Danke, Berlin!?

Am 5. April 1815 fiel das Rheinland an Preußen. Dessen Herrschaft galt als wirtschaftlich erfolgreich, aber politisch katastrophal. Jetzt wird der Jahrestag der antifranzösischen Restauration im Rheinland mit einer wahren Gedenkwut gefeiert, das pikante Motto: »Danke, Berlin!«

»Wir in NRW« — wenn es einen ideologischen Triumph der hiesigen SPD gab, dann war es die Wirkung, die dieser Slogan auslöste. Fast dreißig Jahre ist das her, dass die SPD-geführte Landesregierung eine groß angelegte Werbekampagne startete, die ganz elegant ohne Verweis auf die SPD auskam. Der Slogan verfing selbst bei denen, die nie SPD wählen würden, das weiß ich aus eigener Anschauung: Meine Eltern machten ihn sich zu eigen, mit Deutschland konnten sie nie viel anfangen, aber sie waren jetzt NRW-Patrioten. Und mit ihnen die ganze Familie. Heute noch wäre es für mich naheliegender, in Hagen zu wohnen als in Berlin.

 

»Wir in NRW«, das untermauerte den Aufstieg der SPD zur Staats­partei, den ihr auch Christdemokraten nicht mehr bestreiten mochten. Der Spruch sollte ein Zusammengehörigkeitsgefühl in einem ökonomisch, kulturell, historisch widersprüchlichen Bundesland stiften helfen, und last but not least manifestierte sich in ihm auch der Föderalismus der Nachkriegszeit. Wer politisch auf Identität setzte, backte kleinere Brötchen. Die 2005 gestartete »Du bist Deutschland«-Kampagne wäre in den 80er Jahren undenkbar gewesen. Wer Föderalismus und Lokalpatriotismus beschwor, setzte sich — nicht explizit, aber jeder wusste Bescheid — von einer imperial-deutschen, durch die autoritären preußischen Reichszwangsvereiniger gestifteten und von den Nazis unheilvoll abgeschlossenen Traditionslinie ab. War nicht die Zerschlagung Preußens und damit die Beseitigung aller preußischen Zentralstaatsambitionen eine der wenigen wirklich dauerhaften Revisionen der alliierten Siegermächte? Bedeutete die Rückbesinnung auf Föderalismus nicht auch die Stärkung lokaler Geschichte, die wie die 1848er Revolution im Rheinland zeigt, deutlich antipreußische Züge trug?

 

»Danke, Berlin« heißt eine schier uferlose Ausstellungs- und Veranstaltungsreihe, die dieses Jahr erinnerungspolitisch und museal die ehemalige preußische Rheinprovinz (umfasst den Nieder- und den Mittelrhein) bestimmen wird. Fast täglich kann man bis zum Jahresende von Bocholt bis Mainz zwischen Führungen und Vorträgen, Gedenkveranstaltungen und historischen Ausflügen wählen, preußische Architektur und preußische Infrastruktur besichtigen, Fahrradtouren durchs preußische Köln und an den preußischen Niederrhein unternehmen, preußische Denkmalpflege bewundern — die Burgen! die Kirchen! — und hier und da auch Kritisches über den Zusammenprall von rheinischer Wein­seligkeit und preußischem Bierernst diskutieren.

 

Ein ums andere Mal haben im 19. Jahrhundert die Preußen den Rosenmontagszug in Köln verboten, klar, wurde doch in den Karnevalsgesellschaften ihr obsessiver militärischer Drill parodiert und ins Spielerische übersetzt. Liberal gesinnte Kaufleute und Unternehmer organisierten sich im preußischen Vormärz, der Zeit vor der 48er Revolution, in diesen Gesellschaften. Karneval, uii!, war politisch, aber doch nicht revolutionär: »Die Leute wollen keine Revolution«, meinte wenige Tage vor Ausbruch der März-Revolution der »Cölner Carnevals«-Präsident Franz Raveaux, Mangel an politischer Urteilskraft ist in dieser Stadt auch heute kein ganz unbekanntes Phänomen. Raveaux allerdings geriet dann doch auf die Seiten der Revolutionäre, saß später im Nationalparlament in der Frankfurter Paulskirche und musste schließlich aus Preußen, wo man ihn symbolisch hinrichten ließ, fliehen. Danke, Berlin? Für was eigentlich genau? Für die Niederschlagung einer Revolution? Die Umwidmung rheinischer Gemeinden zu Garnisonsstädten, in denen preußische Truppen aus den revolutionsfernen Ostprovinzen die Bevölkerung regelrecht belagerten? Für die Restauration nach 1848?

 

So viel offene Preußen-Nostalgie, so große historische Selbstverleugnung — vielleicht auch: Selbstvergessenheit — war selten in den letzten Jahrzehnten. Dabei folgt, ganz im Sinne des deutschen Föderalismus, der Gedenkmarathon keinem Befehl »von oben«, sondern wird vom Rheinischen Verein für Denkmalpflege und Landschaftsschutz initiiert. Aufhänger ist der Abschluss des Wiener Kongresses von 1815: Napoleon ist endgültig besiegt und Preußen wieder franzosenfrei. Es muss aber polnische Gebiete abtreten, wofür es zum Ausgleich u.a. die Rheinprovinz erhält. Wir schreiben den 5. April 1815. Damit ist die Restauration in unseren Breiten besiegelt. Der Dankesgruß nach Berlin wirkt wie nachholender Gehorsam. Spinnen die denn, die Rheinländer?

 

Nein, sie spinnen nicht. Weil es das Rheinland nie gegeben hat, und somit auch nicht den rheinischen Widerstand. Es ist unsinnig, einen geografisch, ökonomisch, sozial und religiös dermaßen heterogenen Raum zu einem Gegengewicht zum autoritären Modernisierungsmodell ­»Preußen« zu stilisieren. Es gab — etwa 1815, 1849 nach der verlorenen Revolution oder 1871 — viele Gründe, warum Kölner Bürger ein »Danke, Berlin« mal murmeln, mal laut ausrufen konnten.

 

»Danke, Berlin« — das ist eben auch eine Klassenfrage. Wer 1848 für Deutschland kämpfte, das heißt für eine Republik der Freien und Gleichen, der Arbeiter und Handwerker — unglaublich, aber das war einst Versprechen, das sich mit dem Namen Deutschland verknüpfte —, wer also 1848 für Deutschland kämpfte, der hatte keinen Grund, sich bei ­Berlin für was auch immer zu bedanken. »Der ›Staat‹ Preußen ist eine von Deutschland sehr verschiedene Kreatur«, zischte noch 1863 der rheinische Revolutionär und dezidierte Anti-Preuße Karl Marx.

 

Man muss sich das preußische Köln als eine Mischung aus Silicon Valley, Wolfsburg und Shanghai vorstellen

 

Aber bevor es zu einem bourgeoisen »Danke, Berlin« kommen konnte, musste es erst mal ein »Danke, Paris« und ein »Danke, Köln« geben. Denn die Westverlagerung Preußens nach 1815 und die Einverleibung einer fast zwanzig Jahre von den Folgen der französischen Revolution geprägten Stadt wie Köln erwiesen sich als politisch-ökonomisch unendlich wertvoller Schachzug. Folgt man dem Historiker Jürgen Herres, Autor des neunten Bandes der renommierten Reihe »Geschichte der Stadt Köln«, »Köln in preußischer Zeit 1815-1871« (Greven Verlag), und wohl bester Kenner dieser Zeit, dann muss man sich das damalige Köln als eine Mischung aus Silicon Valley, Wolfsburg und Shanghai vorstellen — ein zentraler Industriestandpunkt, eine Boom-Town, ein Ort wirtschaftlichen Kreativität und finanzpolitischen Innovation. Silicon Valley?! Köln war Zentrum der Entwicklung neuer Produktions­tech­niken, Nicolaus Klaus Otto tüftelte an seinem Viertakt­motor und gründete 1864 die Gas­motorenfabrik Deutz AG.

 

Köln prosperierte unter den Preußen, die städtische Indus­trie vermochte so viel Produktivität zu entfesseln, dass eine ganze Region mitgerissen wurde. Den Grundstein aber legten die französischen Besatzer, die die Macht des Adels brachen, einer neuen Kaufmanns- und Händlerklasse Platz schufen und die schrankenlose Gewerbefreiheit einführten. Bis 1856 hielten die Kölner an der französischen Kommunalverfassung fest, auch die Gerichts­barkeit war französisch. Hier richteten Geschworenengerichte, was nebenbei dazu führte, dass viele Angeklagte im skandalösen Kölner Kommunistenprozess 1852, auch eine Abrechnung mit der gescheiterten Revolution, vergleichsweise glimpflich davonkamen. Die preußische Obrigkeit hat das nicht goutiert. Im Osten war man stolz, Hort der Konterrevolution zu sein, ein Ehrenbegriff!, und schwor sich, Köln von allen französischen Bindungen zu kappen. Ganz hat es nie geklappt. Das Portal des Justizpalastes am Reichensperger Platz, erbaut von 1907 bis 1911, ist so ausgerichtet, dass es weder auf einer Achse nach Berlin noch nach Rom liegt. Das Recht richtet sich unabhängig von Gott und Kaiser aus. Ein symbolischer Akt der Selbstbehauptung des so häufig so verzagten Kölner Bürgertums.

 

Nach 1850 trugen Kölner Banken erheblich zur Finanzierung der Industrialisierung bei. Köln war Bankenzentrum, Handelszentrum, mit etwas mehr als 100.000 Einwohnern drittgrößte Stadt im preußischen Reich — nach Berlin und Breslau. Und die Preußen hätschelten die Stadt: Köln profitierte von Infrastrukturmaßnahmen, der Hafen war topmodern, am 3. Oktober 1859 wurde die Brücke zum Hauptbahnhof eröffnet, die spätere Hohenzollernbrücke. Eine Reise von Paris nach Berlin konnte man — einschließlich einer einstündigen Rast in, natürlich, Köln — binnen 24 ­Stunden zurücklegen. 1871 benötigte der Schnellzug Köln-Berlin zwölf Stunden, daran scheitert die Deutsche Bahn heute noch des Öfteren.

 

Eine gescheiterte Revolution, von den Bürgern mutlos, von den Armen verzweifelt verteidigt, eingetauscht gegen Wohlstand: das ist die ­rheinisch-preußische Bilanz

 

Danke, Berlin? Durchaus. Es ist eben eine Frage der Perspektive — oder des Klassenstandpunktes, um in der Sprache zweier Revolutionäre zu reden, die vom rheinischen Bürgertum bitter enttäuscht waren. Viele liberale Bürger arrangierten sich in den 1850er Jahren mit der preußischen Reaktion. Politisch war man weitgehend entmündigt, aber wirtschaftlich ging es, von einer kurzen Krise nach 1857 abgesehen, bis weit in 1870er Jahre bergauf. Wer will schon exklusiven wirtschaftlichen Wohlstand gegen politische Freiheit eintauschen, die man sich zudem mit den subalternen Schichten hätte teilen müssen? Und immerhin, Sozialinspektoren vermeinten, zwanzig Jahre nach der Revolution keine Massenarmut mehr zwischen Rhein und Ruhr zu entdecken, offiziell war die Kinderarbeit auf dem Rückzug.

 

Die Wahrheit aber ist: Das Bürgertum war auch schon vor der Revolution viel weniger revolutionär, als die Preußen es befürchteten. Und in der 48er-Revolution selbst agierte es viel mutloser, als Marx und Engels, unsere zwei Revolutionäre, es erhofften. Zwar kam es im gesamten Rheinland zu macht­vollen Demonstrationen. Aber zum einen waren sie von armen Leuten geprägt — und die Koalition mit ihnen gegen das Preußische Militär wollte das Bürgertum dauerhaft eben nicht eingehen. Zum anderen mündeten sie, zumal in Köln, selten in Militanz. Barrikadenkämpfe? In Köln? Die Bürger bauten die Barrikaden auf dem Altermarkt nach nur einer Nacht und ohne Konfrontation mit der Polizei ab. In Iserlohn wurde die Hoffnung auf deutsche Demokratie 1849 erbitterter verteidigt.

 

Dennoch schätzt der Historiker Jürgen Herres in seinem Beitrag zur Kölner Geschichte die Entwicklung der Stadt insgesamt als eine Alternative zum preußischen Obrigkeitsstaat ein: nicht von alten Adels­familien abhängig, nicht auf militärische Drohungen, sondern auf Wirtschaftskraft setzend, offiziell verbohrt katholisch, aber im Alltag tolerant und lebensfroh, immer auf ein gewisses Maß an sozialer Fürsorge bedacht. Vor allem die zwanzig Jahre nach der 48er Revolution sind von einem beständigen Gemaule des Kölner Bürgertums gegen die Steuer- und ­Kirchen-Politik Berlins geprägt. Immer aber arrangierte man sich mit der Zentralmacht, während die ein ums andere Mal den Kölnern entgegenkam. Köln? Eine Art gewitztes Mittelmaß. Kein Wunder, dass die Stadt in der zweiten gescheiterten deutschen Revolution im November 1918 keine Rolle spielt. Kein Wunder, dass der rheinische Separatismus, der nach 1918, aber auch nach 1945 aufloderte, keine große Sprengkraft entwickelte. Aber doch ein kleines Wunder, dass bis heute Kölner Linke meinen, ganz besonders lokalpatriotisch auftreten zu müssen.

 

»Danke, Berlin!« kann, was die Kölner Geschichte angeht, durchaus an eine ungebrochene Tradition anknüpfen. Einen Bezug zur französischen Revolution findet sich kaum, aber das wollten die Preußen ja auch schon: die Verbindungen des Rheinlands zu Frankreich endlich durchtrennen. Gedenken, erst recht, wenn es so umfassend angelegt ist wie »Danke, Berlin«, hat einen gegenwarts­politischen Sinn. Das ist banal, das ist aber auch verstörend: eine gescheiterte Revolution — militärisch niedergeschlagen, von den Bürgern mutlos und von den Armen verzweifelt verteidigt — gegen wirtschaftlichen Aufschwung, so sieht die rheinisch-preußische Bilanz aus. Sie zu affirmieren, das passt in eine Zeit, die als »postdemokratisch« gilt, und von einer Aushöh­lung zivilgesellschaftlicher Institutionen bestimmt ist — von einem wachsenden Misstrauen der Bürger gegen dem Staat und seiner Öffentlichkeit einerseits; aber auch von wirtschaftlicher Prosperität andererseits. »Danke, Berlin«, das gilt ja auch heute noch, zum Beispiel »Danke, Angela Merkel« für das Vaporisieren jeder kontroversen politischen Auseinandersetzung, oder »Danke, Wolfgang Schäuble« für die durchgepeit­schte Austeritätspolitik in ganz Europa. Aber immerhin, vor 150 Jahren konnten die Preußen noch mit dem Wirtschaftsaufschwung, nach 1871 auch mit dem Aufschwung Deutschlands zur Weltmacht, locken. Heute sind »Wir in NRW« von Infrastrukturkrisen am laufenden Band, überschuldeten Kommunen, shrinking citys und verfallenden Industriestandorten gebeutelte Bürger. Ob Berlin wirklich noch mal helfen wird?