Foto: Manfred Wegener

Der andere Literaturbetrieb

Die Zentralbibliothek am Neumarkt ist eine der größten deutschen Büchereien. Ein Bericht aus dem Inneren eines Wissensspeichers, der immer mehr als sozialer Treffpunkt eingerichtet wird

Heinrich Böll ist nur mal eben Tee kochen. So scheint es jedenfalls. Auf dem Tisch mit dem fellbehängten Stuhl steht ja noch seine leere Tasse. Daneben eine Remington Traveller Deluxe, die berühmte Schreibmaschine des Kölner Schriftstellers. 

 

Im zweiten Stock der Zentralbibliothek ist das Arbeitszimmer aus seinem Haus in der Eifel hinter Glas zu besichtigen. So, wie es Böll bis zu seinem Tod 1985 genutzt hat. Und man muss kein Anhänger des Literatur-Nobelpreisträgers sein, um angerührt zu werden vom Inhalt dieser Zeitkapsel, die auch einige Kubikmeter altes BRD-Flair konserviert.

 

Eine eigentümliche Ruhe geht davon aus, wie man sie sonst in der Zentralbibliothek, die Böll mit gefördert hat und die heute sein Archiv beheimatet, nicht spüren wird. Denn auch wenn die Stadtbücherei eine Institution der Bildung, des Wissens, der angelegentlichen Versenkung ist — es herrscht schweigsamer Trubel auf den sechs Etagen. An manchen Tagen kommen bis zu 3000 Besucher. Sie streifen an den Regalen entlang, haben sich in Sitzecken niedergelassen, machen Hausaufgaben oder nutzen die neuen multimedialen Angebote. Rund sechzig Angestellte machen das möglich. Diplom-Bibliothekare, Fachangestellte für Medien und Kommunikation, und natürlich Einsteller, die zurückgegebene Bücher, Filme und CDs schnell wieder in die Regale der sechs Stockwerke einsortieren und für Ordnung sorgen.

 

Die Poststelle ist das Getriebe dieser Informationsmaschine. Hier findet der Umschlag statt. Jeden Tagen leihen Besucher rund 4000 Bücher, CDs oder DVDs aus — aber bringen auch ebenso viele zurück. Im sogenannten Stauraum im Parterre werden die Rückgaben vorsortiert, bevor sie mit den Floorwalkern, kleinen Bücherwagen, wieder in die Regale sortiert werden. Der Bestand allein der Zentralbibliothek beträgt rund 130.000 Medien; zusammen mit den elf Filialen in den Stadtteilen sind es etwa 850.000. 

 

Mögen einzelne Stadtteilbibliotheken noch piefig wirken, in der Zentralbiblioithek ist die Moderne eingezogen. Seit Juli 2012 verbucht man, was man ausleihen möchte, an Terminals im Erdgeschoss. Die Rückgabe erfolgt an Automaten, einer ist draußen angebracht, sodass man auch sonntags und montags, wenn geschlossen ist, seine Ausleihe zurückbringen kann. Für die Modernisierung ist unter anderem Bettina Scheurer verantwortlich. Und sie gerät nahezu ins Schwärmen, wenn sie bei der Führung durchs Haus endlich die vierte Etage zeigen kann, wo den Nutzern die digitale Zukunft zugänglich gemacht wird.

 

Hier steht auch jener 3-D-Drucker, mit dem es die Zentralbibliothek 2013 in die überregionale Presse schaffte. Nicht nur Do-it-yourself-Tüftlern und jenen, die dringend ein nicht mehr lieferbares Ersatzteil benötigen, auch Medizinern und ihren Patienten kann die Technik helfen, erzählt Scheurer. Derweil druckt der magische Glaskasten einen Biolastik-Dom als Souvenir für den Journalisten. Das Gerät ist das Sinnbild für die Ausrichtung der vierten Etage: Hier gibt es nicht nur Musik-CDs und Filme auf DVD und Blu-ray-Discs. Hier sind »Digitale Werkstatt« und »Makerspace« untergebracht. Man kann im Musikzimmer proben und aufnehmen und dabei die neueste Digitaltechnik benutzen. Workshops lehren digitale Bildbearbeitung, Recherche jenseits von Google, aber auch, wie man billige Spielzeug-Keyboards zu avantgardistischen Sound-Kisten verlötet. Oder eben, wie man den 3-D-Drucker benutzt.  

 

Auch ganz unten, im ersten Kellergeschoss erinnert nichts an eine klassische Bibliothek. Das hat aber andere Gründe. Etwa siebzig Prozent der Besucher sind zwischen zwanzig und vierzig Jahren alt, aber manche eben noch viel jünger: Sie krabbeln auf dem flauschigen Spielteppich herum oder streiten sich um ein Knisterbuch oder Buchstaben-Kuscheltier. Was noch vor Jahren im Kellergeschoss als schummerige »Spielhöhle« konzipiert war, ist heute licht und hell und so etwas wie eine informelle Krabbelgruppe mit humboldtschem Bildungsideal. Auch hier hat die Digitalisierung Einzug gehalten. Es gibt Bilderbuch-Apps und elektronische Stifte, die Audiodateien abspielen, wenn sie auf Motive im Buch gehalten werden. Aber die Kundschaft scheint überwiegend aus traditionellen Lesern zu bestehen. Einige Kinder durchforsten die Rubrik »Pferde ab 8«. Lebenshilfe für Kindergartenkinder steht gleich um die Ecke. Die Rubriken heißen Einschlafen, Übernachten, Brille, Uhr.

 

Muss im Makerspace auf der vierten Etage der Austausch untereinander erst noch angeregt werden — hier unten praktizieren die Kinder ihn längst. Deshalb steht an der Infotheke auch die »Lärm-Ampel«. Zeigt sie Rot, begreifen auch Dreijährige, dass sie im allgemeinen Interesse ihre Stimmbänder schonen sollten. Frau Scheurer will das Gerät beim Rundgang demonstrieren, schafft aber nur Gelb. Die Kinder schafften mehrmals täglich Rot, versichert die Mitarbeiterin an der Theke gespielt zerknirscht.

 

So vielfältig wie die Stadtgesellschaft ist auch das Publikum in der Zentralbibliothek. Es gibt einzigartige Angebote wie die Blindenbibliothek oder die Germania Judaica, die Bibliothek zur Geschichte des Judentums in Deutschland. Aber viele kommen halt auch, weil sie ein Handbuch für ein bestimmtes Betriebssystem suchen oder eine Anleitung für Aquarellmalerei. Andere benötigen Reiseführer oder wollen sich ein Hörbuch ausleihen. Und im dritten Stockwerk gibt es neben Philosophie und Religion eben auch die Sachgruppe Esoterik. In den wenigen Regalmetern stehen »Weisheiten der Baumseelen« der Ratgeber »Vom sinnvollen Umgang mit Geistern und Gespenstern«. Doch der Grundstock ist natürlich der umfangreiche Bestand an Weltliteratur, Geistes- und Naturwissenschaften, Technik und Medizin. In den Politik und Sozialwissenschaften finden sich Aufsteller mit den Publikationen zu den großen Debatten unserer Zeit. Hinter dem Münzkunde-Regal im ersten Stock kichern Teenager über ihren Mathe-Hausaufgaben.

 

Die Zentralbibliothek bietet noch mehr als man sehen kann. Unter dem Kellergeschoss gibt es drei Stockwerke für das Archiv. Hier lagern ältere Bestände oder solche, die nicht oft nachgefragt werden. Nicht zugänglich für Besucher, aber man kann sich die Bücher nach oben liefern lassen. Hier unten scheint aus den meterhohen Regalen das Odeur vergilbter Buchkultur zu entströmen. Bettina Scheurer zieht eine Haydn-Partitur von 1904 aus dem Regal. Trotz aller Euphorie für die neuen Techniken, schlägt das Herz der Kunstexpertin für so etwas, sagt sie. Und wenn man Scheurer später in ihrem kleinen Büro auf die Auseinandersetzung anspricht, ob Bibliotheken in Zeiten des Internet nicht obsolet seien, schüttelt sie den Kopf. Es gehe vielmehr darum, das Beste aus beiden Welten zusammenführen. Scheurer beschwört die »hybride Bibliothek«, eben das, was hier in der Zentralbibliothek zwischen Archiv und Makerspace zu finden ist. 

 

Die Teppichböden im Haus sind an einigen Stellen zwar abgewetzt, aber angesichts der Besucherzahlen erstaunlich gut erhalten. Die Bücherregale, die neuwertig aussehen, stammen noch vom Einzug 1979. Wenn derzeit über die Sanierung der Zentralbibliothek gestritten wird, geht es um Grundlegenderes als die Einrichtung: Vierzig Millionen Euro sind für eine zeitgemäße Infrastruktur mittlerweile veranschlagt, mancher Lokalpolitiker hält einen Abriss des Gebäudes und Neubau an anderer Stelle für geboten. Scheurer spricht sich klar für den Verbleib aus, man sei schließlich Teil des Kulturquartiers am Neumarkt. Das sei auch wichtig, weil Bibliotheken nicht nur Wissensspeicher seien, sondern Orte der Begegnung — etwas, was das Internet allein nicht bieten kann. 

 

Wie gefiele Heinrich Böll wohl heute die Zentralbibliothek, für die er sich so eingesetzt hat? Sich hier miteinander auszutauschen, sagte ihm wohl zu. Und vielleicht würde er heute wie in seinen letzten Jahren kaum noch Romane schreiben — und nun politisch engagiert bloggen. Falls er gleich mit schwarzem Tee in sein Zimmer zurückkehrt, könnte er einen kostenlosen Multimedia-Workshop in der vierten Etage buchen.