Foto: Frank Zauritz

Gegen die Selbstverachtung

Jochen Distelmeyer debütiert als Roman­­­­autor und ist nicht einverstanden, Kunst zum spinnerten Hobby abzuwerten

In den 90er und Nuller Jahren hat wohl keiner die deutsche Indie-Szene zwischen Spex und Underground so geprägt wie Jochen Distelmeyer mit seiner Band Blumfeld. Sechs Jahre nach seinem musikalischen Solodebüt folgt nun sein literarisches: »Otis«. Der Roman spaltet die Kritik. Man müsse ihm die Ideen aus der Nase ziehen, wird moniert. Andere Stimmen beklagen den allzu offensichtlichen, geradezu thesenhaft vorgetragenen Plot des Romans. Wir sprachen mit Jochen Distelmeyer über Musiken im Kopf, den Vertrauensverlust in die Künste, Löcher — und Odysseus.

 


Herr Distelmeyer, ihr Roman »Otis« spielt im gegenwärtigen Berlin. Seit längerem schon gibt es ein Verlangen nach dem großen Hauptstadt-Roman. Was hat Sie dazu bewogen, Ihren Roman in Berlin anzusiedeln? An der Oberfläche haben wir im Roman einen durch die Stadt Berlin der jüngeren Gegenwart schweifenden Jungautor namens Tristan Funke.
Mir war wichtig, durch diese Figur die Stadt auf eine andere Art zu zeigen, nicht so sehr ein den 80ern-Kaputtheits-Klischees entsprechendes Berlin. Ich sah das, was mich an der Stadt begeistert und weswegen ich hierher gezogen bin, ja was mich hier sogar zu Hause fühlen lässt, bisher nicht behandelt. Mir war wichtig, das Großzügige, die Herzlichkeit der Leute, das Offene oder auch den Himmel über Berlin zu beschreiben und einzufangen und im Rahmen eines Großstadtromans zu feiern.

 


Die Introspektion der Hauptfigur wird mit seiner Beschäftigung mit der Odysseus-Sage verschaltet. Mit diesem Verfahren grenzen Sie sich gegen die naive Unmittelbarkeit der Darstellung ab. Was hat Sie daran gereizt? Die Beschäftigung des Protagonisten des Romans mit Odysseus ist ein Hinabsteigen in den Mythos. Odysseus als Mythos ist eine paradigmatische Figur und immer auch assoziationsreich. Die Themen und Erfahrungen, die uns beschäftigen — Flüchtlings- oder Asylpolitik, Waffentechnologien, Kriegsheimkehrer, Gewaltfragen, Diplomatie versus Zuschlagen, Faustrecht gegen Rechtsstaat, Männer-Frauen-Verhältnisse — scheinen mir im Odysseus-Stoff sehr präzise und prägnant gebündelt zu sein. Angesichts der Tatsache, dass das schon ein paar tausend Jahre her ist, kann man darin ein grundlegendes Muster erkennen.

 


War es die Homer-Lektüre, die Sie auf die Idee brachte, einen Roman zu schreiben? Im Zuge meiner Arbeiten zu meiner nächsten Soloplatte habe ich mich mit der Odysseus-Sage beschäftigt. Je mehr ich mit damit auseinandersetzte, desto größer wurde meine Faszination für den Mythos, es kamen immer mehr Einfälle. Das war jedoch zu umfangreich für ein Popalbum. Es korrespondierte auch nicht mit den Musiken, die ich schon hatte. Bei einem Spaziergang schossen mir immer wieder Zeilen durch den Kopf, die ich wie einen Sprechtext gesprochen habe. Im Laufe dieses Prozesses dachte ich mir, das ist kein Song, das ist auch kein Sprechtext. Nein, das ist Prosa, ein Roman. Mir gefiel der Flow und so schien mir der Roman, eine Erzählung, der richtige Rahmen, das darzustellen, was mich beschäftigte.

 


Für Tristan Funke spielt Odysseus die zentrale Rolle seines Weltzuganges. Inwiefern ist die Homer’sche Figur eine paradigmatische Figur für Jochen Distelmeyer? Es gibt derzeit einen Verlust des Vertrauens in die Künste, eine Herabwürdigung von Kulturproduktion und Kunst als »spinnerte Hobbys«. Wenn man sich die aktuellen Oscar-Nominierungen vor Augen führt, dann fällt auf, dass es ein Erstarken einer ganz bestimmten Art von Hollywood-Filmkultur gibt. Ich habe den Eindruck, dass es bei dem nominierten Film »Birdman« um eine von den Darstellern selbst mitgetragene Herabwürdigung von Künstlern als abgehalfterte, narzisstisch gekränkte Größenwahnsinnige geht, die nur noch lächerlich gemacht werden kann. Das kann man zwar als Donquichotterie erzählen wie dieser Film es behauptet, aber ich nehme das als Eins-zu-Eins-Darstellung. Wenn ein ehemaliger Theater- oder Filmschauspieler-Held nackt durch die Stadt läuft und zum Gespött wird, mag das eine ganz gute Selbstbeschreibung sein. Aber das hat trotzdem etwas Selbstverachtendes, etwas Autoaggressives. Diesem Film wird eine Sniper-Figur von Clint Eastwood gegenübergestellt, der zwischen seinen Verpflichtungen als Familienvater und Killer hin- und hergerissen ist. Das ist auch eine odysseushafte Figur. Genauso wie Odysseus im Hades im Angesicht des gefallen Kameraden seine eigene Schuld und Verantwortung realisiert, so erscheint dieser »American Sniper« im Eastwood-Film nach seiner Rückkehr aus dem Krieg von den toten Kameraden heimgesucht zu werden. Trotzdem wird diese Figur des wehrhaften, bewaffneten und kriegsfähigen Mannes als ein mögliches Ideal dargestellt. Wenn man die Oscar-Nominierung als Symptom begreift, wird hier der Soldat gegen den Künstler ausgespielt. 

 

 

Im Roman spielt ein Theaterstück, das Stück mit dem symbolisch vielsagenden Titel »Das Loch«, ebenfalls eine große Rolle. Man könnte das auch als das Loch, als Lücke, im Roman lesen. Klar, im Roman reißen mehrere Löcher auf — wie die Pilze aus dem Boden schießen. Ground Zero, die unterirdische Tunnelsysteme der Schweizer Cern-Anlagen. Das sind alles Löcher. Jedes Gewebe, jeder Text, jeder Teppich hat seine Löcher oder Fehlerstellen. Der Name Otis mit dem großen O ist selber wie ein Eingang zu einem Hades, ein Portal. Gleichzeitig ist das T wie eine Eins. Nullen und Einsen. Man kann Tristans Bewegung durch die Stadt auch verstehen, als wäre er auf der Suche nach seinem Hades. An einer Stelle des Theaterstückes heißt es: Man kann nicht für jemanden anderen ins Loch steigen. Orpheus scheitert, weil er nicht in seinen Hades, in sein Loch hinabsteigt, sondern für Eurydike in ihr Totenreich geht. Und Odysseus scheitert nicht, weil er nicht in seinen Hades hinabsteigt. Und so kann man Tristan Funke auf der Suche nach seinem Hades beschreiben.

 


Patti Smith tauchte schon in Ihrem Songtext »Lass uns nicht über Sex reden« von 1992 auf, nun hört Tristan Funke an einer Textstelle zufällig in einem Café Patti Smith’ Song »Horses«. Welche Bedeutung hat die Dichterin und Musikerin für Tristan, welche für Jochen Distelmeyer? Bei diesen Stellen ging es mir um magisches Wahrnehmen oder magisches Denken. Natürlich hat »Horses« nichts mit dem trojanischen Pferd zu tun, aber aus der Perspektive des Tristan, der gerade Zeitung liest und zufällig dieses Lied hört, sind diese Bezüge evident. Das ist seine Wahrnehmung. Er hört das, weil er sich die ganze Zeit mit Odysseus beschäftigt. Aber da würde ich mit dem anderen Romanprotagonisten, dem Musiker Ole Seelmann, sagen: Etwas anderes als die sogenannte selektive Wahrnehmung gibt es gar nicht. Die Tatsache, dass das — möglicherweise — der Hintergrund für seine Lesart ist, macht den Bezug nicht falsch. Mir war auch wichtig, dies mit einer Figur wie Patti Smith zu illustrieren, die ich einer schamanistischen Rock’n’Roll-Tradition zuordnen würde. Ein Ansatz, den man vielleicht noch bei Depeche Mode oder bei Chris Martin von Coldplay findet, die noch von einer »heilenden Kraft« der Musik ausgehen. Diese Kraft ist für mich immer gegeben, steht aber nicht mehr so im Fokus. Auch Hadesfahrten sind schamanistische Rituale.