Foto: Manfred Wegener

Der Lastenträger

Journalist bei der Bild-Zeitung, Stahlarbeiter, Callcenter-Agent: Um Missstände aufzudecken, schlüpft Günter Wallraff seit 50 Jahren in andere Identitäten. Was treibt ihn an? Und kann man der modernen Arbeitswelt mit Wallraffs Verkleidungsmethoden überhaupt noch beikommen? Ein Hausbesuch in Ehrenfeld

Günter Wallraff ist 72 und trägt einen Dreitagebart. Er mag keine Bärte, aber es muss sein, denn Wallraff ist mal wieder auf der Pirsch. Für die RTL-Sendung »Team Wallraff« gibt er den Investor. Die Branche verrät er noch nicht, nur so viel ist sicher: Es geht um Werkverträge, die Wallraff als »das neue Instrument des Lohn-Dumpings nach der Zeitarbeit« identifiziert hat. Wie Konzerne, darunter Daimler Benz oder der Schlachthof Tönnies, Aufträge an Werkvertragsunternehmen auslagern, die ihre Beschäftigten wiederum mit wenigen Euro pro Stunde abspeisen, hat Wallraff neben anderem in seinem aktuellen Buch »Die Lastenträger« beschrieben.  

 

Wallraff hat dafür mit jungen Journalisten zusammengearbeitet, die sich seiner Methode, also der Rollenreportage, bedient haben. Eine Journalistin etwa arbeitete, unterstützt von einer von Wallraff finanzierten und nach ihm benannten Stiftung, drei Monate beim Online-Modeversand Zalando. Sie legte dort jeden Tag mehr als zwanzig Kilometer zurück. Hinsetzen war verboten, und jeder Schritt der Mitarbeiter wurde durch deren Handscanner permanent von Vorgesetzten überwacht. Arbeitsschutz und Arbeitszeitregelungen scheinen dort völlig unbekannt, obwohl sie gesetzlich verbrieft sind. Ähnliche Missstände deckten Wallraff und seine Kollegen bei Burger King, in der Paketbranche und in der Altenpflege auf.

 

Wo Wallraff heute seine Rollen vorbereitet, haben seine Großeltern früher Klaviere gebaut. Wallraff hat die ehemalige Werkstatt mit seinen selbstgemachten Stein-skulpturen ausstaffiert, aus der Bücherwand lugt eine Auswahl von »Ganz unten«-Ausgaben hervor, seiner legendären Rolle als türkischer Gastarbeiter Ali bei Thyssen, die in 30 Sprachen übersetzt wurden. 

 

Für seine Arbeit wendet Wallraff immer noch die gleichen Methoden an wie damals, als er sich mit Kontaktlinsen und gefärbtem Schnurrbart in Ali Sigirliolu verwandelte. Um einen 50-jährigen Callcenter-Agent zu spielen, setzte Wallraff sich im Jahr 2009 ein Toupet auf, als Investor hat er schon mal einen Unfall vorgetäuscht und eine Halskrause getragen, für die Rolle eines Somaliers auf Deutschlandreise ließ er sich sogar schwarz anmalen. Das kann auch komisch wirken. »Man muss schon aufpassen, dass die Geschichten, die man abliefert, nicht irgendwann wirken wie eine Parodie des eigenen Frühwerks«, hat Gerhard Kromschröder kürzlich mit Blick auf Wallraff gesagt. Auch Kromschröder hat in den 60er und 70er Jahren die Rollenreportage kultiviert, hat als türkischer Gastarbeiter — Jahre vor Wallraff — dem bundesdeutschen Rassismus nachgespürt und mit falscher Identität in der Neonazi-Szene recherchiert. 

 

Kromschröder, Wallraff und Alice Schwarzer arbeiteten eine Zeit gemeinsam bei dem Magazin Pardon. »Auch Schwarzer hat damals am Fließband gearbeitet. Irgendwie lag das damals in der Luft: Wir wollten hinter die Kulissen sehen.« sagt Kromschröder. Er gab die Rollenreportage Ende der 80er Jahre auf und wurde Nahost-Korrespondent. Wallraff macht weiter. Auch in der schönen neuen Arbeitswelt von Amazon und Crowdsourcing, auch noch mit 72 Jahren. 

 

Vielleicht passt Wallraff sogar besonders gut in die Arbeitswelt von heute. Während er in den 60er Jahren noch komisch angeschaut wurde, als er bei Ford als Deutscher am Fließband arbeiten wollte (»Sie können doch im Lager arbeiten, am Fließband sind doch nur Ausländer!«), bekommt er heute problemlos jeden schlecht bezahlten Job, den er haben will. »Wenn man ein paar Akzente verschiebt, gehe ich auch noch als früh gealteter Mittfünfziger durch. Da kriegt man heute sogar noch einen Job als Praktikant«, sagt Wallraff. Und wer sich ganz selbstverständlich alles nach Hause liefern lässt, ohne sich dafür zu interessieren, wie all die schönen Dinge wohl zu ihm geflogen kommen, dem kann auch der Paketbote egal sein. Wallraff hat Pakete an Tausende Haushalte verteilt, ohne auch nur einmal erkannt worden zu sein. »Einem Kuli schaut man nicht ins Gesicht«, so Wallraff. Seine Requisiten, Toupet und Gipsarm, sie scheinen geradezu perfekt in die moderne Arbeitswelt zu passen. 

 

Hinzu kommt, dass Wallraff noch immer in seinen Rollen aufzugehen scheint. »Als Paketfahrer bin ich ein Nobody, da kann ich den Menschen ganz anders begegnen«, sagt er. Das sei für ihn das authentischere Leben. »Wenn ich über längere Zeit in einer Rolle lebe, kommt es vor, dass ich sogar in der neuen Identität träume.« Wallraff hat dabei an Orten recherchiert, an die ihm nicht viele andere Journalisten folgen würden. Er hat als Obdachloser im Winter auf der Straße gelebt, er arbeitete bei Thyssen ohne Staubmasken und bekam Abszesse am Hals. In Griechenland wurde er nach einer Ankettungsaktion 1974 von der Militärjunta verhaftet und gefoltert. »Ich bin Agnostiker, aber manchmal denke ich: Was dir da alles widerfahren ist, eigentlich dürfte es dich längst nicht mehr geben. Wer spielt dir da eigentlich mit?«

 

Dass ihm auf RTL zwei Millionen Menschen bei der Arbeit zugucken, findet Wallraff selbst erstaunlich. »Über die Qualität sagt die Quote zwar nichts aus, aber mir ist wichtig, dass ich die Menschen erreiche, die unter solchen Bedingungen arbeiten«, sagt Wallraff. Die Öffentlich-Rechtlichen schalte von den jungen Menschen ja keiner mehr ein. 

 

Jetzt aber bekommt Wallraff Zuschriften von diesen Leuten, viele Zu--schriften. Er zeigt ein paar Ausdrucke aus der vergangenen Woche: Da geht es um Demütigung von Auszubildenden im Wachgewerbe, um einen Gärtner, der — eigentlich verbotene — Akkordarbeit leisten muss, um Ideenklau in der Modebranche. Wallraff beantwortet jede einzelne Anfrage. Er betont, dass er das nicht als Journalist tue. »Das ist ein unentgeltliches Beratungsbüro und manchmal auch eine Menschenrechtsinitiative«, sagt Wallraff. Er hat dafür den Verein »work-watch« gegründet. Gemeinsam mit dem Journalisten und ehemaligen StadtRevue-Redakteur Albrecht Kieser, der das Büro leitet und auch Wallraffs Texte lektoriert, einem Anwalt im Ruhestand und einem pensionierten Pfarrer geht er den Fällen nach. Er bittet schon mal die Konzernleiter zum Gespräch — und erreicht in vielen Fällen eine Entschädigungszahlung. Wallraff erzählt, viele Leute drängten auf eine Veröffentlichung, doch er rate ihnen häufig davon ob, weil er im Stillen mehr für sie erreichen könne. 

 

Ihm ist egal, dass er sich damit sein eigenes Thema kaputtmacht. »Wichtig ist, dass man etwas erreicht«, sagt er. »Das Ergebnis zählt.« Mit diesem Argument perlt auch Kritik an ihm ab. Zum Beispiel der Vorwurf, er schreibe seine Texte gar nicht selbst. So hat der Konkret-Herausgeber Hermann Gremliza schon vor einem Vierteljahrhundert behauptet, er habe »Der Aufmacher« als Ghostwriter geschrieben, also den Bestseller, in dem Wallraff über seine Zeit als Bild-Redakteur Hans Esser berichtet hat. Wallraff selbst hat das als »erweitertes Lektorat« gewertet, er findet offenbar nichts Verwerfliches daran. »Es ist eine Heuchelei, die Methode anzugreifen, um von den Inhalten abzulenken«, sagt Wallraff. Er meint damit eigentlich die Vorwürfe, die er sich wegen seiner falschen Identitäten gefallen lassen musste. Kritiker warfen Wallraf vor, er sei unehrlich, er täusche die eigenem Kollegen, spiele ihnen vor, er sei einer von ihnen. 

 

»Ich habe noch nie von einem Kollegen einen Vorwurf gehört«, sagt Wallraff dazu. »Die haben hinterher immer gejubelt.« Er wird also noch weitere Rollen ausprobieren. Und wenn er dafür einen Dreitagebart
tragen muss.