»Sogar die Bäume sind in Köln ehrlicher«

Zum 60. Geburtstag zeigt das Filmhaus und der Filmclub 813 eine Auswahl der Filme des Kölner Schauspielers aus den letzten Jahrzehnten. Aus diesem Anlass hier noch einmal das große StadtRevue-Interview mit Kier aus dem Jahr 2001.

StadtRevue: Sie sind in Köln geboren und aufgewachsen und haben noch eine Wohnung in der Stadt, leben aber die meiste Zeit in Los Angeles. Was verbinden Sie noch mit Köln?

Udo Kier: Meine Kindheit. Aber ich habe auch große Teile meine Kindheit, die nicht sehr erfreulich war, verdrängt. Ich habe bei meiner Geburt 1944 einen Bombenangriff aufs Krankenhaus als einziges Kind überlebt. Ich bin mit meiner Mutter in Mülheim in einer sehr kleinen Wohnung ohne warmes Wasser aufgewachsen und war dort auch im Kirchenchor, Vorbeter und Messdiener. Nach der Schule habe ich eine Ausbildung zum Großhandelskaufmann gemacht, im Werkzeughandel bei Kruckenberg in Kalk habe ich anfangs 60 Mark im Monat verdient. Das passte aber überhaupt nicht zu mir, ich habe kaum die schweren Feilen hochheben können. Ich war ein zartes Kerlchen und hätte viel lieber etwas Kreatives gemacht, Dekorateur oder etwas ähnliches. Später habe ich auf der Schildergasse in der Kaufhalle gearbeitet, für etwas mehr Geld, aber es reichte immer noch kaum für die schicken, spitzen Schuhe bei Kämpgen. Um mehr zu verdienen, bin ich zu Ford gegangen, habe mich als Arbeiter am Fließband anstellen lassen, sehr zum Entsetzen meiner Mutter. Als es in den 60ern losging mit meinen ersten Filmen, hatte ich hier eine tolle Presse: »Fellini holt Kölner Buchhalter«, war dann im Express zu lesen. An viel mehr kann ich mich kaum noch erinnern, aber ich mag Köln noch immer, in Köln ist alles viel ehrlicher als in Los Angeles, sogar die Bäume sind irgendwie ehrlicher.

Einer Ihrer Jugendfreunde aus Kölner Tagen war später Regisseur einiger Filme, in denen Sie mitgespielt haben?

Ja, Rainer Werner Fassbinder. Er war 15, ich war 16 Jahre alt. Wir gingen immer in eine nicht sehr feine Arbeiterkneipe am Neumarkt, Bei Leni, in der Thieboldsgasse. Damals habe ich mein Taschengeld aufgebessert, indem ich Bilder von mir aus diesen Fotoautomaten für ein Bier und eine Frikadelle an Kneipengäste verkauft habe – Narzissmus hoch drei damals schon. Fassbinder wohnte bei seiner Tante und sah schon so aus wie später: unrasiert und strubbelig. Wir haben uns sehr schön ergänzt: the beauty and the beast. Das hat er auch – clever wie er war – sehr schnell erkannt. Jahre später, ich war inzwischen nach London gegangen, las ich eine Doppelseite im Stern über Fassbinder, »Das Genie und der Säufer«, und ich dachte, den kenn ich doch. Er war damals in Frankfurt am Theater am Turm. Als wir uns dann erstmals wieder trafen, war er sehr arrogant, viel später hat er mir auch den Grund dafür genannt, er wollte durch mich nicht an diese dunklen Kölner Tage erinnert werden. Er bot mir dann aber eine Rolle in »Faustrecht der Freiheit« an, die ich abgelehnt habe, weil das nicht die Richtung war, in die ich wollte. Der erste Film, den wir dann zusammen machten, war »Bolwieser«. Später haben wir für einige Zeit auch in München zusammen gewohnt, aber einige Monate vor seinem Tod bin ich ausgezogen, weil sein Selbstzerstörungstrieb immer größer wurde. Ich habe viel von Fassbinder gelernt, auch wenn es keine einfache Schule war. Ich habe vor allem von ihm gelernt, immer die Wahrheit zu sagen, nie zu lügen.

Zur so genannten Fassbinder-Familie haben Sie dennoch nie gehört?

Nein, nie, nicht zur Fassbinder-Familie, auch nicht zu Warhols Factory, als ich in dessen »Frankenstein«- und »Dracula«-Filmen mitgespielt habe. Ich mag dieses Familien-Ding nicht, ich bin Einzelgänger. Ich muss den Tag selbst entdecken, ich will erst dann zu sprechen anfangen, wenn ich dazu Lust habe, jedes »Guten Morgen« ist mir sonst schon zu viel. Ich habe in Köln eine Zeit lang in einer WG in der Maastrichter Straße gewohnt. Wenn abends das Steak, das man morgens gekauft hatte, weg war, dann entstand Hass! Oder wenn vor mir einer im Bad war, und der Spiegel ist beschlagen, und alles ist nass! O.K., wenn ich in den Straßen sehe, wie sich glückliche Menschen umarmen, dann werde ich schon manchmal traurig und muss mir ganz schnell einen Kashmir-Pulli kaufen. Dann muss ich eben selber gut zu mir sein. Übrigens plant Warhols Regisseur Paul Morrissey gerade wieder einen Film mit mir, »House of Klang«, das Buch hat er für mich geschrieben, eine Parodie auf die Modewelt, ich spiele die Titelfigur Klang.

Pünktlich um Mitternacht des Jahrtausendwechsels haben Sie ihren ersten Langfilm als Regisseur begonnen.

Ein Film mit Transsexuellen im Rollstuhl, die ich alle in L.A. auf der Straße gecastet habe. Dogma 7, es wird der erste deutsche Film nach den Dogma-Regeln sein. Es geht um einen Club, den »Outsiders on Wheels«, die Clubmitglieder leben vom Telefonsex und beschreiben sich am Telefon als die wunderschönsten Schwedinnen, die man sich vorstellen kann. Dann kommt irgendwann die Liebe ins Spiel, und am Ende rollt alles den Berg runter. Das ist, etwas verkürzt, die Story. Wie jeder Debütant habe ich viel zu prätentiös angefangen, jetzt ist mir leider das Geld ausgegangen, viel mehr das meiner Freunde. Also muss ich erst einmal wieder für Geld arbeiten, ich habe schließlich auch noch zwei Hunde undmuss das Hundefutter verdienen. Dann erst kann ich mit meinem Film weitermachen.

Auf die Idee zu einem Film über Transsexuelle im Rollstuhl kommt man nicht unbedingt am Schreibtisch.

Nein, in der Dusche! Auf die Idee bin ich gekommen, als ich in Luxemburg »Shadow of the Vampire« mit Willem Daffoe und John Malkovich gedreht habe, der Film läuft demnächst an. Ich stand eines Morgens in der Dusche und muss mich falsch bewegt haben, so dass ich mich anschließend überhaupt nicht mehr rühren konnte. Ich musste fit gespritzt und behandelt werden, und es hat sehr lange gedauert, bis ich wieder richtig gehen konnte. Danach hatte ich einen anderen Blick auf Behinderte, und ich habe in Los Angeles ganz verrückte Rollstuhlfahrer mit ganz irren Geschichten kennen gelernt: Transvestiten mit Brüsten aus Melonen unterm Kleid, Krüppel, die als John Rivers auftreten, die dafür aus dem Rollstuhl gehoben werden und an die Wand gelehnt performen. Dann werden sie wieder in den Rollstuhl gesetzt. Ganz wunderbar ordinäre Frauen spielen in meinem Film mit. Die habe ich alle auf der Straße angesprochen. Das Tolle ist ja, das ich machen kann was ich will. Was erwarten die Leute schon von mir – entweder Trash oder den schreienden Dr. Faust in South Central. Mir war es übrigens wichtig, den Film Sylvester um Mitternacht zu beginnen, um zu gucken, ob grüne Menschen kommen oder irgendetwas Großartiges passiert. Es ist aber leider nichts passiert.

Dogma-Mitbegründer Lars von Trier ist auch Urheber eines spektakulären Langzeitprojekts, an dem Sie beteiligt sind.

»Die Dimension der Menschen«, die Premiere ist im Jahr 2024. Wir treffen uns bereits seit sechs Jahren jedes Jahr in den gleichen Kostümen zu einem weihnachtlichen Essen, eine Art Treffen unter Freunden, und drehen drei Minuten Feinschnitt, dreißig Jahre lang. Was genau die Geschichte des Films ist, das weiß nur Lars. Aber es ist schon sehr spannend, wenn der Film fertig ist, bin ich 80 Jahre alt und sehe mich in 90 Minuten um 30 Jahre altern.

Sie haben in fast allen Filmen von Lars von Trier mitgespielt. Welchen Einfluss hatte er auf Ihre Art zu spielen?

Lars und ich haben uns auf einem Festival in Mannheim kennen gelernt. Er hatte »Element of Crime« im Wettbewerb und ich meinen Kurzfilm »Last Trip to Harrisburg«. Als ich »Element of Crime« sah, habe ich gesagt: Wir können unsere Sachen packen und abreisen, der kriegt den Sternberg-Preis, war dann ja auch so. Aber ich wollte unbedingt vorher noch den Regisseur sprechen und traf diesen jungen Mann, der aussah wie ein Schüler in Jeans und Tennisschuhen. Wenig später holte er mich für die Hauptrolle in »Medea«. Kaum hatten wir zu drehen begonnen, da rief er zu mir: »Stop! I forgot, we have a star. Don’t act!« Und daran halte ich mich seither, auch wenn es schwierig ist, weil man nicht weiß, was zu tun ist, wer man eigentlich ist und wo die Wahrheit ist. Es sei denn, ich spiele wie jetzt in Til Schweigers »Auf Herz und Nieren« einen wahnsinnigen Organhändler, dann muss ich natürlich ein bisschen overacten.

Sie haben selber nie Schauspielunterricht genommen, aber sehr wohl unterrichtet.

Ich habe vor ungefähr 12 Jahren in Braunschweig »Theorie zur Schauspielkunst« gelehrt. Birgit Hein war die Professorin und hatte mich geholt. Mein Konzept war: Lerne deinen Nächsten zu lieben! Wir sind mit Baguette, Käse und Rotwein in den Wald gefahren, und die angehenden Regisseure mussten die Bäume umarmen. Das war mein Ansatz. Ich habe die Studenten nach einem Waldspaziergang gefragt, ob sie vorhin das Vogelnest gesehen haben. Hatten sie aber nicht, da habe ich ihnen vermittelt, das sie als Regisseure lernen müssen, die Augen offen zu halten. Oder ich habe sie in deren Stammkneipe gefragt, wie der Kellner heißt. Das wussten sie nicht, also haben wir den Kellner an den Tisch geholt, um ihn kennen zu lernen. Ich habe selber immer versucht, mir mein Material und die Geschichten aus dem Leben zu holen, für mich selbst und für meine Arbeit als Schauspieler. Früher bin ich auch in die Irrenanstalt gegangen, um zu sehen, wie die Menschen da leben, wie sie sich bewegen, wie sie handeln. In Los Angeles bin ich für zwei Tage in den Knast gegangen, weil ich mit zwei Martinis im Blut Auto gefahren bin. Ich saß bei den ganz harten Jungs im L.A. County Jail, Totschläger, Killer! Das war lehrreich, Research ist sehr wichtig.

Sie haben mit Schlingensief und mit Schwarzenegger gedreht. Was macht den jeweiligen Reiz aus, in kleinen europäischen Trash-Filmen und in Hollywood-Großproduktionen mitzuwirken?

Es ein gewaltiger Unterschied. Ich fühle mich bei großen Produktionen wie »End of Days« wie ein Kind im Spielzeugland, ein Kind, das Film entdeckt. Die Lampen sind größer, die Schatten länger. Bei Arbeiten mit Schlingensief oder Lars von Trier verbringe ich eine angenehme Zeit mit angenehmen Menschen und bekomme auch noch ein bisschen Geld dafür. Ich hatte schon etwas Angst anfangs, ob Lars und die anderen begeistert sind, wenn ich in großen Hollywood-Produktionen mitwirke, aber das war O.K. Umgekehrt interessiert sich von den großen Hollywood-Produzenten niemand für kleine Kunstfilme. »Don’t mention the word art«, hat mir mein amerikanischer Manager als Allererstes vermittelt, »art doesn’t make money!«

In Europa werden Sie in Hauptrollen besetzt, in Amerika zumeist als »supporting actor«.

Ja, was für eine blöde Bezeichnung, als wenn sich die Hauptdarsteller nicht alleine auf den Beinen halten könnten. Aber auch wenn mich Hollywood-Produzenten als supporting actor holen, achte ich zunehmend auf die Größe meiner Rollen. Wenn ich schon nach drei Seiten aus dem Buch verschwinde, mache ich es nicht.

Gibt es eine Art deutsche Schauspielerkolonie in Hollywood?

Nein. Zu den Kollegen in Los Angeles unterhalte ich keine tiefen Freundschaften, man sieht sich häufiger in Deutschland als dort, wenn die Filme hier Premiere haben. Ich halte mich da aber auch zurück, ich habe vielleicht fünf Freunde aus zehn Jahren Amerika. Keine Schauspieler, sondern eher Künstler und Galeristen. Mit Roland Emmerich bin ich ganz gut befreundet und mit seiner Schwester Ute. Ich bewege mich in dieser künstlichen Welt von Hollywood nicht gerne, da gibt es zu wenig Ehrlichkeit. Du siehst einem an seiner dicken Backe an, dass er irre Zahnschmerzen hat, aber er würde das abstreiten; du könntest eine zugegebene Schwäche beim nächsten Mal gegen ihn verwenden.

Sie werden gerne in die Tradition exzentrischer deutschsprachiger Schauspieler in Hollywood gestellt, Peter Lorre, Klaus Kinski ...

Gemein haben wir vielleicht, dass wir gute Bösewichte abgeben. Das Böse ist doch viel fotogener als das Gute. Dem Guten sind Grenzen gesetzt, dem Bösen nicht, es gibt immer wieder neue Überraschungen, was es für furchtbare Bösartigkeiten in der Welt gibt. Den eiskalten Engel zu spielen ist viel interessanter. Ich habe eine schöne Idee für einen tollen Film im Kopf, über eine »school of killers«, mit ungefähr zehn der üblichen Hollywood-Bösewichte: Christopher Walken zum Beispiel, Harvey Keitel, Jeremy Irons und mit mir natürlich. Es geht um eine Art Internat, auf dem man lernt, richtig böse zu sein. Die Jungs toppen sich bereits während des Unterrichts, reißen Mitschülern das Ohr ab oder dem armen Portier am Empfang das Herz raus und kauen darauf herum, und ihnen läuft das Blut aus dem Mund, während sie über Internet und den Stock Market plaudern. Alles in schwarz, immer Regen, kein Lächeln im ganzen Film. Na gut, am Ende muss wahrscheinlich das Gute siegen. Die Guten wohnen im Haus gegenüber und graben einen Tunnel.

Woher kam die Zuversicht, sich in Los Angeles etablieren zu können?

Eigentlich war das nicht geplant. Ich war nach den Dreharbeiten zu Gus van Sants »My Private Idaho« zurück nach Deutschland gefahren und kam erst wieder zur Premierenfeier nach Los Angeles. Ich habe bei einer Freundin gewohnt, und beim Abschiedsessen fragte sie, ob ich nicht bleiben wollte. Nach dem ersten Glas Wein war ich noch sehr dagegen, nach dem dritten Glas dachte ich, warum eigentlich nicht? Ich habe mir dann eine Wohnung für 400 Dollar gemietet und einen knallroten Käfer gekauft. Jetzt sitze ich seit zehn Jahren in meinem Sessel in Hollywood und drehe so viel wie nie zuvor.

Geld verdienen Sie auch regelmäßig mit Werbung.

Fast alle Hollywood-Schauspieler machen Werbung, die wird aber in Deutschland nicht gezeigt. Ich habe für Buick, Lincoln, Milky Way, Black & Decker Commercials gemacht und zwei Jahre lang in Japan Werbung für Zahnbürsten. Ich steh’ da im weißen Kittel und sage: »Hi, I’m Dr. Navig«. Das war ziemlich witzig. Gerade habe ich mit Anthony Hopkins für Honda einen Commercial gedreht, der auch nur in Japan laufen wird. In der Gehaltsklasse eines Anthony Hopkins oder Bruce Willis spiele ich leider noch nicht, die bekommen für Commercials eine Million Dollar gezahlt, pro Drehtag. Wichtiger ist aber auch, dass du die entscheidenden Leute kennen lernst, weil für richtig große Commercials eben auch Hollywood-Regisseure geholt werden. Michael Bay war der Regisseur bei meinem Mercedes-Werbespot, später hat er mich für »Armageddon« geholt. Leider habe ich nie Stanley Kubrick kennen gelernt, das bedaure ich sehr, 2001 ist noch immer einer meiner absoluten Lieblingsfilme. Dafür habe ich aber Woody Allen kennen lernen dürfen, eine verunglückte Begegnung. Ich war in ein dunkles Kino zum Vorsprechen geladen worden, keinen Ahnung für welchen Film, und Allen kam nur ganz kurz aus dem Dunklen und verschwand gleich wieder im Dunklen. Ich musste etwas Text lesen und hörte dann Allens hohe Stimme aus dem Dunkeln: »Thank you«, das war es dann für mich.

Ein vom Business leicht genervter Hopkins hat angekündigt, Hollywood den Rücken zuzukehren. Wann kehren Sie an den Rhein zurück?

Oh Gott, niemals! Ich will schließlich nicht in Köln sterben, sonst steht ja später in den Geschichtsbüchern: »... ist in Köln-Mülheim geboren und in Köln-Ostheim gestorben.« Das wäre ja schrecklich, als wäre ich nie rausgekommen! Nein, da soll stehen: »Er raste mit dem orange farbenen Porsche über die Klippen von Santa Monica« oder so ähnlich. Ich werde mir auch in Kürze einen Grabstein in Los Angeles kaufen. Um so etwas muss ich mich ja selber kümmern als Einzelgänger. Und man wird ja doch älter, dass habe ich gerade wieder zu spüren gekriegt. Ich habe den Live-Achievement-Award des Fangoria-Magazins, einer Zeitschrift für Horrorfilme, bekommen. Eigentlich sehr schön, aber im Grunde ist es ekelhaft: Preise fürs Lebenswerk zu bekommen bedeutet, dass man alt geworden ist. Aber der Preis sieht schon gut aus: »Horror« steht darauf, und an der Seite läuft das Blut runter!