Die Bedeutung von Festivals hat sich unterhalb der Ebene von Kommerz und Marketing grund­legend geändert | Foto: Manfred Wegener

Nischen für alle

Musikfestivals finden zunehmend im städtischen Raum statt

Eine Gemeinschaft der Außenseiter — vielleicht kann man so die klassische Idee von Festivals auf den Punkt bringen.

 

Leute, deren Lifestyle man nicht versteht, deren Gedanken man nicht nachvollziehen mag, deren Musik in den Ohren aller anderen schrill und schmerzlich klingt, fahren raus aufs Land, versammeln sich und lauschen den Predigten ihrer Apostel. Nur dass diese Apostel Musiker sind und die Predigten Konzerte. Festivals als Orte der Gegenkultur, auf denen sich vor allem die Jugend artikuliert — und zwar musikalisch, gibt es seit den 50er Jahren. Es fing an mit Jazz-, Blues- und Folk-Festivals und kumulierte schlagartig im 67er Summer of Love, als rauschhafte Konsens-Veranstaltungen im Geiste von Rock und Pop die alten Subkulturen ablösten. Seitdem gibt es kein Halten mehr. Rückschläge wie das Katastrophenfestival von Altamont im Dezember 1969, als beim Auftritt der Rolling Stones vor ihren Augen der junge Meredith Hunter von den abwegigerweise als Ordner angeheuerten Hell’s Angels erstochen wurde, oder auch massive Anti-Establishment-Bewegungen wie Punk oder Hardcore haben den Betrieb nie aufhalten können.

 

Festivals sind ein Produkt des Nachkriegsbooms — in dieser Hinsicht waren sie nie losgelöst von der Kulturindustrie —, der seine spezifischen Außenseiter produzierte, jene, die sich vom Boom mehr versprachen als den Zweitwagen und enttäuscht wurden. Die Kritik der jungen Leute bewegte sich weg von Elend und Ausbeutung, die in der Boomzeit zu verblassen schien, und kaprizierte sich auf das Sinndefizit der Konsumgesellschaft, auf die Abrechnung mit Langweile und Routine, mit Gängelung und Identitätszwang.

 

Nach diesen Absätzen liegt es nahe, hier die übliche Litanei zu erwarten. Ungefähr so: Wenn sich die Festivals als Versammlungsorte der Außenseiter zu ultraprofitablen Massenveranstaltungen wandeln, dann ist auch die Gegenkultur passé, kann man nicht mehr sinnvollerweise (sic) von Außenseitern sprechen. Die Kulturindustrie, die natürlich nie aus dem Spiel war, hat mal wieder gesiegt.

 

Für das, was aktuell unter dem pittoresken Namen »Festivalkrieg« firmiert, womit das Gerangel zwischen »Grüne Hölle« (Deutsche Entertainment AG) und »Rock am Ring« (Konzertagentur Marek Lieberberg) um den Veranstaltungsort Nürburgring gemeint ist, trifft das zu, kein Zweifel. Aber ebenso kein Zweifel: Die Bedeutung von Festivals hat sich unterhalb der Ebene von Kommerz und Marketing grundlegend geändert — und dieses Phänomen ist nicht direkt aus der Kommerzialisierung abzuleiten und kein Produkt der Kulturindustrie.

 

Festivals sind heute für alle da, jede kulturelle und musikalische Nische wird bedient, die wenigsten Festivals leisten es sich, ein striktes, auf »Genre-Reinheit« bedachtes Programm durchzuziehen. Und: Sie ­finden nicht mehr ausschließlich abseits des großen Trubels der Städte statt, sondern mehr und mehr im städtischen Raum selbst. Und damit wären wir bei Köln, über dessen Festivalfeindlichkeit gerne hergezogen wird, die aber de facto nicht existiert: Es gibt das Summerjam-Festival am Fühlinger See, das Gothic-Festival Amphi, das dieses Jahr auch vor der Kölnarena stattfindet, der Hans-Böckler-Platz wird im Rahmen der c/o pop genutzt, hinzukommen noch Odonien, das Kulturdeck am Aachener Weiher, das Sonic Ballroom Open Air, und natürlich so unterschied­liche Events wie das Musikfest der Gamescom auf dem Ring, der Techno-Rave Poller Wiesen, das Edelweißpiratenfestival im Römerpark. Aber: »Was der Szene fehlt, ist eine feste Open-Air-Location für tausend Besucher, möglichst zentral gelegen. Das ist wirklich eine Leerstelle. Aber man muss natürlich bedenken, wie dicht bebaut die Innenstadt ist«, meint Till ­Kniola seit 2014 Popbeauftragter der Stadt Köln, zuvor jahrelang Konzertveranstalter und Musikjournalist.

 

Wenn man sich an einer kulturellen und politischen Großdeutung versuchen will, dann steht die wuchernde Festivalkultur für den Triumph über die Identitätsmaschine Arbeit. Der städtische Raum verhält sich nicht mehr funktional zur Arbeit, sondern wird zur Freizeit-Zone. »Immer mehr Menschen drängen wieder in die Innenstädte, um dort zu wohnen. Gleichzeitig ändert sich das Freizeitverhalten, die Leute wollen draußen, unter freiem Himmel ihre freie Zeit verbringen. Man trifft sich im Grüppchen immer häufiger mit ein paar Flaschen Bier und Zigaretten — das muss gar nicht im Umfeld eines Clubs passieren. Und das setzt sich im Kulturbereich direkt fort. Die Lust, draußen zu tanzen und Musik zu hören, ist offensichtlich größer geworden, vor zehn Jahren war das noch nicht so ausgeprägt«, so beschreibt Kniola einen Zustand, der zugleich ein Dilemma ist. Der Flair, der dabei entsteht, ist auch Bestandteil des Kölner City-Marketings, er soll Touristen anlocken, auch mehr Bewohner der Stadt selbst ermuntern, sich den Raum zu nehmen. Wer raucht, trinkt, isst und dabei noch Veranstaltungen wahrnimmt, generiert Umsätze. So einfach ist das. Aber auch so belastend: Die Diskussionen um die Sommerabende auf dem Brüsseler Platz sind hinreichend bekannt, Anwohner fühlen sich belästigt, sehen sich um den Schlaf gebracht, wollen nicht jeden Morgen durch den Müll waten, den die Feierwütigen vor ihren Haustüren hinterlassen haben.

 

Im besten Fall wird die Popkultur zum Faktor der Stadtentwicklung: »Sinnvoll ist es doch«, meint Kniola, »bei der Erschließung neuer Flächen — und das wird ja in Köln passieren, denn wir sind eine Zuzugsstadt — von Beginn an die Freiräume mitzudenken.« Ist dieser Satz ausgesprochen, folgt aber direkt das notwendige kommunalpolitische, verwaltungstechnische Kleinklein: »Es ist aber letztlich nicht auf dem Reißbrett zu machen, weil die Problemlagen komplex und verschieden sind.« Man kann, so Kniola, für Veranstalter keine Check-Liste »Open Air« angeben: »Mit Eintritt, ohne Eintritt, ist es auf einem Privat- oder einem städtischen Gelände, bis 22 Uhr oder später, mit Ausschank oder ohne, umzäunt oder nicht umzäunt … Jede dieser Fragestellungen löst einen Verwaltungsvorgang aus.« Der Doppelcharakter der Festivals, wie er von Kulturkritikern schon zu ihrer Blütezeit vor 45 Jahren konstatiert wurde, besteht im städtischen Rahmen weiterhin: Einerseits sind sie ein nicht unbedeutender kommerzieller Faktor, andererseits symbolisieren sie die Selbstermächtigung der Leute. Die Bürokratie zwischen Kultur- und Ordnungsamt versucht, das in den Griff zu kriegen.

 

Einen großen Abgesang auf die Verwaltungsvorgänge stimmten vor anderthalb Jahren die Goldenen Zitronen an. Die ewigen Hamburger Punks veröffentlichten ihren Song »Duisburg«, einen Kommentar zur Katastrophe der Loveparade vor fünf Jahren, bei der im Gedränge 21 Menschen zu Tode kamen und Hunderte verletzt wurden. »In postindustrieller Brache, dem Stadtbild entzogen: die Kirmesparade«, so grimmig trägt Ted Gaier den Abgesang vor. Allzu schroff wirft Gaier den Ravern vor, sich in einen Laufstall gepfercht haben zu lassen, »anstatt sich die Stadt zu nehmen, ohne zu fragen.« Vielleicht trifft er mit diesem Vorwurf aber gar nicht mehr den Punkt: Die Leute nehmen sich nämlich die Stadt, ohne zu fragen. Natürlich nicht so, wie sich das Linke vorstellen, nicht in einem grundsätzlichen Sinn — die Mieten werden in Zuzugsstädten weiter steigen und von autofreien Innenstädten wird man auch weiterhin träumen.

 

Aber andererseits: Die Kommerzialisierung der Festivals und der Mainstream der Minderheiten bedeuten eben nicht das Ende von Musik, von Festen und freien Zusammenkünften im öffentlichen Raum. Die Konflikte werden nicht aufhören, das ist ein gutes Zeichen.