das Gegenteil, weniger Zeitsouveränität durch einen fragmentierten Arbeitsalltag: Mag der Arbeitsplatz selbstverwaltet sein, die gesamtwirtschaftlichen Zusammenhänge, in denen der alternative Betrieb eine Scharnierstelle einnimmt, sind es nicht. So verkehrt sich das Prinzip »labour hires capital« in sein Gegenteil. Die alternativen Betriebe ließen sich fast reibungslos in die Umstrukturierung der Produktionsweise der letzten 20, 25 Jahre einspannen. Mit den Ich-AGs hat die rot-grüne Regierung eine allgemeingesellschaftliche Form der Alternativökonomie etabliert. Der Lohnabhängige gilt in diesem Modell als »Arbeitskraftunternehmer«, was nach Souveränität klingt, aber doch nur den Zwang, die eigene Arbeitskraft zu verkaufen, um irgendwie von ihr leben zu können, verschleiert. Der Idee der Ich-AG entspricht kein linker Anspruch, sondern einfach ein trostlos realpolitischer.

Zukunft der Arbeit

Da ist es nur folgerichtig, wenn Stoiber und Co. ganz offen und selbstverständlich die Erhöhung der Arbeitszeit propagieren. Sie können davon ausgehen, dass die gesellschaftlichen Kräfte, die noch bis in 90er Jahre hinein – und zwar ziemlich genau bis zum Amtsantritt der jetzigen Regierung – für die Humanisierung der Arbeitswelt stritten – von großen Teilen der Grünen bis zu den Gewerkschaften –, entweder im Mainstream angekommen sind oder sich verschlissen haben. Nur zur Erinnerung: Den Streik um die Einführung der 35-Stunden-Woche in der ostdeutschen Metallindustrie hat die IG Metall von sich aus abgeblasen, sie hat ihn verloren gegeben.
Die Zukunft der Arbeit, das ist dem gesellschaftlichen Bewusstsein 30 Jahre lang präsent gewesen, besteht darin, dass sie tendenziell verschwindet. Die explodierende Produktivität sorgt dafür, dass die disponible Zeit, die potenziell gesellschaftlich frei verfügbare Zeit, immer mehr zunimmt. Der Widerspruch der kapitalistischen Produktionsweise besteht darin, dass der gesellschaftliche Reichtum an freier Zeit als individuelles Elend erscheint: als Arbeitslosigkeit bzw. als intensivierte Vernutzung der Arbeitskraft von denjenigen, die noch arbeiten. Die Hoffnungen der Alternativen und der Gewerkschaften bestand darin, die kapitalistische Ökonomie der Zeit gegen den Kapitalismus selbst auszuspielen. Eine Hoffnung, die letztlich darauf beruhte, dem Kapitalismus ein Beschäftigungs- bzw. ein soziales Gerechtigkeitsideal anzudichten. Dass diese Ideale tatsächlich Hirngespinste waren, das haben Stoiber, die Unternehmerverbände und letztlich auch die Gewerkschaften, die sich auf ihren eindrucksvollen Großdemonstrationen darauf beschränken, die halbwegs entschlossene Verteidigung des einen oder anderen Arbeitnehmerrechts anzukündigen, dankenswerterweise klar gemacht. Die Zukunft der Arbeit besteht in ihrer Abschaffung. Oder aber in Billiglohn plus Sonderschicht. Wir haben die Wahl.


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