Super großer Erfolg

Die schlagkräftigste filmische Kritik an den USA kommt aus den USA. Holger Römers über Michael Moores »Fahrenheit 9/11« und Morgan Spurlocks McDonald´s - Kritik »Super Size Me«

Dass ein Dokumentarfilm an seinem US-Startwochenende mehr Geld einspielen könnte als einst »Die Rückkehr der Jedi Ritter«, dass sein Regisseur zudem auf das Titelblatt von Time befördert und im Magazin der künftige Einfluss von Filmen auf amerikanische Wahlkämpfe erörtert würde: Das war bis vor kurzem unvorstellbar.
Vielleicht denkt man bei der Suche nach Erklärungen für den Erfolg von Michael Moores nicht nur wegen des Ray Bradbury entlehnten Titels »Fahrenheit 9/11« an Science Fiction. Ein Rückblick auf eine andere Intervention Hollywoods in den aktuellen US-Wahlkampf ist jedenfalls aufschlussreich: Im Pro-Kyoto-Blockbuster »The Day After Tomorrow« ist zwar das zentrale Szenario einer kurzfristigen Eiszeit zu abwegig, um irgend jemanden zu erschrecken, gar nicht weit hergeholt, und um so deprimierender, ist allerdings, dass Roland Emmerichs Protagonisten sich stets auf ein einzige Nachrichtenquelle verlassen: Rupert Murdochs Fernsehsender Fox News, der in den USA längst meistgesehener Nachrichtenkanal ist.
Der Mainstream-Erfolg des rabiaten Rechts-Populismus von Fox hat Amerikas Linksliberalen nachdrücklich ein eigenes Manko vor Augen geführt: Denn obwohl das Land in zwei etwa gleich große politische Lager gespalten ist, bleiben die Krawallbrüder der Rechten in den Mainstream-Medien ohne satisfaktionsfähige Gegenspieler von Seiten der »liberals«. Nicht zuletzt die rhetorischen Rechtsausleger, die sich außer auf Fox News vor allem im Radio weithin Gehör verschaffen, waren es, die Clinton´s Ansehen nachhaltig beschädigt haben. Der auf der Gegenseite ebenso verhasste Bush blieb von einer vergleichbaren medialen Nemesis indes verschont. Jedenfalls bis jetzt. Denn an dieser Stelle tritt Michael Moore mit seiner filmischen Polemik auf.
Dabei darf man spekulieren, ob Moore für seine stets ungestüme, manchmal plumpe, manchmal raffinierte Attacke gegen Bush nicht das Leitmedium Fernsehen statt des Kinos favorisieren würde. Denn der Filmemacher verfolgt offenkundig das Ziel, zur Abwahl seines Präsidenten beizutragen; und zur Beförderung dieses Ziels wäre das Fernsehen wegen der größeren Breitenwirkung fraglos am besten geeignet.
Mitte der 90er Jahre ist Moore tatsächlich regelmäßig auf der Mattscheibe zu sehen gewesen, mit den Shows »TV Nation« und »The Awful Truth«, denen allerdings nur kurze Laufzeiten beschieden waren. Ohnehin war das Fernsehen, bis die Reagan-Administration einen Riegel vorschob, in den USA traditionell das wichtigste Forum für den politischen Dokumentarfilm. Auch das Genre der Stand-up-Comedy, bei dem Moore Anleihen macht, findet durch das Fernsehen seine größte Verbreitung. In einigen an kabarettistische Nummernrevuen erinnernde Passagen verrät »Fahrenheit 9/11« auch deutlich seine Nähe zu TV-Comedy-Formaten.
Solche Sequenzen sind allerdings die schwächsten, etwa wenn die Koalition der Willigen durch eine Montage nationaler Stereotypen parodiert wird. Das fällt umso mehr auf, weil »Fahrenheit 9/11« ansonsten beweist, dass Moore, unabhängig von etwaiger Fernseh-Affinität, ein herausragender Filmemacher ist. So kommt etwa sein Umgang mit Archivmaterial in den besten Momenten einer geglückten Popularisierung von Methoden der Filmavantgarde gleich. Den 11. September ruft er zum Beispiel in Erinnerung, indem er die Explosionen und Einstürze nur über die Tonspur vermittelt und die Leinwand schwarz lässt, bis in verlangsamten Close-ups Eindrücke stummen Entsetzens montiert werden. Dass Moore auch das Zeug zu einem guten traditionellen Dokumentaristen hätte, ist zu erahnen, wenn er zwei Rekrutierungsbeamte bei der Arbeit begleitet. Während er sich ausnahmsweise im Hintergrund hält, reichen wenige temporeich geschnittene Minuten, um zu entlarven, mit welchen Tricks die Marines den militärischen Nachwuchs ganz gezielt unter jungen Habenichtsen suchen.
In filmischer Hinsicht noch imposanter ist ein Handlungsstrang, in dem Moore virtuos auf der Klaviatur der Melodramatik spielt: In einem Dutzend Szenen wird eine Frau porträtiert, deren Sohn früh im Irakkrieg gefallen ist. Wie der Filmemacher die Trauer der Mutter erst nach und nach in den Vordergrund treten lässt, um schließlich die Kamera ganz dicht draufzuhalten, wenn die sie beim Besuch in Washington vor dem Weißen Haus von ihren Gefühlen überwältigt wird – das ist höchst manipulativ. Allerdings muss man Moore zubilligen, dass die Frau in diese Darstellung eingewilligt hat und dass sie betont, das Recht gehabt zu haben, jede erdenkliche Streichung zu verlangen. Und bei all dem erscheint ihre Person in wenigen Szenen komplexer als sonst im Kino die Protagonisten über die Gesamtlänge eines Filmes. Dass sie patriotisch und kritisch, konservativ und liberal zugleich ist, verrät eine beeindruckende Konzentration in der Montage, die, bei aller Manipulation des Publikums, Integrität gegenüber der abgebildeten Person beweist.
Trotz der beeindruckenden erzählerischen Ökonomie taugt solche Melodramatik natürlich ebenso wenig als politisches Argument wie die Dramaturgie einer Montagesequenz, die idyllische Straßenimpressionen aus Bagdad mit der Durchschlagskraft der Kriegsmaschinerie einer Supermacht kontrastiert und schließlich Dokumente einer siegreichen Truppe auf moralischen Abwegen folgen lässt. Das mag man bedauern; man mag sich darüber auch ärgern. Gerecht werden kann
man dem Phänomen »Fahrenheit 9/11« aber nur, wenn man die oben skizzierten Bedingungen berücksichtigt, unter denen er in den amerikanischen politischen Diskurs eingreift. Insofern bietet Deutschland, wo mit selbstgefälligem Bush-Bashing der denkbar größte Konsens zu erzielen ist, einen unglücklichen Kontext für die Rezeption des Films.
Dass der Erfolg, den Moore bereits mit seinem Debütfilm »Roger & Me« hatte, junge Dokumentarfilmer zur Übernahme seiner Markenzeichen bewegen würde, war abzusehen. Und so läuft mit »Super Size Me« momentan ein Film in den deutschen Kinos, dem das Vorbild unverkennbar anzusehen ist. Wie von Moore gewohnt, stellt sich Morgan Spurlock, ungeniert (aber vergleichsweise unaufdringlich) in den Mittelpunkt seines eigenen Debütfilms. Um an seinem eigenen Leib den Zusammenhang zwischen dem regelmäßigen Fast-Food-Konsum seiner amerikanischen Landsleute und ihrem Übergewicht zu überprüfen, hat er sich einer Extremdiät unterworfen: Einen Monat lang darf er nur essen, was bei McDonald´s auf der Speisekarte steht. Spurlock ahmt mithin die absurden Selbstversuche des Reality-TV nach. Der Verzehr seines ersten »Super Size«-Menüs endet dann auch, wie jugendlicher Blödsinn bei MTVs »Jackass« endet: Erbrechen vor laufender Kamera.
Wie Moore will dabei auch Spurlock sein Publikum unterhalten, um zwischen allerlei Gags die wohl älteste Ambition des Dokumentarismus zu erfüllen: kritische Einsicht zu befördern. Während das Bild des Firmenmaskottchens Ronald McDonald mit Curtis Mayfields drogenkritischem Song »Pusherman« unterlegt wird, erfahren wir beispielsweise, dass der Konzern seine Stammkundschaft firmenintern in abgestufte Kategorien einteilt, deren Begriffe
den unterschiedlichen Graden
der Drogenabhängigkeit entlehnt sind. Wenn Spurlock die Rutsche einer McDonald´s Filiale besteigt, führt er vor Augen, dass der Fast-Food-Riese mit Marketing und Spielangeboten gezielt Kleinkinder ins Visier nimmt, die anschließend umso enger an die Marke gebunden werden können, weil der Konzern in den USA viele Schulkantinen betreibt.
So gelingt dem Film – anders als »Fahrenheit 9/11« – ein beeindruckendes argumentatives Kunststück: nämlich regelmäßige Burger-Esser weitgehend von der Verantwortung für ihre Fettleibigkeit freizusprechen und zu einem Großteil die Fast-Food-»Pushermen« verantwortlich zu machen.

Info
Fahrenheit 9/11 (dto) USA, R: Michael Moore, 110 Min. Start: 29.7.
Super Size Me (dto) USA 04, R: Morgan Spurlock, 96 Min. Der Film ist bereits angelaufen.