Postkolonialer Dickens

Terror, Fundamentalismus und Lebensrealitäten in Migranten-Communities liefern den Stoff, aus dem

Verständigungskitsch oder erkenntnisträchtige Prosa enstehen. Thorsten Krämer über Monica Alis gefeierten Debütroman »Brick Lane« und die Suche nach Erzählformen der Gegenwart

 

Ganz unweigerlich hat der 11. September neben den Auswirkungen, mit denen wir täglich in den Nachrichten konfrontiert sind, auch solche auf die seitdem entstehende Literatur. Nach ersten kurzfristigen Reflexen, etwa Kathrin Rögglas »really ground zero«, werden die Spuren dieses Tages nun in immer unterschiedlicherer Form sichtbar. In Ulrich Peltzers »Bryant Park« markiert er einen Bruch in der Erzählung, in Frederic Beigbeders »Windows on the World« ist er das einzige Thema, und im Debütroman Monica Alis, der das Leben der von Bangladesh aus nach London zwangsverheirateten Nazneen schildert, fungiert er bereits als Zeitkolorit.
»Nazneen wirft einen Blick auf den Bildschirm. Zwei hohe Gebäude vor einem blauen Himmel. Sie blickt zu ihrem Mann. ›Das ist der Anfang des Wahnsinns‹, sagt Chanu. Er hält seinen Bauch fest, als hätte er Angst, jemand würde ihn stehlen. Nazneen tritt näher an das Gerät. Eine dicke schwarze Rauchwolke hängt aus einem Turm. Sie sieht viel zu schwer aus, um dort zu hängen. Aus der Ecke des Bildschirms fliegt in Zeitlupe ein Flugzeug und steuert auf die beiden Gebäude zu. Es scheint auf gleicher Höhe mit den Hochhäusern zu fliegen. Nazneen denkt, dass sie weiterarbeiten sollte.«
Monica Ali, die selbst ihre ersten drei Lebensjahre in Bangladesh verbracht hat und seitdem in England zu Hause ist, erzählt das Leben Nazneens von den 80er Jahren bis in die Gegenwart als breit angelegten Entwicklungsroman ihrer Hauptfigur. Diese emanzipiert sich im Laufe des Buches aus gleich zwei Abhängigkeiten/Minderheiten, als Frau in einer von Männern dominierten Kultur und als Bengalin in London. Das ist ein zumindest in der englischsprachigen Literaturen mittlerweile gängiger postkolonialer Stoff, den die Debütantin Ali mit langem Atem, liebevoller Charakterzeichnung und Sinn für Details bewältigt. Insbesondere Chanu, der Mann, den Nazneen bei ihrer Ankunft in London zum ersten Mal sieht, überzeugt durch seine differenzierte Darstellung, die ihn trotz seiner offensichtlichen Mängel als Ehemann für den Leser sympathisch werden lässt.
Aber diese Qualitäten allein erklären noch nicht, wie der Roman in England zu solch einem Überraschungserfolg werden konnte – noch vor seinem Erscheinen setzte die renommierte Literaturzeitschrift Granta seine Autorin auf die Liste der wichtigsten neuen Schriftsteller, das Buch wurde prompt für den Booker Prize nominiert. Käme die Hauptfigur in »Brick Lane« aus einem anderen, nicht-islamischen Hintergrund, das Buch hätte wohl kaum diese Aufmerksamkeit bekommen. So aber trifft der Roman genau den Nerv der Zeit und ermöglicht der britischen Öffentlichkeit einen Innenblick auf die islamischen Communities, die sich in ihrem Land befinden. Und was sie dort zu sehen bekommt, ist nun eben auf die gleiche differenzierte Art dargestellt wie der Rest des Buches.
Nazneen besucht mehrere Treffen der Bengal Tigers, einer Gruppe, die sich bereits weit vor dem 11. September 2001 konstituiert, weil sie die »örtliche Ummah [die Gemeinschaft der Gläubigen] beschützen und die globale Ummah unterstützen« will. Zwischen den Bengal Tigers und den weißen Lion Hearts entspannt sich bald ein Flugzettelkrieg, aber bevor es am Ende des Buches zu tatsächlichen Aussschreitungen kommt, wird die Gruppe eher als harmloser Haufen aufmüpfiger Wirrköpfe geschildert. Auch Nazneen interessiert sich weniger für die Tagesordnungspunkte der Treffen als für den attraktiven Vorsitzenden Karim, mit dem sie später eine Affäre haben wird.
Ein einzelner Mann tritt dort allerdings in Erscheinung, dem es von Anfang an ernster als den anderen zu sein scheint: »Der Fragesteller war wieder auf den Beinen. ›Was werden wir tun?‹ Er war jetzt so nahe bei Nazneen, dass sie sein Gesicht genau sehen konnte. Das gefährliche Gesicht eines Fanatikers.« Es fällt auf, dass Ali hier die Perspektive ihrer Hauptfigur für einen kurzen Moment verlässt. Während das World Trade Center aus der Sicht Nazneens einfach »zwei hohe Gebäude« darstellt, sie die Bedeutung des Gesehenen erst nicht erfasst, wird ihr beim Anblick des Mannes sofort klar, dass sie es mit einem »Fanatiker« zu tun hat.
Es stellt sich hier die Frage, ob es sich beim »Fanatiker« eigentlich um eine politische oder menschliche Kategorie handelt. So politisch unbedarft, wie sie aufgrund ihrer Umstände nun einmal ist, könnte Nazneen das Wort also nur als Bezeichnung eines bestimmten Menschenschlags verwenden, bei dem es dann auch wieder gleichgültig ist, welche religiöse oder politische Färbung sein Fanatismus aufweist. Der Fragesteller, dessen fehlender Name noch zu seiner Dämonisierung beiträgt, ist dann einfach die böse Ausformung des Islam, genau so, wie »Monsieur Ibrahim« aus der von Elke Heidenreich empfohlenen Erzählung von Eric-Emmanuel Schmitt seine gute Ausformung bildet.
Beide Bücher laufen so Gefahr, gerade für deutsche Leser als eine Art Vergewisserungsprosa zu funktionieren, mit der sie sich ihre eigene Toleranz ausgerechnet über ihr Verständnis für und Interesse an einer Minderheit in einem anderen Land beweisen können. Dass aber auch die Auseinandersetzung mit deutschen Migranten lohnt, zeigt zum Beispiel ein Bildband des Künstlers Park Chan-Kyong in Zusammenarbeit mit dem Autor Klaus Fehling, den die Edition Solitude in Kooperation mit einem koreanischen Verlag vor kurzem veröffentlicht hat. In nüchternen, dokumentarischen Fotos folgt Park darin den Spuren von in den 60er und 70er Jahren ins Ruhrgebiet gekommenen Koreanern, die dort hauptsächlich als Bergarbeiter und Krankenschwestern gearbeitet haben. Ein Essay ergänzt die Fotos mit biografischen Details der Dargestellten, deren Lebensläufe ein Schriftsteller sicher auch zu einer weitläufigen Geschichte verarbeiten könnte. Wie im Falle von »Brick Lane« stellte sich auch hier die Frage, ob der ausufernde, pralle Roman des 19. Jahrhunderts à la Charles Dickens noch eine geeignete Erzählform für die Stoffe der Gegenwart ist.
Denn indem Monica Ali in ihrer Geschichte aus dem von Indern, Bengalen und Pakistanis bewohnten Viertel Tower Hamlets alles auf den rein menschlichen Gesichtspunkt reduziert, vergibt sie leider die Möglichkeit einer anderen, vielleicht erst noch zu findenden Darstellungsform, deren Erkenntnisse dann über ein bloßes »Es gibt überall solche und solche« hinausreichen könnten. Oder, wie es Slavoj Zizek kürzlich in einem Artikel für Die Zeit formuliert hat: »Es gibt aber eine dritte Position, jenseits von religiösem Fundamentalismus und liberaler Toleranz ... anstatt zu versuchen, das reine ethische Herz einer Religion vor seiner politischen Instrumentalisierung zu retten, sollte man dieses Herz rückhaltlos kritisieren – in allen Religionen.«
Monica Ali: Brick Lane. Aus dem Englischen von Anette Grube, Droemer Knaur, München 2004, 540 S., 19,90 Euro.
Park Chan-Kyong & Klaus Fehling: Koreans Who Went to Germany. Noonbit Publishing Co./Edition Solitude 2003, 100 S., 17 Euro.