materialien zur Meinungsbildung /// folge 161

Ach, ich muss Ihnen mal wieder von Gesine Stabroth erzählen, aber wo fange ich an... Was? Sie befürchten, dass ich mich gerade anschicke, Ihnen ein Ohr abzukauen? Ha! Gesine Stabroth kaut einem alle beide Ohren ab! Und dann schimpft sie, dass man ja gar nicht richtig zuhören könne! 

 

Die Meinungen darüber, was denn nun eigentlich ein gutes Gespräch sei, gehen häufig weit auseinander. Ausschlaggebend ist gar nicht der Gegenstand des Gesprächs — sondern, ob man selbst redet oder zuhören muss.  

 

Als früher Höhepunkt der Gesprächskultur gelten die platonischen Dialoge. Ich weiß nicht, wie man auf so etwas kommt. Sokrates doziert darin unablässig in seltsamen Schleifen über Themen, die ihn selbst zwar außerordentlich, die Umstehenden aber nicht sonderlich zu beschäftigen scheinen. Des--halb sagen sie wenig dazu. Es sind freundliche Belanglosigkeiten wie »Ja, freilich«, »Du hast ganz recht« oder »Wohl möglich! Beim Zeus!« 

 

Wenn ich mich mit Gesine Stabroth unterhalte, komme ich mir vor wie diese Stichwortgeber des Sokrates — nur dass ich nichts über die Welt hinter den Dingen erfahre, sondern über das, was jeder kennt. Ich spüre auch bald eine Differenz. Es ist keine ontologische, sondern eine zwischen dem, was Gesine Stabroth tut und dem, was ich tue: Einer redet nur, der andere hört zu, nur.   

 

Ich weiß dann alles über den Indien-Urlaub von Gesine Stabroths »bester Freundin Tine«, aber ich habe selbst noch nicht einmal kundtun können, dass ich Urlaube in Indien in höchstem Maße unverständlich finde, wenn man kein Inder ist. Und Urlaubsnacherzählungen sind ein Genre, das zurecht als unergiebig gilt. 

 

Es gibt eine einfache Faustregel, um zu prüfen, ob ein Gespräch noch in der Balance ist. Man muss lediglich den Quotienten aus der Anzahl der Gesprächspartner (G) und der bisherigen Dauer des Gesprächs in Minuten (t1), abzüglich der Pinkelpausen (t2), mit der eigenen Redezeit (t3) multiplizieren und von diesem Produkt (T) die Differenz subtrahieren, die sich daraus ergibt, wie oft man anderen ins Wort gefallen ist (u1) und wie oft einem selbst über den Mund gefahren wurde (u2). Liegt der Wert höher 1, hat man sich vollquatschen lassen, liegt er darunter, ist man selbst eine Labertasche. 

 

Sie verlangen eine empirische Überprüfung? Dann stellen Sie Schachuhren auf. Seit es in den Zeitschriften nur noch Sudokus statt Schach-Ecken gibt, findet man sehr preisgünstige Modelle im Handel. Wer vor einer Schachuhr sitzt, die nicht mehr tickt, darf den Mund nur noch zum Biertrinken öffnen. Ich finde, das befördert eine effektive Gesprächsführung.

 

Jeder von uns ist eine Phrasenschleuder und wiederholt im besten Falle die Gedanken anderer — aber in unserem Wolkenkuckucksheim zwischen den Ohren ist immer auch noch etwas Platz für ein paar unscheinbare Stäubchen Seele, etwas Eigenes, das freilich so eigen und so eigentümlich ist, dass außer uns niemand viel damit anzufangen weiß: Man interessiert sich vielleicht für die Kontroversen innerhalb der Montanunion. Oder für die Geschichte der industriellen Textilfärbung. Oder für Bartmannkrüge — aber dann ist es schwierig, Gesprächspartner zu finden, die hierüber ähnlich in Verzückung geraten. Oder man referiert mit Feuereifer den Indien-Urlaub »seiner besten Freundin Tine«. Ja, man kann das verstehen, aber hört es nicht gern. Dann hilft es, wenn jemand wie ich einfach dasitzt und zuhört. 

 

Es gibt Preise für Redner, man lobt deren geschliffene Rhetorik.
Es sollte Preise für Zuhörer geben. Beim Zeus, es muss kein hochdotierter Scheck sein! Im Falle von Gesine Stabroth reichte es mir schon, wenn ich das Bier nicht selbst mitbringen müsste und nicht übel beäugt würde, wenn ich ihre geschliffene Rhetorik mit einer Pinkelpause (t2) ins Stocken bringe.