»Weltweit agierende Großkonzerne der Kulturindustrie ­ver­anstalten Groß­events unter dem ­Deck­mäntel­chen von Freiheit und Abenteuer« | Foto: Manfred Wegener

Ein Fest ist kein Festival

Berthold Seliger erinnert an die Vergangenheit der Festival-Kultur,

die vielleicht schon wieder die Zukunft ist

Wir schreiben das Jahr 1967, und in der Nähe von San Francisco findet das erste große Pop- und Rock-Festival der Geschichte statt, das »Monterey Pop Festival«. Es lohnt sich, einen genaueren Blick auf dieses Festival zu werfen, bei dem es nicht um Konsum ging, sondern um Kunst und um die Feier eines subversiven Lebensstils. Das Festival wurde nicht von einem Großkonzern organisiert, wie das heute gang und gäbe ist, sondern von den Künstlern selbst: Festivaldirektor war John Phillips von den Mamas and the Papas — Phillips hatte auch den Text für Scott McKenzies Hymne »San Francisco (Be Sure to Wear Flowers in Your Hair)« geschrieben, der eine Art Werbung für das Festival sein sollte und ein Welthit wurde.

 

Dem Organisationskomitee des Festivals gehörten noch andere Musiker an, darunter die Beatles und die Beach Boys, und befreundete Produzenten. Das Künstlerangebot dieses Festivals war so vielfältig, wie man es sich nur wünschen kann: Neben etablierten Stars wie Jefferson Airplane, The Mamas & The Papas, Simon & Garfunkel, The Byrds oder den Grateful Dead traten damalige Newcomer (zumindest für den US-Markt) wie The Who oder The Jimi Hendrix Experience das erste Mal vor größerem Publikum in den USA auf. Janis Joplin spielte mit ihrer Band Big Brother and the Holding Company das erste Mal überhaupt vor größerem Publikum (und erhielt vom Fleck weg einen Major-Plattenvertrag). Auch die Rolling Stones sollten auftreten, erhielten von den amerikanischen Behörden wegen der Drogengeschichten von Jagger und Richards jedoch keine Arbeitsvisa. Zu den Künstlern, die bei Monterey Pop auftraten, gehörten auch der indische Raga-Virtuose Ravi Shankar, der Soul-Star Otis Redding mit Booker T. & The MG’s, die bisher praktisch nur vor schwarzem Publikum aufgetreten waren und hier ihren kommerziellen Durchbruch erlebten, oder der südafrikanische Jazzmusiker Hugh Masekela. Um die Vielfalt des Line-ups zu ermessen, möge man sich für einen Augenblick vorstellen, wie es wäre, wenn bei »Rock am Ring« oder dem »Hurricane« die Jazz-Band von Kamasi Washinton, ein Jamie XX oder eine Iggy Azalea auftreten und den Sonntag eine albanische A Capella-Gruppe eröffnen würde.

 

Doch die Vielfalt des musikalischen Angebots, übrigens zu sehr günstigen Ticketpreisen, und das völlige Fehlen von Sponsoring, von schrill ballernder Werbung und Konzernlogos machte noch nicht allein den Reiz von Monterey Pop aus — wichtiger war die fehlende Distanz zwischen Publikum und Künstlern. Die Bühne war vielleicht einen ­halben Meter hoch, es gab keinen Backstage-Bereich und keine Security, die Künstler setzten sich vor oder nach ihren Auftritten mitten ins Publikum, im wunderbaren Monterey Pop-Film von D.A. Pennebaker sieht man Jimi Hendrix dort sitzen und vergnügt lachend rauchen. Es ging um ein gemein­sames Lebensgefühl, es war der Beginn des legendären ­Summer of Love.

 

Rousseau kritisiert in seinem »Brief an d’Alembert über das Schauspiel«, wir schreiben das Jahr 1758, am Theater seiner Zeit die »sich abschließenden Schauspiele«, bei denen »eine kleine Anzahl von Leuten in einer dunklen Höhle trübselig eingesperrt ist, furchtsam und unbewegt in Schweigen und Untätigkeit verharrend«. Rousseau kritisiert also Trennung — die Schauspieler oben auf der Bühne, das Publikum unten — und Passivität, er stellt dieser Konsumveranstaltung ausdrücklich das Fest entgegen, bei dem alle Schauspieler werden und die Emotionen einander mitteilen. Und wenn Rousseau ein Miteinander im Geist der Gleichheit fordert, dann kann man Monterey in gewisser Weise als Erfüllung dieses Traums bezeichnen. Heute sind die kommerziellen, strom­linienförmigen Festivals unserer Tage, die von den internationalen und nationalen Großkonzernen der Unterhaltungsindustrie veranstaltet werden, von diesem Ideal so weit entfernt sind, wie es nur sein kann, und einen Rückschritt hin zum »antisozialen« Charakter reiner Konsumveranstaltungen verkörpern, in denen das Publikum wieder zu passiven Objekten degradiert wird wie in der voraufklärerischen Zeit des 18. Jahrhunderts.

 

Insofern ist der »Festivalkrieg«, den die deutsche Öffentlichkeit in diesem Jahr erlebt hat, inhaltlich uninteressant — es ging einfach darum, dass mit der DEAG ein deutscher Großkonzern der Konzertindustrie einem anderen, noch größeren Großkonzern der Live-Industrie einen Teil des Geschäfts abknöpfen und im profitablen, aber schwierigen Markt der Großevents reüssieren wollte (und dabei, wie es aussieht, wohl scheiterte). Die CTS Eventim AG, der größte deutsche Konzertveranstalter, dessen Vorstandsvorsitzender und Mehrheitsaktionär Klaus-Peter Schulenberg seit 2013 in »Bloombergs Billionaires Index« als Dollarmilliardär geführt wird, ist der zweigrößte Tickethändler und der drittgrößte Konzertveranstalter der Welt und hält direkt oder indirekt Anteile an mindestens 16 der 20 größten Musikfestivals hierzulande. Er ist der de facto-Monopolist des deutschen Festivalmarkts. Es geht, wie Walter White das in Breaking Bad nennt, um »Imperiengeschäfte«, und es ist völlig egal, ob dabei einheimische Konzerne um die Headliner und das Publikum konkurrieren, oder ob der weltgrößte Konzertkonzern, Live Nation, mithilfe lokaler Steigbügelhalter und allerlei gut klingender Prosa in Berlin sein »Lollapalooza«-Festival etablieren möchte: alles nur Beispiele für die entfesselte Popwirtschaft unserer Zeit. Weltweit agierende Großkonzerne der Kulturindustrie veranstalten Großevents unter dem Deckmäntelchen von Freiheit und Abenteuer, wo es doch eigentlich nur um neue Abspielorte für ihren exklusiven Content geht, mit dem eifrig Profitmaximierung betrieben wird.

 

Interessant ist, dass die Kommunen, die doch eine der Gesellschaft dienende Kulturpolitik machen sollten, den Imperiengeschäften der Konzerne so wenig entgegensetzen und sich stattdessen bevorzugt deren Interessen und der Quotenkultur unterwerfen. Andernorts ist man wieder einmal weiter: Von Oslo (»Oya«) bis Barcelona (»Primavera«) sind Festivals entstanden, die vielfältige Programme anbieten und die Fans ernstnehmen. Die Mutter der europäischen Festivals, das legendäre Roskilde Festival in Dänemark, bringt seit 1971 die spannendsten Bands unserer Tage jenseits aller Genregrenzen auf die Bühne. Übrigens ist das Roskilde Festival, wie weiland auch Monterey Pop, eine Non-Profit-Organisation und verteilt die kompletten Gewinne an soziale und ökologische Initiativen, dieses Jahr hat es an den schleswig-holsteinischen Flüchtlingsrat 40.000 Euro überwiesen.

 

Es gibt tatsächlich eine Welt jenseits der kommerziellen Groß-Festivals, eines der größten deutschen Festivals findet übrigens jedes Jahr Ende Juni in Mecklenburg-Vorpommern statt: das Fusion Festival. Man verweigert sich im »Ferienkommunismus« konsequent Sponsoren und Konzernen, aber auch der Marktlogik von Headlinern und teuren Anzeigen und all dem Gedöns — die Künstler werden erst am Festivalwochenende bekannt, während die etwa 65.000 Tickets (den Ticketverkauf organisiert man natürlich selbst) bereits um Weihnachten herum ausverkauft sind, zu einem Zeitpunkt, da die Fans noch von keinem einzigen Musiker wissen, der auf dem Festival auftreten wird, und auch nicht von den politischen oder Info-Veranstaltungen, die im sogenannten »ConTent« stattfinden. Aber die Idee der gemeinsamen Erfahrung, die soziale Idee, »gemeinsame Emotionen« jenseits bloßen Konsums zu erfahren, ist offensichtlich Zehntausenden Menschen enorm wichtig.

 


Berthold Seliger hat eine eigene Konzertagentur, aktuell hat er Touren für Bratsch, Patti Smith und Noura Mint Seymali gebucht. Vor zwei Jahren erschien seine Abrechnung »Das Geschäft mit der Musik. Ein Insiderbericht« (Edition Tiamat). Im Juni neu erschienen: »I have a stream. Für die Abschaffung des gebührenfinanzierten Staatsfernsehens« (Edition Tiamat).