Spielen nach den Regeln der Straße: Regisseur André Erlen vom Theaterprojekt »Die Stadt der Schildkröten« | Foto: Meyer Originals

»Wer mit Obdachlosen reden will, soll das machen«

Beim 14. Sommerblut-Kulturfestival dreht sich alles um die

Ökonomisierung der Welt

»No money, no honey«. Diese Wahr­heit kennt die Kunst allzu gut. Deswegen ist es nur konsequent, wenn sich das Sommerblut-Kulturfestival mal ganz dem Thema »Geld« verschreibt. Geschwommen wird in seiner 14. Ausgabe aber nicht im eigenen Saft. Vom 9. bis zum 25. Mai geht es in den Beiträgen aus Theater, Kunst, Film und Literatur darum, was passiert, wenn alles Ware wird, unser privaten Leben eingeschlossen. Die auf dem Festival vertretene Kölner Gruppe Futur3 hat sich mit denen beschäftigt, de­nen gerne nachgesagt wird, sie leisteten nichts: Obdachlose. Ein Gespräch mit Regisseur André Erlen.


 

André, welche Bedeutung hat die fortschreitende Ökonomisierung für mittellose Randgruppen?

 

Der Druck wird auf viele Menschen zunehmend erhöht, besonders auf Bedürftige wie Arbeitslose und Obdach- und Wohnungslose. Jeder muss seine Nutzbarkeit für die Gesellschaft beweisen. Nicht die Obdachlosigkeit selbst ist das Problem, sondern die ausschließliche Bewertung von Menschen nach ökonomischer Leistungsperformance. Im Mittelalter hatten Arme und Obdachlose eine gesellschaftliche Funktion, durch Almosen konnten sich die Sündigen entlasten. Wir verlieren einen wichtigen Kitt für ein friedliches Zusammenleben: bedingungslose Transfers.

 

In eurem Projekt »Die Stadt der Schildkröten« geht es um das Zusammenleben auf der Straße. Ihr kündigt das als »theatrales Abenteuerspiel nach den Regeln der Straße« an. Wie habt ihr die gefunden?



Wir haben uns an Orte begeben, wo Menschen leben und arbeiten, die mit Obdachlosigkeit zu tun haben. Es geht uns nicht nur um die Regeln der Obdachlosen selbst, sondern auch die von Sozialarbeitern, Kirchen oder auch der Polizei. Letztere kommt eine sehr interessante Rolle zu, weil sie durch das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit unfreiwillige Obdachlosigkeit verhindern muss.

 

Welche Regeln gelten konkret für Obdachlose?

 

Für Männer gelten an­dere (Überlebens)-Strategien als für Frauen, die mit anderen Bedrohungen leben müssen. In einer sol­chen Notsituation aber gilt für alle Menschen, dass sie eine Schwelle übertreten. Die sozialen Kontakte in der alten Welt brechen oft weg. Um wirklich auf der Straße dazuzugehören, wird dieser Bruch teils erwar­tet. Sonst hast du keine Chance auf Zugehörigkeit im Netzwerk und kriegst keine Infos, wo du wie und welche Ressourcen generieren und überhaupt hingehen kannst.

 

Warum habt ihr euch für das ­Format »Spiel« entschieden?

 

Zum einen beschreiben manche Obdach­lose, mit denen wir ge­sprochen haben, ihr Leben selbst als Spiel. Sie durchlaufen verschiedene »Level«, von Anfänger bis alter Hase. Zum anderen wollen wir nicht auf hinlänglich bekannte Sozialprobleme hinweisen. Die Zu­schau­er sollen eine Art Abenteuerwelt betreten, die sie bereichert und nicht betroffen macht. Zum dritten wollen wir Realität nicht simulieren. Wir inszenieren kein naturalistisches Stück, sondern eine Begegnung im theatralen Spiel.

 

Ihr übertragt deren Regeln aufs Theater?

 

Wir legen das Stück ­dra­ma­turgisch wie eine Heldenreise an. Man muss Aufgaben lösen, die in unserer Welt nicht existieren. Menschen ohne Obdach sagen oft: »Ich hätte nie gedacht, dass ich hier mal lande.« Wenn es aber dazu kommt, musst du zum Beispiel wissen, was du in dieser neuen Situation überhaupt ge­brauchen kannst.

 

Als ob ich »Ich packe meinen Koffer« spielen würde?

 

Genau. Wir besitzen tausend Gegenstände. Aber welche davon sind essentiell? Für Frauen kann das der Spiegel sein. Zwar hängen auch im öffentlichen Raum welche, aber da zeigt sich schon ein Kernproblem: Privat­heit. Wie schaffst du es auszuhalten, dass du nicht privat bist? Du wirst es schwer haben, dich in Ruhe zurechtzumachen. Was machst du dann? Wie reagierst du? Jede Aufgabe, die wir stellen, wird in diese Komplexitäten eintauchen.

 

Gespielt wird Notunterkünften, Kleiderkammern und Suppen­küchen. Wie inszeniert ihr diese Orte?

 

Sie dienen als Bühnenbild und Spielset. Die Kirche ist der ideale Anfangsort. In der Lebensgeschichte des heiligen Benedikt, dem Schutzpatron der Obdach­losen, finden sich unzählige pa­rallelen Biografien heute. Dann bieten die Straßen der Südstadt vielfältige Anknüpfungspunkte: ehemals besetzte Häuser, neuer Wohlstand, Gentrifizierung, Straßentreff. Schließlich landen wir in Kölns größter Einrichtung für Wohnungslose. Hier kristal­lisiert sich unser Thema, und jeder wird ein Lebenslabyrinth erkunden.

 

Warum ist es wichtig, dass wir selbst eintauchen? Ihr könntet Stellvertreter auf die Bühne holen.

 

Das ist doch das Prinzip von Spielen: sich verlieren und neues erleben. Es soll spannend und auf­regend zugehen, auch wenn sich vor unserer Nase klassische Schiff­bruchsgeschichten abspielen. Wir gehen dahin, wo Obdachlosigkeit stattfindet, wo es wehtut. Für mich ist diese andere Welt eine Parabel für das Mensch-Sein und das Schicksal. Wie geht ein Mensch mit Herausforderungen im Leben um — mit einer Extremsituation.

 

Heißt das, wir bleiben wir und spielen nicht Obdachlose?

 

Unser Spiel heißt »Die Stadt der Schildkröten«, da liest man die Über­höhung schon im Titel. Wir werden weder zum Amt gehen noch Geld sammeln, wie man das vielleicht von Fernsehreportagen kennt. Die­se Authentizitätsfalle wollen wir umschiffen. Als »Wohlstandsbürger« wird sich niemand während des Stücks wie ein Obdachloser fühlen. Alle gehen danach in ihr »normales« Leben zurück. Wer aber mit Obdachlosen reden will, soll das machen. Das ist unser Ansatz.

 

Besteht nicht trotzdem die Gefahr, Menschen in einer Notsituation auszustellen?

 

Der typische Theaterbesucher ist oft auch typischer Wohlstandsbürger. Wir wollen und werden niemanden exponieren. Obdachlosigkeit erzeugt enorme Scham und die Erfahrung von Diskriminierung ist sehr prägend. Der Zuschauer wird nicht wissen, ob er einen Schauspieler oder einen Wohnungslosen vor sich hat. Es ist auch viel spannender, Rollen zu tauschen. Wir brauchen aber das Expertenwissen, das ein Mensch in diesen Lebenslagen besitzt. Wir haben miteinander offen Gespräche darüber geführt, wie die Rollen gestaltet werden. Aber egal wer was darstellt, letztlich bleibt alles Theater.



StadtRevue präsentiert: »Die Stadt der Schildkröten«
Konzept und Idee: Klaus Fehling und André Erlen
20.(P)–22.5, Lutherkirche, 16, 16:20, 16:40, 17, 17:20, 18, 18:20, 18:40 Uhr
Öffentliche Proben: 18./19.5, gleiche ­Uhrzeiten
Kartentelefon: 01578.307 38 79

Alle Infos zum Festival: sommerblut.net