Kein Werk ist vor seinem Gebrauch zu retten

Das Kölner Neue-Musik-Festival »Acht Brücken« hat sich dieses Jahr das Motto »Musik. Politik?« gegeben. Als Komponist und Performer dabei: Christian von Borries. In seiner »Conflict Music« geht es um Musikmissbrauch, die Kulturnation und die größte Rüstungsmesse im Nahen Osten

Politik und Musik? Unvereinbar scheinen die Niederungen der Interessenpolitik mit ihren Kompromissen und Gewalttaten auf der einen, die hehre und schöne Kunst mit ihren auratischen Werken auf der anderen Seite. Die Liaison zwischen Politik und Musik hat aber eine lange Geschichte: Marschmusik, Protest­lieder, Metal als Foltermethode. Musik ist immer auch Vehikel für Identitäts­politik und Instrument zur Durchsetzung ­poli­tischer Interessen. Es gibt eine lange Geschich­te des Musikmissbrauchs, auch und ganz besonders im Einklang mit der bürgerlichen Ideologie, die vordergründig die Sphären von Politik und Kultur trennt.

 

In Deutschland ersetzte im 19. Jahrhundert Kultur an zentraler Stelle die Politik. Es waren die Dichter und Komponisten, die als Gründer­väter der ­Nation herhalten mussten. Der aus der gescheiter­ten Revolution von 1848 hervorgegangene ­Mythos der »Kulturnation« – ein Nationalstaat, der sich nicht über eine gemeinsame Geschichte der Emanzipation, ­sondern über Sprache, Abstammung und Kultur, kurz: das »Volkstum« definiert – wird bis heute unermüdlich weiter geschrieben. File under Leitkultur. Seit dem Zweiten Weltkrieg sind es die von der Bundesrepublik betriebenen Goethe-Institute, die die Kulturnation im Ausland präsentieren und Kulturschaffende als Agenten der geopolitischen Interessen Deutschlands in die Welt ­schicken. Superslicke Agenten einer superioren Kultur, die für deutsche Investoren im Ausland eine Öffnung der Herzen, Köpfe und Märkte vorbereiten? Kürzlich war der Punkveteran Schorsch Kamerun im Auftrag des Goethe-Instituts in Weißrussland. Ein Widerspruch im Widerspruch?

 

Musik ist eine Waffe, Musik ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Im Guten: Woody Guthrie, der auf seine Gitarre »This machine kills fascists« malt.  Oder Schlechten: die Band Drowning Pool, die in ihrer Irak-Hymne »Your pride inside of me, your honor inside of me, respect inside of me, go!« schnappatmet.

 

Wenn nun in Köln im ehemaligen Amerika-Haus ebenjene Drowning Pool und Ludwig van Beethoven dank hristian von Borries aufeinander treffen, wird die Verflechtung von Identitäts­politik und Musik auf doppelbödige Weise hintertrieben. Das schmucke 50er-Jahre-Haus neben dem Kunstverein diente ein halbes Jahrhundert der US-amerikanischen Re­education der Westdeutschen, seit 2011 ist es Sitz der Fritz-Thyssen-Stiftung. Die im Gedenken an Hitlers Steigbügelhalter errichtete Stiftung kümmerte sich um die deutsche Rechtseinheit nach der Wiedervereinigung und macht sich seither als Förderer von Deutsch als inter­natio­nale Wissenschaftssprache verdient.

 

Dass die Komposition »Conflict Music« des Berliner Multimedia-Künstlers Christian von Borries dort im Rahmen des diesjährigen Acht-Brücken-Festivals aufgeführt wird (in Kooperation mit der Akademie der Künste der Welt), kommt also nicht von ungefähr. Von Borries wählt für seine psychogeographischen Interventionen gezielt Orte aus, die auf sinnige Weise mit den von ihm installierten Musiken und Bildern korrespondieren: etwa Richard Wagner im Palast der Republik, der Komponist und maoistische Sektierer Cornelius Cardew im Nationalhistorischen Museum von Tirana, oder abermals Wagner auf der Wartburg. Auch wenn es die Fassade nicht verrät: das Ex-Amerika-Haus repräsentiert die neue Ordnung des wieder­erstarkten Deutschlands als Global Player und europäische Hegemonialmacht.

 

Von Borries lässt hier Beethoven, den Komponisten der Europa­hymne, der in der Geschichte gerne als Beweis der Überlegenheit deutscher Kultur und Rasse diente, auf den großen Unbehaglichen der Sowjetmusik, den janusköpfigen Dmitri Schostakowitsch treffen. Hinzu tritt der düster-sinnliche Grieche Iannis Xenakis, dem die Faschisten im Bürgerkrieg mit einer Granate das Auge zerfetzten. Die Konflikte in diesem Aufeinandertreffen sind vor­programmiert, doch damit nicht genug. Neben der konzer­tant vor Ort aufgeführten Musik werden die Truppenbegleiter Drowning Pool (»This is for the soldiers«) als Konserve, der Kompakt-Techno-Dandy Wolfgang Voigt und der liba­nesische Conscious-Rapper Rayess Bek via Echtzeit-Zuspielung ihren Teil zur »Conflict Music« beisteuern. »Support our troops« trifft auf warholeske Wagner­banalität und arabischen Anti-Imperialismus.

 

Kennt man von Borries’ vorherige Arbeiten, weiß man, dass der klassisch ausgebildete Komponist, Flötist und Dirigent neben sonischen auch visuellen Strategien folgt. Für seine »Conflict Music« war er in Abu Dhabi auf der IDEX, eine der weltweit größten Rüstungsmessen. Die von ihm vor Ort bei »choreographed displays« (d.i. Vorführungen der Waffen­systeme mit Off-Moderation) gemachten Aufnahmen werden den visu­ellen Hintergrund der musikalischen Dar­bietung liefern. Auf der IDEX dabei: Die ThyssenKrupp Marine Systems GmbH, einer der größten Hersteller von Kriegsschiffen und nicht-­atomar angetriebenen, aber trotzdem extrem geräusch­armen U-Booten. Die hör-, sicht- und erkennbar gemachten Konfliktlinien potenzieren sich. Der Untertitel zur Komposition lautet: »The Soundtrack Of World Cultures«.

 

Christian von Borries ist eine schillernde Figur in der zeitgenössischen Musik. Von der Tageszeitung Die Welt wurde er als »Schlingensief der Klassik« bezeichnet, vom Regie-Kollegen Nicolas Stemann »Gotthilf Fischer der Avantgarde«, Kritikerpapst Heinz Klaus Metzger zieh ihn der »Geschichtsfälschung« und schimpfte über dessen Unfähigkeit, Musik »anständig vor(zu)führen«. Seit knapp zwanzig Jahren ist von Borries in der Republik unterwegs, er arbeitete mit Orchestern wie den Berliner Symphonikern zusammen, war auf der documenta 12 ver­treten, seine Projektreihen hießen in der Vergangenheit programmatisch »musikmissbrauch« und »Psychogeo­graphie«.

 

Er nutzt Musik als Waffe zum Verstehen, denn, so von Borries: die »Bedeutung von Musik ist nur aus ihrem Gebrauch zu erklären«. Und Waffen sind ihm auch die Theorieversatzstücke, die er für seine Arbeit nutzt. Neben Guy Debords Situationismus sind die wichtigsten Inspiratoren Gilles Deleuze (Stichwort: Kontrollgesellschaft), Roland Barthes (»Tod des Autors«) und Jean Baudrillard (die Wirklichkeit als Simulation ihrer selbst). Das ist vielleicht kein originelles Arsenal, aber ein wirksames. Denn die Arbeiten von Christian von Borries machen wach, bewegen auch den abgestumpftesten Hipsterkonsumenten. In den letzten Jahren arbeitet er auch als Filme­macher, zuletzt drehte er den Essayfilm »IPHONECHINA«, in dem er die so hane­büchene wie sinnfällige Frage stellt: »Wenn Apple ein Staat wäre — würdest du lieber in Apple oder in China leben?«.

 

Von Borries’ systematisches »Misreading« von Musiken und anderen Kulturartefakten entlarvt den politischen Missbrauch, der seinem künstlerischen Missbrauch vorausging. Ein Missbrauch durch die bürgerliche Ideologie, die das Kunstwerk unverfügbar machen will, um es für Machtinteressen zu nutzen.