Eugen Ruge. »Annäherung — Notizen aus 14 Ländern«

Familienaffären

Vor zehn Jahren hat Eugen Ruge ein neues Wort gelernt: Wort — kyrillisch für »Jackpot«. Kennengelernt hat er es auf einer Recherchereise durch Russland im Jahr 2005, rund dreißig Jahre nach seinem ersten Besuch dort. Ruge will Details über seinen Vater Wolfgang sammeln, der in den 30er Jahren in Moskau gelebt hat, im Kontakt mit den deutschen Exil-Kommunisten stand, ins Arbeitslager kam und schließlich in der DDR als Historiker arbeitete.

 

Sohn Ruge stolpert also durch das Moskau der Nullerjahre, immer auf der Suche nach Spuren der Komintern und ihres Geheimdienstes, des OMS, für den seine Großmutter tätig war. Und er findet eine Stadt vor, in der die Vergangenheit an jeder Straßenecke sichtbar ist und sie trotzdem kaum im Bewusstsein ist. Stattdessen entdeckt der studierte Mathematiker die Nachtclubs der Neureichen, trifft alkoholkranke Afghanistan-Veteranen und lernt einen verarmten Sowjet-Intellektuellen kennen, der zur Aufbesserung der Rente Geschichten über einen vergessenen Liedermacher für die Touristen erzählt.

 

Ruges Moskau-Besuch ist nur eine der Geschichten aus »Annäherung«, seinen gesammelten Berichten von Reisen, die ihn nach Russland, Kuba oder in die Benelux-Staaten geführt haben. Anlass dafür war sein Debütroman »Im Schatten des abnehmenden Lichts«. Mal erzählt Ruge hier von Lesereisen, ein anderes Mal — wie halt in Moskau — betreibt er Recherche für eben diesen Roman, mit dem er 2011 den Deutschen Buchpreis gewann. Darin schildert Ruge die Geschichte einer Familie aus der DDR-Funktionselite zwischen dem Exil in Mexiko und dem Ende der DDR. Erzählt wird das alles im Rückblick anlässlich einer Familienfeier und aus immer neuen Perspektiven, die den Alltag der DDR weder zum Gegenstand einer Generalabrechnung mit dem Realsozialismus machen noch das kleinste Detail ostalgisch verklären.

 

Solche Erzählvolten sind Ruges Reiseberichten fremd, seine Notizen sind linear aufgeschrieben, aber dennoch sprunghaft, eher ein Schnappschuss als ein bestelltes Familienporträt. Zur großen Geschichte müssen die Leser sie selbst zusammensetzen.