Foto: Manfred Wegener

Abgucken erwünscht!

An vielen Kölner Grundschulen werden Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam unterrichtet.

Das Konzept ist erfolgreich, doch jetzt droht das Aus

Wo könnt ihr sehen, wie sich die Venus vor die Sonne schiebt?«, fragt Klassenlehrerin Susann Goedecke. 26 Kinder sitzen im Kreis und schauen sie erwartungsvoll an. »Im Fernsehen, da lief das heute morgen!« platzt einer heraus. »Nein, im Solaruskop!« ruft ein anderer. Die SchülerInnen der Klasse 2a der Grundschule Zwirnerstraße in der Kölner Südstadt sind aufgeregt: Im Solaruskop, einer Pappbox mit Spiegeln, wird die Sonne projiziert. So können die Kinder den Venus-Transit verfolgen – live. Ein Unterrichtshighlight. Doch nicht alle aus der Klasse beobachten heute das Himmelsereignis.

Ein attraktives Angebot

Sonderschul-Pädagoge Christoph Schulenkorf tritt jetzt an den Stuhlkreis: »Wer möchte mit nach drüben kommen, ein Plakat für die Vulkan-Ausstellung malen?« Offensichtlich ein attraktives Angebot – prompt melden sich zehn SchülerInnen. Schulenkorf sucht sechs aus. »Ich wähle vor allem die Kinder mit Lernschwierigkeiten aus – aber es soll eine freiwillige Entscheidung sein, das motiviert«, erklärt er später. In der Zwirnerstraße gibt es das NRW-weite Konzept »Gemeinsamer Unterricht« (GU). Fünf Kinder in der Klasse sind lernbehindert. Sie werden zusammen mit nicht-behinderten Kindern unterrichtet. Bei Bedarf wird eine kleine Fördergruppe gebildet, denn im »Gemeinsamen Unterricht« arbeiten ein Lehrer und ein Sonderschul-Pädagoge als Team zusammen. An 22 Kölner Grundschulen wird so unterrichtet.

Isolation verhindern

Während die meisten SchülerInnen im Klassenraum bleiben und den Venus-Transfer malen, geht Schulenkorf jetzt mit der kleinen Gruppe nach nebenan in den »S.O.S.-Raum«. Der ist für Fördergruppen reserviert. Ein geräumiges Klassenzimmer, an der Decke ein buntes Stoffzelt, der Holzboden mit Teppichen ausgelegt, in einer Ecke Kissen und Spielzeug. Schulenkorf legt eine Folie mit einem Vulkan-Querschnitt auf den Projektor und fragt: »Was fließt da am Vulkan herunter?« »Feuer!«, ruft Jens*. »Überleg noch mal, es ist heißer, flüssiger Stein.« Dann erst nennt Jens die richtige Antwort – Lava. Doch wie ein Vulkan aufgebaut ist, hat die Klasse schon durchgenommen. »Jens ist lernbehindert. Er kann sich Wörter schlecht merken«, sagt Schulenkorf. Dann malen die Kinder mit Wachsmalstiften den Vulkan-Querschnitt auf eine große Pappe. »Das fördert die Feinmotorik«, sagt Schulenkorf. »Damit hat besonders Özlem* Probleme.« Doch in der Kleingruppe sind nicht nur Kinder mit Lernschwierigkeiten.
»Die entwicklungsverzögerten Kinder profitieren ungemein, wenn sie neben Schülern sitzen, die besser, schneller, anders lernen als sie. Sie können ihr Lernverhalten gewissermaßen abgucken«, sagt Werner Pusch, dessen lernbehinderte Tochter auch hier zur Schule geht. Was Pusch besonders vom GU überzeugt, ist die Integration – sie bewahre die Schüler mit Lernschwierigkeiten davor, isoliert zu werden.

Stärken fördern

»Die spielen nur und lernen nix, die Behinderten ziehen das Niveau runter – solche Sprüche hat man anfangs oft über den GU gehört«, erinnert sich Norbert Gramüller. Er vertritt als Vorsitzender der Schulpflegschaft die Interessen der Eltern. Als die Unterrichtsform 1994 in Köln eingeführt wurde, war auch er zunächst skeptisch – sein Sohn hat selbst keine Lernschwierigkeiten. »Doch dann habe ich mal mit meinem Sohn in der Schule hospitiert – wir waren sofort begeistert! Die Betreuung ist intensiv, die Stärken werden individuell gefördert – auch bei den nicht-behinderten Kindern.« Oft würden die lernstarken den lernschwachen Kindern helfen, sagt Gramüller. Sie erklärten ihnen den Unterrichtsstoff und vertieften so selbst das Gelernte. »Kinder, die auf einer GU-Grundschule waren, fallen auf den weiterführenden Schulen positiv auf – durch Selbstständigkeit, Rücksichtnahme, Teamarbeit. All das, was PISA fordert«, schwärmt Gramüller.

»Versehentlich zu großzügig«

Doch um die Zukunft des Konzepts steht es schlecht. In Köln sollen zum nächsten Schuljahr 10,6 von rund 50 Sonderschullehrer-Stellen aus dem GU abgezogen werden. »Die Stellen haben jahrelang im Sonderschul-Bereich gefehlt«, erklärt Angelika Köster-Legewie vom Schulamt Köln. Der GU sei »versehentlich zu großzügig ausgestattet« worden – »auf Kosten der Sonderschulen.« Das soll nun rückgängig gemacht werden. Vor allem die Kölner GU-Schulen bekommen das zu spüren, denn Köln ist im Vergleich zum Umland personell bislang besonders gut besetzt. Eltern-Vorsitzender Gramüller aber ist überzeugt: »Die wollen dort notdürftig Löcher flicken, indem sie uns hier alles wegkürzen. Der GU, der über zehn Jahre aufgebaut wurde, würde ohne die Stellen nicht mehr funktionieren.«

*Die Namen der Schulkinder sind geändert.