»Ich habe zehn Kilo zugenommen«

In Köln werden Schwerstabhängige im Rahmen einer Studie mit reinem

Heroin behandelt. Einer von ihnen hat seine Erlebnisse aufgeschrieben,

Conny Crumbach hat sich vor Ort den Alltag in der Heroinambulanz angesehen

Es sind 48 Plastikschalen – klein, rechteckig. Nebeneinander aufgereiht stehen sie auf einem Metall-Rollwagen. In jeder Schale liegt ein buntes Synthetikband, auf das jemand mit Filzstift einen Namen geschrieben hat. In einer Schale befindet sich außerdem eine Brille. »Wir haben festgestellt, dass einer unserer Patienten nie seine Venen traf, wenn er sich einen Schuss setzte. Als die Sozialarbeiterinnen ihn darauf aufmerksam machten, hat er eingewilligt einen Sehtest zu machen. Seitdem injiziert er sich das Heroin mit Brille«, erklärt Doris Dieninghoff. Sie ist die leitende Ärztin des Heroinmodells in Köln – einer Medikamentenstudie, die bundesweit in insgesamt acht Städten durchgeführt wird.
Die Studie soll die Daten liefern, auf deren Grundlage die Bundesopiumstelle und das Ministerium für Gesundheit voraussichtlich Mitte 2005 entscheiden werden, ob Heroin in Deutschland als Medikament zugelassen wird. Teilnehmer dieser Untersuchung sind ausschließlich Schwerstabhängige, die mit keiner anderen Therapie mehr erreicht werden konnten und vor zwei Jahren in einem aufwändigen Verfahren ausgewählt worden sind. Getestet wird, ob die regelmäßige Abgabe von Heroin an Schwerstabhängige deren gesundheitliche Situation stabilisiert oder gar verbessert.

*Ich bin 42 Jahre alt und seit fast 12 Jahren heroinabhängig. Ein Junkie. Ich machte unzählige Entgiftungen und zwei Therapien. Der erste Arzt, den ich 1992 deswegen aufsuchte, machte ein trauriges Gesicht, verschrieb mir ein Päckchen Codein und gab mir eine Einweisung zur Entgiftung ins Krankenhaus. Es war Frühsommer und ich hatte seit knapp einem halben Jahr mein Studium abgeschlossen.[...] Alle Versuche mit Schore ein normales Leben zu führen scheiterten. Und ohne Schore ging’s erst recht nicht

Das Projekt wurde zehn Jahre lang vorbereitet. Das Hamburger Zentrum für Interdisziplinäre Suchtforschung koordiniert die Studien, und Wissenschaftler entwickelten dort Richtlinien für die Durchführung. In allen Städten gibt es eine »Experimentalgruppe«, die 24 Monate Heroin erhält, und eine »Kontrollgruppe«, die 12 Monate unter den gleichen Bedingungen mit Methadon substituiert wird. Im August 2002 startete die Studie in Köln. Räume in der Lungengasse in der Nähe des Neumarkts wurden umgebaut. Als Sicherheitsmaßnahmen gibt es unter anderem einen Tresor für das Heroin und Sicherheitstüren auf jeder Etage. In der zweiten Etage haben die Sozialarbeiterinnen ihre Büros, denn eine soziale Betreuung auf freiwilliger Basis, die wissenschaftlich dokumentiert und ausgewertet wird, gehört ebenfalls zur Studie.
Ganz anders als etwa bei der Methadon-Substitution von Schwerstabhängigen wird Beikonsum von anderen Drogen während der Heroinstudie nicht sanktioniert – es sei denn, das Leben des Patienten wird dadurch gefährdet. So müssen die Patienten vor der Vergabe einen Alkoholtest machen, weil Heroin durch Alkohol verstärkt wird und es
zu Beeinträchtigungen des Atmungsapparats kommen kann.

*Am 4. September 2002, nach vier Monaten des Wartens, kam ich in die Kontrollgruppe Methadon. Ich bekam einen zweistündigen Heulkrampf. Methadon war mir nur zu vertraut, und ich wusste schon damals, dass dieses Zeug, weil es die körperlichen Entzugssymptome verhindert, zwar einige Vorteile hat, aber im Endeffekt die Situation gesundheitlich oft nur verschlimmert, den Konsum von Heroin und weiteren Drogen kaum verringert, alle Emotionen im Keim erstickt, und dazu noch unheimlich traurig macht. Entsprechend wenig änderte sich in diesem Jahr. Ich bekam mein tägliches Methadon, und immerhin verzichtete die Studie auf allzu drastische Sanktionen, wenn durch die regelmäßigen Urinkontrollen Beikonsum jeglicher Art festgestellt wurde.

Die Türen in der Lungengasse werden jeden Tag drei Mal für die Heroinvergabe geöffnet. Der erste Termin ist morgens von viertel vor acht bis halb zehn. Bereits gegen halb Acht sammeln sich die ersten der insgesamt 48 Patienten draußen auf der Straße. Wer zu spät kommt, ist erst beim nächsten Termin am Mittag wieder dabei. Ausnahmen gibt es nicht. Die eigentliche Vergabe findet in der ersten Etage statt. Man betritt einen großen Raum, dort halten sich die Patienten vor und nach der Injektion auf, trinken Kaffee, rauchen, unterhalten sich oder lesen. Zunächst wird die Reihenfolge festgelegt. »In der ersten Zeit war das ein ziemliches Chaos. Jeder wollte der Erste sein und alle stürmten auf einmal auf den Mitarbeiter los. Inzwischen haben wir dazugelernt und klare Regeln eingeführt. Die Berufstätigen etwa sind immer zuerst an der Reihe«, beschreibt Doris Dieninghoff ihre Erfahrungen. Drei Patienten haben mittlerweile einen festen Job, und weitere neun sind in Arbeitsmaßnahmen beschäftigt.
An der Rückwand des Wartebereichs befindet sich hinter einer Panzerglasscheibe der Mitarbeiterraum. Dort werden die Spritzen aufgezogen. Jeder Patient hat seine individuelle Dosis, die er bis zu einem Höchstwert von 1000 Milligramm täglich‚ selbst bestimmen kann. Ein Mitarbeiter legt die vorbereitete Spritze in die Plastikschale des Patienten. Mit dem darin liegenden Band binden die Patienten bei der Injektion ihren Arm ab. Durch eine Art Schublade erreicht die Schale den Patienten, der dem Mitarbeiter im »Konsumraum« hinter einer weiteren Panzerglasscheibe gegenüber sitzt. Die gebrauchte Spritze wird durch ein Plexiglasrohr geworfen und landet in einem Müllbehälter auf der Mitarbeiter-Seite. Die Wirkung des Heroins hält etwa vier bis sechs Stunden an und wird von den Patienten als »angenehmer, entspannter, klarer Zustand« beschrieben. Direkt nach der Injektion warten sie auf den »Kick«, der zwei bis vier Minuten dauert.
Auch damit gab es Probleme, erzählt Doris Dieninghoff: »Unsere Patienten haben anfangs gesagt: Das ist gar kein Heroin, das ihr da habt. Weil der Kick ausblieb. Nach Rücksprache mit Ärzten und dem Institut in Hamburg kamen wir darauf, dass der Adrenalinspiegel für die Wirkung des Heroins wichtig ist – das heißt auf der Straße unter Stress wirkt der Stoff intensiver.«

*Am 4.9.2003 hatte ich das unerwartete Glück, doch noch in die Experimentalgruppe nachzurücken, und ein elf Jahre währender Albtraum endete. Seit vier Monaten bekomme ich zweimal täglich Heroin. So unwirklich und wunderbar die ersten Tage mir auch erschienen, so selbstverständlich und unspektakulär gestaltet sich inzwischen die Vergabe. Den Konsum von Straßenheroin habe ich vom ersten Tag an eingestellt, ebenso den von Haschisch. Nach vier Wochen war auch mein Tablettenkonsum auf Null reduziert. Meine Gesundheit hat sich stabilisiert, ich habe etwa 10 Kilo zugenommen.

Die sozialen Betreuung nehmen die meisten Patienten wahr. In Köln wird individuelles Case-Management praktiziert. Das heißt die Patienten formulieren in Einzelgesprächen persönliche Ziele, bei deren Umsetzung sie praktisch unterstützt werden – so werden sie etwa zum Wohnungsamt begleitet. Außerdem erinnern die Sozialarbeiterinnen die Patienten regelmäßig an die selbstgesteckten Ziele und rufen sie dafür auch zu Hause an. Die Vertrauensbasis sei sehr groß, berichtet die Sozialarbeiterin Beate Amoei, weil nicht grundsätzlich mit Sanktionen gearbeitet werde. Die Patienten sollen sich zuerst gesundheitlich stabilisieren, sich dann sozial integrieren und erst danach die Sucht bekämpfen.
»Dadurch, dass die Patienten sich nicht mehr den ganzen Tag um die Beschaffung der Droge kümmern müssen, haben sie unglaublich viel Zeit. Das gibt ihnen oft zum ersten Mal seit Jahren die Möglichkeit, ihre Situation zu reflektieren«, sagt Doris Dieninghoff.
Vielleicht ist das für manche die letzte Chance, ihre jahrelange Heroinsucht hinter scih zu lassen, mit deren körperlichen und psychischen Folgen die Teilnehmer zu kämpfen haben. Bis Ende des Jahres ist die weitere Finanzierung der Studie durch Bund, Land und Stadt gesichert. Alle Beteiligten hoffen nun, dass die Finanzierung bis zur Entscheidung über die Zulassung von Heroin als Medikament in Deutschland, die Mitte 2005 erwartet wird, weiter von den Städten mitgetragen wird. »Ansonsten, das wissen wir aus vergleichbaren Studien in den Niederlanden,« die Ärztin, »wird ein Großteil der Patienten innerhalb weniger Wochen wieder genau an dem Punkt sein, an dem wir vor zwei Jahren mit der Behandlung begonnen haben.«

*Die kursiv in diesen Text eingefügten Passagen sind Auszüge aus dem Bericht eines Abhängigen, der an der Studie teilnimmt