Anarchie in der Architektur

Wohnen, schöner Wohnen, wohnen heute – das Forum aktueller Architektur plan 04 macht im September »Wohnen« zum Schwerpunktthema. Wir stellen eine Kölner Siedlung vor, die manches über das Bauen und Wohnen lehrt: den Egelspfad.

Zwei Frauen inspizieren radelnd ihre Wohnsiedlung, begutachten die jüngsten Neubauten. Sogleich beginnt die ältere heftig zu schimpfen: »Hier darf wohl jeder bauen was er will, so was gehört doch verboten.« Worauf hin die jüngere bestätigt: »Ja, dieser Kasten, das ist doch kein Haus, einfach nur hässlich, so was gab es hier früher nicht.«
Hier, wenige hundert Meter außerhalb des Militärring, am äußersten Ende von Müngersdorf, in der Siedlung Egelspfad, ist fast alles erlaubt. Hier bauen Familien ihre Eigenheime, realisieren sich jenen Traum vom Wohnen, der in den Köpfen der meisten Deutschen lebendig ist: Das Haus im Grünen. Ein Traum, den Kritiker als Zersiedelung bezeichnen, ein Traum zudem, der in Deutschland durch die Kombination Eigenheimzulage und Kilometergeld – noch – staatlich begünstigt wird. Was dazu führt, dass in der Realisierung eben dieses Traums zerstört wird, wonach sich die deutschen Wohngelüste so sehnen: Natur.

Wildes Wohnen

Der Traum lebt unbeirrt, der vom »schönen Haus«. Was aber ein Haus ist, zumal ein schönes, wird andernorts meist durch pingelige Bauauflagen fernab von Traumwelten festgeschrieben: Von der Dachneigung über die Höhe der Traufe bis hin zu Fenstergrößen, Farbe des Wandputzes und Art der Dachziegel. In fast allen Neubausiedlungen sind feste Parameter vorgegeben, nach denen sich die Bauherrschaft zu richten hat. Hier aber, Am Lindenweg und in den anderen Straßen der Ende der 70er entstandenen Siedlung Egelspfad, wo heute auch der Oberbürgermeister Fritz Schramma residiert, lockerte die Stadt Köln die Bauvorschriften. Ihr Ziel war es, wie man beim Stadtplanungsamt erfährt, auch jene wohlsituierte Bauherrschaft im Stadtgebiet zu halten, die nach individueller Architektur verlangt. So wandelt sich hier die individuelle Formel »schöner Wohnen« in die kollektive Losung: wilder Wohnen. Allerdings inzwischen in abgemilderter Form, denn für den jüngsten Bauabschnitt legte man fest, dass maximal zwei Wohnparteien ein Haus beziehen dürfen, gab die bebaubare Grundfläche für jedes Grundstück vor und verpflichtete die Bauherren extrem schalldichte Fenster zu verbauen. »Wohl, damit sich nachher niemand über den Krach von Bahn und Autobahn beschwert«, vermutet eine Anwohnerin. Ihren Namen will die Bewohnerin, wie einige andere auch, lieber nicht in der Zeitung lesen. Indes: Über Krach klagt hier niemand. Auch die radelnden Frauen nicht, die eben noch »den Kasten« verbieten lassen wollten.

Schlichte Schönheit

Der Kasten ist ein quadratisches Haus, dessen Wände mit Holzleisten verkleidet sind, ein Haus, das ein Flachdach sein eigen nennt und durch große Fenster vom Tageslicht erhellt wird, aber nicht mit schaufensterartigen Glasfronten Offenheit signalisiert, die bei einem privaten Haus in enger Bebauung ohnehin der gebauten Lüge gleich käme. Ansonsten fehlt hier jeder Zierrat: Kein hübscher Krüppelwalm am Dach, keine Überstände, und schon gar keine prunkvollen Säulen, die den Eingang schmücken. Nichts. Kein Zitat, kein Ornament. Nur ein Kasten von schlichter Schönheit – was sicher bald die Wohn-Fachpresse anlocken wird, um die Seiten der Hochglanzmagazine mit ebenso vorbildlicher wie zeitgenössischer Architektur zu füllen. Entworfen hat den Bau, so verrät ein Nachbar, die darin lebenden Architektin, die zum Zeitpunkt unseres Besuchs im Urlaub weilt.
Über die radelnden Damen und ihre Engstirnigkeit amüsiert sich einer der Anwohner. »Es ist doch«, sagt er, »gerade reizvoll, nicht in einer so eintönigen Siedlung zu wohnen«. Womit er die Meinung der meisten Egelspfad-Bewohner ausspricht. Immer wieder ist von Liberalität zu hören, von einem Stilmix, den man hier schön nennt; auch Vielfalt, Freiheit und große Abwechslung wird immer wieder gelobt. Viel mehr Sorgen machte sich eine frisch zugezogene Familie denn auch um den Ruf der Siedlung, als sie vor drei Jahren nach geeignetem Bauland Ausschau hielten. Von einer Siedlung für Versnobbte hatte man raunen gehört, auch von einer Gegend »für bessere Leute« war die Rede. Später, nach Gesprächen mit Anwohnern, sei man aber von deren Offenheit überzeugt worden, hätte bemerkt, dass hier auch nur ganz »normale Menschen« leben. Was viele Bewohner der Siedlung bestätigen – und betonen.

Porsche und Mercedes

Dass sich hier freilich kaum Durchschnittsverdiener nieder lassen, wird an den Grundstückspreisen deutlich, die aktuell für Bauland aufgerufen werden, das die Stadt Köln noch im Angebot hat. Mit 485 Euro je Quadratmeter schlagen die 660 bis 980 Quadratmeter großen Grundstücke mit 320.000 bis 475.000 Euro zu Buche – klar: ohne Haus drauf. So verwundern die Porsches und Mercedes-Limousinen, die vor den Häusern parken, ebenso wenig wie die Alarmanlagen und Sicherheitskameras, die hier und da unter den Dachüberständen angeschraubt wurden. Von Mauern, meterhoch, sind hier viele der Häuser umgeben. Nicht so ein Haus unweit des »Kastens« mit einer großzügigen gepflasterten Auffahrt, die den Besucher zu einem nobel wirkenden Eingangsportal führt, das von Säulen umsäumt ist. Statt Zäune oder Mauern wacht hier ein Hund. Inmitten der kreisrunden Auffahrt, die jenen herrschaftlichen Charme atmet, den Herrenhäuser, Schlösser und sonstige Bauten gehobener Repräsentanz versprühen, steht ein Baum. Ein Bild, das abgerundet wird durch allerlei Ornamente an Fenstern und Gesimsen. Gestalterisch also das exakte Gegenteil des schlichten Neubaus, der den architektonischen Geist skandinavischer Zurückhaltung verkörpert.
Wo viel gebaut wird, der Freiheitsgrad zudem hoch ist, muss noch lange keine Architektur stattfinden, die fachlich versiertem Publikum behagt. Wer im Egelspfad durch die Straßen zieht, findet so ziemlich jede Dachform, jede Art von Ziegeln, unzählige Varianten, wie sich Eingänge gestalten lassen: eine Art Bauausstellung mit realer Bewohnung. Hier gibt es alles: Gelungene Individualisten, gruseligste Liebeserklärungen an das Schönheitsideal der Symmetrie wie private Bauvorlieben, die jeglichen Bezug zur Region verloren haben. Häuser, deren Eingang unter einem typischen Friesengiebel ins Haus führt, gleich so, als würde hier fortwährend Tee mit Kandis-Zucker getrunken, wahrscheinlich direkt am Kachelofen, an dem Fliesen mit blauer Muster-Bemalung kleben. Wenige Hundert Meter weiter scheint, so legt der Baustil nahe, die Toskana zu liegen, einige Straßen weiter drüben dürfte Südfrankreich sein – allein die baumarktmäßigen Kunststofffenster passen nicht ins romantische Bild, das den Bewohnern wohl im Kopf herumspukte, als sie ihre Hausträume ins Werk setzten. Kurzum: Das kölsche Lebensmotto »Levve un levve losse« ist hier, wo die Straßen Kornweg oder Roggenweg heißen, gebaute Realität.

Mit Architekturpreis dekoriert

Wer dieses Motto zu leben weiß, kann über derlei Exzesse schmunzeln. Alf Schütte ist so ein Mensch. Er gehört zu den Bauherren, die auf dem ersten Bauabschnitt ihre Eigenheime errichteten, damals, als hier alles begann, Ende der 70er Jahre. Er ist der einzige Bauherr im Viertel, dessen Haus mit Architekturpreisen dekoriert wurde. Das war 1985: Geehrt wurde der Bau, entworfen von dem Architekten Heinz Bienefeld (1926-1995), mit dem Kölner Architekturpreis und einer Auszeichnung des Bund Deutscher Architekten. Und noch heute ist dies ein Wohnhaus, das von seiner Preiswürdigkeit nichts eingebüßt hat. Statt mit martialischem Mauerwerk das Private vom Öffentlichen zu trennen, wurde ein schlanker Streifen des Grundstücks als gepflasterter Vorplatz angelegt, halb öffentlicher Raum wurde geschaffen. Begrenzt durch eine Ziegelsteinwand, die nur von einer Eingangstür und einem schmalen Fester durchbrochen ist, erhebt sich dahinter die Hauswand – kaum drei Meter hoch. Hinter ihr verbirgt sich die Eingangshalle, eine weitere Stufe auf dem Weg zum Privatreich der Bewohner. Doch obwohl das Haus im hinteren Teil seine volle Geschosshöhe erreicht, ist von der Straße aus nichts davon zu sehen: Behutsam hat der Architekt den Wohntrakt um 50 cm abgesenkt, so dass die straßenseitige Traufe der Eingangshalle als höchste Baulinie wahrgenommen wird.
So viel Zurückhaltung und Einfühlsamkeit stünde den aktuellen Neubauten auch gut an. Stattdessen hat Schütte, angesichts von pseudofeudalen Minipalästen, den Eindruck, in jüngerer Zeit seien »einige amerikanische Präsidenten« ins Viertel gezogen. Was indes die radelnden Frauen über Schüttes unspektakuläre Behausung denken, ist ungewiss. Vermutlich erkennen sie auch darin nur eine Wand. Eine, die man schon damals hätte verbieten müssen.

Führung
Während plan04 veranstalten plan-project und StadtRevue Führungen durch die Siedlung: So, 26.9., 16 Uhr und Di, 28.9., 18 Uhr, Treffpunkt Egelspfad. Die Teilnehmerzahl ist begrenzt: kurze Anmeldung an kunst@stadtrevue.de, Infos unter 0221 / 951541-22. Eine Wegbeschreibung wird per Mail zugesandt.