Nie nur eine Position

»Sah die Menschen über Dinge erzählen, die ich nie erfahren wollte« - die Berliner Band Mutter im Gespräch.

Mutter sind zurück. Mit einer geradezu teutonisch brachialen Platte, ihrer sechsten. Und sie trägt den nicht minder brachialen Titel »Europa gegen Amerika«. Die Beats klopfen hölzern, die Gitarre verbreitet eine dumpfe, dunkle Stimmung. Das erinnert an alten Pogo made in Germany, wo selbst noch Punk nach Marschrhythmus klang. Ein bisschen von dieser Boheme-Verzweiflung, dem apokalyptischen Chic aus dem Berlin der frühen 80er Jahre, hat die Hauptstadt-Band Mutter ins neue Jahrtausend gerettet. Ihr Soundtrack zur Berliner Republik lässt keinerlei falsche Heimeligkeit aufkommen, sondern kehrt Verdrängtes und Halbverdautes nach oben. Das ist gut so. Und vor allem: so, wie Mutter das machen, auch gut gemacht.
»Wir fühlen uns absolut keiner Schule oder Band verbunden«, schütteln Sänger Max Müller und Schlagzeuger Florian Koerner von Gustorf unisono den Kopf, auf die Frage, ob sie sich denn mit dem auseinandergesetzt haben, was eine vergleichbare Band wie Die Goldenen Zitronen machen. »Während Hamburg so eine Art Dorf ist, wo alle sich ständig austauschen, arbeiten wir völlig isoliert«, sagt Müller und setzt noch einen drauf: »Diese Eindeutigkeit, mit der viele andere Bands arbeiten, versuchen wir ja gerade zu vermeiden. In unseren Stücken kommt nie nur eine Position zu Wort, sondern verschiedene Positionen treffen aufeinander und zeigen, dass die Welt gar nicht so einfach zu erklären ist, wie viele das gerne hätten.«

Nachdenken über die deutsche Befindlichkeit

Wer also im Titel einen modischen Antiamerikanismus wittert, der verkürzt und vereindeutigt, was Musik und Texte der Band an Ambivalenzen erzeugen. Sie setzen hinter jeder Frage noch ein weiteres Fragezeichen.
Mit ihren Assoziationsketten treten Mutter etwas los, was im Pop hierzulande selten geworden ist: ernsthaftes Nachdenken über Deutschland und deutsche Befindlichkeit. »Nachdem du gesehen hast, was du sehen wolltest / vergisst du es oder du machst ein Photo«, lauten die ersten, scheinbar privaten Zeilen dieser Platte, »damit du dich später erinnern kannst: Wir waren niemals hier.« Schon nach diesem langen, mehrfach gedrehten Satz, ist man völlig in der Sprachwelt von Max Müller gefangen.
»Europa gegen Amerika« ist als eine Art durchgängigen Deutschland-Kommentar zu lesen, was insofern legitim ist, als dass alle Texte, so Max Müller, »sich auf das beziehen, was ich hier in irgendeiner Form selbst erlebe«. So seltsam es klingen mag, aber der ebenso panisch abweisende wie mit Bestimmtheit gesungene Refrain »Wir waren niemals hier« lässt einen , je öfter man ihn hört, an die 98er Debatte um Martin Walser denken und von ihr aus an all die Auschwitz-Leugner und Verdränger, die trotz der Existenz von Photos nur sehen, was sie sehen wollen. Das ist, zugegeben, eine gewagte Lesart. Vielleicht hatte Max Müller ja, als er diese Zeilen schrieb, ein anderes, eher niedlich groteskes Bild vor Augen, etwa japanische Touristen auf dreitägiger Deutschlandreise. Dass einem jedoch bei Mutter sehr leicht drastische Assoziationen durch den Kopf gehen, liegt an der Schwermut ihrer eigentlich martialischen Musik. Mutter funktionieren wie das Gegenstück zu Rammstein: Wo diese mit sehr ähnlichen Mitteln Triumph erzeugen, klingen Mutter nach bohrendem Zweifel.
Das geballte »R«, das Rammstein zum signifikant deutschen Buchstaben erhoben haben, taucht auch im Refrain von Mutters »Reifen rollen« auf, einem Song, der wiederum von Verdrängung handelt, ohne sich dabei deutlich auszudrücken. »Vergessen was gestern war / rollen Reifen durch Deutschland / zu den Menschen, um ihnen zu geben, wonach sie so lechzen / und der Schmerz von gestern ist heute noch viel besser, als er gestern war.« Wie ein Werbeslogan verkündet eine Zeile »Reifen rollen zu dir«, doch das, was da als Versprechen ausgesprochen wird, klingt zugleich wie eine Drohung. Zu einem schmerzhaft monotonem Basslauf bleibt auch dieser Text völlig uneindeutig und zugleich ganz ohne Wertung deutsch wie die einst von Kraftwerk besungene »Autobahn«. Welche Reifen sind da gemeint: Jene, die über von den Nazis neu erbauten Autobahnen gen Frankreich rollten oder die der Alliierten, die von Ort zu Ort Kaugummis verteilten, bis sehr schnell vergessen war, »was gestern war«? Von den Alliierten handelt auch »Damals in Berlin«, die einzige Coverversion auf »Europa gegen Amerika«, die einem Nachkriegsschlager mit den Zeilen »und ist die Stadt auch heut nicht frei / Kinder, in 50 Jahren ist alles vorbei« ganz neue Bedeutung verleiht.

Antithese zur »Neuen Deutschen Härte«

Geradezu perfekt gelöst, folgt auf diesen Berlin-Nostalgie-Schlager ausgerechnet eine Nummer, die ganz russisch mit Streichern in Schostakowitsch-Manier beginnt und verkündet: »Krieg ist vorbei, ein neuer beginnt / von dem du nie erfahren wirst«. Deutlicher lässt sich der Kern gar nicht mehr ausdrücken, um den sich alles auf »Europa gegen Amerika« dreht - ein Stoff aus Pathos, Lüge, Schuld und permanentem Neuanfang mit blutbefleckten Händen. Auch wenn Mutter sich selbst wohl nicht ausdrücklich als linke Band bezeichnen würden, sind sie doch so etwas wie die Antithese zur »Neuen Deutschen Härte«: Überall dort, wo Mutter nach Deutschland klingen und von Deutschland sprechen, ist nirgendwo Verklärung zu vernehmen.
Wo Mutter selbst stehen, welche Position sie einnehmen, lassen sie dabei bewusst offen. Gemäß der Müller-Maxime, »dass es toll ist, wie sich meine Texte weiterentwickeln und Deutungen mit sich bringen, an die ich nie gedacht hätte«, transportiert hier die Stimmung der Musik mindestens so viel wie die Texte. Um sich gegenüber Fehlinterpretationen zu schützen, gibt es dann aber doch Momente eindeutiger Positionierung: »Eltern mit Geld ohne Ende / in einer Zeit, wo man zeigte, was man hatte, was man war / exklusive Jagd in Afrika / Trophäen im Herrenzimmer / Nacktpartys am eigenen Pool / mit der ausgelassenen Elite / zu der Musik der Jugend als Dekadenz«. In diesem Schreckensbild, das Herrenreitertum mit der hedonistischen Pop-Jugend unserer Tage zusammenführt, taucht abermals die verkehrte Welt auf: Glück, Macht und Besitz finden sich immer nur dort, wo Unglück, Armut und Unterdrückung ausgeblendet werden.

Der Präsident und die Todesstrafe

»Wer denkt schon an Afrika?«, zieht Max Müller die Augenbrauen nach oben: »immer ist überall auf der Welt Krieg, aber einen Großteil der Kriege nehmen wir deshalb nicht wahr, weil sie für uns ganz weit weg sind und wir das Gefühl vermittelt bekommen, dass sie uns nichts angehen.« Gegen diese und andere Formen von Eskapismus ist »Europa gegen Amerika« heilsame Medizin, nämlich Popmusik, die sich nicht nach herkömmlichen Pop-Strategien vermarkten lässt. »Seit Bush gibt es wieder sehr eindeutige Gründe, gegen Amerika zu sein«, erklärt Florian Koerner von Gustorf, denkt einen Moment nach und wendet schließlich ein: »Obwohl es ja auch erschreckend ist, dass Bill Clinton den smarten Pop-Präsidenten verkörpert hat und gerade dadurch davon hat ablenken können, dass unter ihm die Todesstrafe genauso selbstverständlich praktiziert wurde.«