Foto: Manfred Wegener

Neue Heimat im Norden

Chorweiler ist, wo die kleine Lea-Sophie verhungert ist, und der Gangster-Rapper Bero Bass mit dem Messer herumfuchtelt. Das denken viele Kölner über den Stadtteil im Norden. Aber Chorweiler ist auch eine Geschichte von Hoffnung. Der Kauf von 1200 Wohnungen durch die GAG soll jetzt den Stadtteil nach vorne bringen. Anja Albert und ­Christian Werthschulte haben deshalb mit Menschen aus Chorweiler über die Zukunft ihres Stadtteils

gesprochen. Manfred Wegener hat sie porträtiert

»Asig« — für den Komparsen am Filmset ist alles klar. Es ist Ende Juni und in Chorweiler wird ein Tatort gedreht. Spielen soll er am Kölnberg, aber dort hat das Team keine Drehgenehmigung. Also müssen Schenk und Ballauf in der Sommerhitze zwischen den Hochhäusern in Chorweiler-Mitte schwitzen. Dort, wo es alle »asig« finden. 

 

Daniél Pedriola kennt solche Sprüche. Vor fünf Jahren hat der 20-jährige Mediengestalter einen kleinen Film über Chorweiler gedreht, vom Dach eines der Hochhäuser. Die Kamera fährt vom Dom auf die Häuserschluchten, zoomt dann auf die Menschen am Pariser Platz, der in der Mitte von Chorweiler liegt. Dazu erzählt die Off-Stimme, wie grün der Stadtteil ist, wie kurz die Wege, wie multikulturell: »Jeder fühlt sich hier wohl und wird vom anderen akzeptiert.« Am Ende schwenkt die Kamera wieder auf den Dom, die Sequenz beginnt von vorne, aber die Tonspur hat sich geändert: »Ein Wirrwarr von Menschen aus über hundert Nationen tummelt sich hier in den hässlichen und verkommenen Plattenbauten.«

 

»Wer Gutes erzählen will, erzählt Gutes«, meint Pedriola, der in Chorweiler aufgewachsen und zur Schule gegangen ist. »Wer Schlechtes erzählen will, erzählt Schlechtes.« Pedriola kennt die Blicke der Leute, wenn er sagt, dass er aus Chorweiler kommt. Also engagiert er sich. Schon als Jugendlicher machte er Filmkurse und drehte Kurzreportagen über den Stadtteil, die er anschließend auf YouTube veröffentlichte. Einen Film über die S-Bahn-Haltestelle in Chorweiler-Nord hat er dem damaligen NRW-Integrationsminister Armin Laschet (CDU) vorgeführt. »Der hat der Bahn einen Brief geschickt, ein paar Tage später kamen die Bauarbeiter«, erzählt Pedriola. »Heute wissen wir, dass das nicht an unserem Film lag, aber wir haben trotzdem das Gefühl gehabt, man hat was getan.« Er sucht gerade nach einer Wohnung, seiner ersten eigenen. Sie soll in Chorweiler sein. »Hier geht’s einem gut. Mein größter Wunsch für den Stadtteil wäre, dass die Leute Chorweiler mit anderen Augen sehen.« 

 

Vielleicht ist es bald soweit. In den letzten Wochen war Chorweiler der Schauplatz einer großen sozialpolitischen Auseinandersetzung. SPD-Chef Jochen Ott hatte über einen Zeitraum von fünf Jahren den Kauf von 1200 zwangsverwalteten Wohnungen durch die städtische Wohnungsbaugesellschaft GAG vorbereitet. Im Juni gab der Aufsichtsrat der GAG grünes Licht für den 48 Millionen Euro teuren Ankauf. 

 

»Wir haben große Träume«, sagt der 19-jährige Kaan. Gemeinsam mit seinem Freund Ercan sitzt er im Hof des Jugendzentrums Seeberger Treff. 800 bis 1000 Kinder und Jugendliche sind hier jede Woche zu Gast und Sozialpädagoge Hüseyin Cansay kennt sie alle. »Eigentlich wollte ich nur ein halbes Jahr bleiben«, erzählt er. »Dass es 27 Jahre geworden sind, spricht für den Stadtteil.« Auch Kaan gefällt es in Chorweiler: »Ich bin zufrieden, das ist meine Heimat. In der Stadt sein, darauf würde ich erstmal gar nicht klarkommen.« Dabei sind die Freizeitmöglichkeiten in Chorweiler begrenzt. Es gibt ein paar Jugendtreffs und das Einkaufszen-trum City-Center, wo viele Jugendliche ihre Freizeit verbringen: Eis essen, Klamotten gucken, in der Glitzerwelt herumbummeln. »Wir haben schon recht viel«, meint Kaan. Nur ein Fitnessstudio würde fehlen. Stattdessen gehen sie halt in den Jugendtreff. »In Chorweiler wird ziemlich viel Kon-trolle ausgeübt«, sagt Hüseyin Cansay. »Jeder kennt jeden, die ganze Sippschaft schaut, die Mädels können sich nicht bewegen und die Jungs nicht rauchend durch den Stadtteil ziehen.« Auch in seiner Einrichtung herrscht Rauchverbot, es ist eine von vielen Regeln. »Die Jungs fordern das auch ein, die brauchen eine Struktur.« Der Seeberger Treff hat viele Funktionen für die Jugendlichen. Sie kommen zum Essen, zum Billard oder zur Hausaufgabenhilfe. »Ich erlebe die Kids als hochmotiviert, was die Schule angeht«, berichtet Cansay. »Die versuchen, die Chancenungleichheit über Bildung wettzumachen.« Viele Leute gingen hier auch studieren, meint Kaan. Er selbst geht aufs Berufskolleg mit Schwerpunkt Gestaltung, Ercan hat gerade eine Ausbildung bei der Post begonnen und will zum Zoll. »Viele aus der Zeit von
früher motivieren uns, was Vernünftiges zu machen«, berichtet Kaan. 

 

Zahlreiche Großsiedlungen wurden in den 50er und 60er Jahren am Rande der Städte hochgezogen, um die Wohnungsnot im zerstörten Nachkriegsdeutschland zu lindern. Die Stadtplaner glaubten an ihre »Neue Stadt«, ein funktionales Leben in der Nähe der Arbeitsstätte war das Ziel. Im äußersten Kölner Norden entstand die größte Plattenbausiedlung von Nordrhein-Westfalen. Die ersten Bewohner zogen 1972 ein — als anderswo die Planstädte, ein sozialdemokratisches Vorzeigeprojekt, schon zu bröckeln begannen. Ab Mitte der 80er, nach der Pleite der DGB-Wohnungsgesellschaft Neue Heimat, der viele Wohnungen in Chorweiler gehörten, folgte eine Reihe von Eigentümerwechseln.

 

»Chorweiler erlebt das gleiche Schicksal wie die anderen Trabantenstädte«, sagt der Stadtsoziologe Jürgen Friedrichs von der Uni Köln. Die Planer wollten urbanes Leben, doch wohin man schaut, ist ereignislose Vorstadt. Begonnen hat die Abwärtsbewegung in Chorweiler bereits Anfang der 80er Jahre. Knapp zehn Jahre nach Fertigstellung standen zahlreiche Wohnungen leer. Die Facharbeiter blieben aus, die es sich -leisten konnten, zogen weg: ins Einfamilienhaus ins Grüne oder in die sanierten Altbauten der Innenstadt. Zurück blieben diejenigen, die die Miete anderswo nicht zahlen konnten. Die weiteren Probleme sind hausgemacht, weiß Jürgen Friedrichs: »In die leerstehenden Wohnungen wurden sogenannte Problemfamilien zugewiesen. Chorweiler ist ein zwangsläufiges Resultat einer verfehlten Zuweisungs- und Wohnungspolitik.« Von 1995 bis 2010 ist der Bestand an Sozialwohnungen in ganz Köln von 22 Prozent auf rund sieben Prozent geschrumpft. Die verbleibenden Wohnungen konzentrierten sich auf bestimmte Viertel und die Spaltung der Stadt schritt voran. Mit dem Rheinauhafen ist dann eine weitere Retortenstadt mit Schlafstätten-Charakter entstanden — nur für ein anderes Milieu, und eben in zentraler Lage. »Eigentlich hätte man in den 80er Jahren, als der Leerstand einsetzte, einen Teil der Siedlung in Chorweiler abreißen oder rückbauen sollen«, sagt Jürgen Friedrichs. Jetzt, bei der akuten Wohnungsnot, könne man das nicht mehr ernsthaft diskutieren. 

 

13.000 Menschen, davon rund 10.000 mit Migrationshintergrund, wohnen in Chorweiler, 8600 davon in Chorweiler-Mitte auf knapp zwei Quadratkilometern. 41 Prozent aller Menschen beziehen Hartz IV, das ist drei mal so hoch wie der Kölner Durchschnitt. Trotzdem ist der Stadtteil für viele eine Heimat. Rund zehn Jahre bleiben die Menschen im Schnitt dort wohnen, das ist länger als in der Südstadt oder in Ehrenfeld. 

 

Sigrid Heidt ist der Pfarrer Meurer von Chorweiler. Seit 30 Jahren arbeitet sie als Sozialarbeiterin in der Mieterkontaktstelle an der Osloer Straße, die seit sechs Jahren von der katholischen Pfarrgemeinde betrieben wird. Oder sie ist in einem der Hochhäuser unterwegs, um sich selbst ein Bild über das Ausmaß der Vernachlässigung zu machen. »In den letzten 15 Jahren ist das Viertel in die Abwärtsspirale geraten. Jetzt ist die einzige Chance, das rumzureißen«, sagt Heidt, während sie in einem Ordner blättert, der randvoll mit Gutachten, Mängellisten, Briefen an Politiker und Wohnungsgesellschaften ist. Die 63-Jährige kennt die Geschichte der Hochhäuser besser als jede andere. »Eine solche Wohnsituation darf es einfach nicht geben. Das ist lebensfeindlich.« Allein in Chorweiler-Mitte gibt es 2700 Wohnungen, 1850 von ihnen sind extrem belastet. Dazu zählen die 1200 Einheiten, die seit zehn Jahren unter Zwangsverwaltung stehen, und 643 Wohnungen der BGP Norddeutschland, die laut Sigrid Heidt »mindestens genauso problematisch« sind. Der Investitionsstau ist immens: marode Rohrleitungen, einfach verglaste Fenster, poröse Fugen an Balkon und Fenster, durch die ständig Feuchtigkeit eintritt, Schimmel, vermüllte Treppenhäuser, fremdgenutzte Tiefgaragen, kaputte Klingeln und Aufzüge bei 23 Stockwerken. Von 1987 bis 2000 war Chorweiler im Rahmen des bundesweiten Programms »Soziale Stadt« schon einmal Sanierungsgebiet. Damals wurden Innenhöfe und Plätze neu gestaltet, eine überdimensionierte Straße wurde zum Olaf-Palme-Park, das Anwohner-Café wurde eröffnet und neue Initiativen konnten finanziell unterstützt werden. »Wenn das Programm nicht gewesen wäre, weiß ich nicht, wie es hier aussehen würde, dann wäre es die absolute Trostlosigkeit«, sagt Sigrid Heidt. 

 

Im Amt für Stadtentwicklung und Statistik unter der Leitung von Maria Kröger werden derzeit vier Programme koordiniert, die die »Aufwertung von Chorweiler« zum Ziel haben. Mit etwas Glück könnte bald ordentlich Geld in den Stadtteil fließen. Vom Land sind für dieses Jahr 550.000 Euro für die Sanierung der Spielplätze bewilligt. Die Politiker sprechen von einem »Starterpaket«. Viele Spielecken zwischen den Häuserschluchten sind unbenutzbar: abmontierte Rutschen, verdreckte Sandkästen, netzlose Basketballkörbe, dazwischen wuchern Brennnessel-Sträucher. Zudem erhält die Stadt Bundesmittel aus einem Stadtplanungsfonds, mit denen drei Plätze — Liverpooler, Liller und Pariser Platz — aufge-wertet werden sollen. Gelder aus dem Europäischen Sozialfonds (EFRE) — 55 Millionen Euro, die sich stadtweit auf elf Sozialräume verteilen — sollen vor allem Bildungs- und Sozialprojekte anstoßen. Ziel des Programms ist die Armutsbekämpfung und -prävention. Eine Entscheidung dazu wird Ende des Sommers erwartet. 

 

Das »integrierte Handlungskonzept Chorweiler« dümpelt dagegen schon lange vor sich hin. Bereits 2011 hat der Stadtrat die Verwaltung mit der Prüfung beauftragt, ob das Quartier als Sanierungsgebiet ausgewiesen werden soll. »Wir prüfen zuerst, ob es städtebauliche oder soziostrukturelle Missstände gibt«, sagt Maria Kröger. »Wir hatten zu wenig Leute, um das Thema so intensiv zu bearbeiten, wie es eigentlich sinnvoll wäre.« Tatsächlich hätte das Programm bereits in der Vergangenheit ein hilfreiches Instrument sein können, um eine begrenzte Handhabe gegenüber Privatinvestoren zu besitzen. Für wirtschaftlich relevante Vorgänge wie Immobilienverkäufe braucht es in einem offiziellen »Sanierungsgebiet« die Genehmigung der Behörde. 

 

Solche Vorgänge findet Cornelie Wittsack-Junge, die bis 2014 Bezirksbürgermeisterin von Chorweiler war und zwölf Jahre für die Grünen in der Bezirksvertretung saß, »extrem ärgerlich«: »Wenn man sich für Chorweiler einsetzt, bekommt man ständig Knüppel in den Weg geworfen. Wichtige Projekte zur Stabilisierung des Viertels wurden im Stadtrat abgeschmettert, obwohl es um verhältnismäßig kleine Summen ging«, resümiert sie ihre Arbeit in der Bezirksvertretung. Wittsack-Junge wohnt im angrenzenden Pesch, doch nach Chorweiler-City kommt sie auch heute noch fast täglich: »Plätze schöner machen, das sind Ersatzhandlungen. Das bewirkt gar nichts und ist eine typisch kölsche Reaktion.« Viel dringlicher ist es ihrer Meinung nach, in soziale Strukturen zu investieren und Stellen nachhaltig zu besetzen. Konkret im Blick hat sie zwei feste Stellen für Streetworker, die nur für den Stadtteil zuständig wären. »Die sogenannten Streetworker der Stadt Köln, die drei Bezirke abdecken müssen, sind ein Scherz. Die kommen, wenn sie von Problemen hören, verteilen Adressen mit Anlaufstellen, dann sind sie wieder weg. Das ist strukturell falsch angelegt.« Roman Friedrich und Taner Erdener waren dagegen acht Jahre lang gemeinsam in Chorweiler-Nord unterwegs, angestellt waren sie vom Internationalen Bund. Jeden Tag waren sie auf der Straße, um den Kontakt mit Jugendlichen zu suchen. »Für aufsuchende Jugendarbeit sind eine kontinuierliche Beziehung und Vertrauen das allerwichtigste. Wir haben uns eine Projektstelle nur für Chorweiler-Nord geteilt und bei weitem nicht alles gepackt, was wir wollten«, sagt Roman Friedrich. Vor eineinhalb Jahren hat er einen Job im Jugendzentrum in Frechen angenommen, weil er von der projektgebundenen Streetworker-Stelle seine Familie nicht ernähren konnte. »Alle Institutionen und Engagierten in Chorweiler pfeifen aus dem letzten Loch. Die Stadt muss kapieren, dass die Etats langfristig erhöht werden müssen und dass es hier keinen netten Förderverein gibt, der mal eben einen Batzen Geld einsammelt«, sagt Cornelie Wittsack-Junge. Absurd werde die Situation dadurch, dass man ständig neue Anträge mit der gleichen Aufgabenstellung schreibe. »Am Brüsseler Platz werden extra Leute für die Nachtruhe eingesetzt und in Chorweiler gibt es keine festen Streetworker. Da verliert man den Glauben an die Politik und die Stadt. Und so geht es vielen in Chorweiler«, sagt Cornelie Wittsack-Junge.

 

Ob der Kauf der 1200 Wohnungen durch die GAG den Umschwung für den Stadtteil bringt, ist noch nicht ausgemacht. 32 Millionen Euro will die Stadt auf zehn Jahre verteilt für die Sanierungen der renovierungsbedürftigen Wohnungen und ein Sozialarbeits- und Conciergeprogramm zur -Verfügung stellen. Davon müssen Aufzüge und Rohrleitungen erneuert, Fenster ausgetauscht und die Häuser neu gestrichen werden. Die GAG könne ein Impulsgeber sein, meint Jürgen Friedrichs, aber das Problem an Chorweiler sei, dass so viel im Argen liegt: »Man muss priorisieren.«

 

686,61 Euro bezahlt Familie Ciftcioglu für ihre Drei-Zimmerwohnung an der Stockholmer Allee, jenem Straßenzug, der am heruntergekommensten ist. Im Bad blättert der Putz von der Wand, alle drei Monate gibt es neue Schimmelecken, bei geschlossener Balkontür zieht ein Windstoß herein. »Die Zwangsverwaltung sagte mir, man soll nicht duschen, sondern baden. Wie stellen die sich das vor bei fünf Leuten?« Nun wurde an der Badewanne gefliest — drei Reihen. »Das ist Comedy, oder?« Das Lachen hat Retibe Ciftcioglu, die drei Kinder hat, noch nicht verlernt. Im vergangenen Jahr mussten sie 1900 Euro Nebenkosten nachzahlen, ein Nachbar sogar 5000 Euro. »Das hat uns das Genick gebrochen«, sagt ihr Mann, der in Lindweiler arbeitet. »Wir bekommen ja kein Geld vom Staat.« 1973 sind seine Eltern als Teil der ersten Bewohner in die Stockholmer Straße eingezogen, sein Vater hatte Arbeit beim Carlswerk in -Mülheim gefunden. »Damals war alles top. Bester Standard.« Als Kind hatte ihre heute zwölfjährige Tochter starkes Asthma. »Der Allergologe sagte, das kommt vom Schimmel, das ist gesundheitsgefährdend.« Ein Experte untersuchte die Wohnung mit einer Wärmebildkamera. »Die sahen, dass unter der Tapete alles verschimmelt ist. Außerdem sagten sie, wir können heizen so viel wir wollen. Es bringt nichts. Neunzig Prozent der Wärme geht verloren.« Ein Gutachten wurde angefertigt, die Ciftcioglus schickten das Original an die Hausverwaltung. »Seitdem haben wir nichts mehr gehört. Damals waren wir noch dumm, heute machen wir für alles Kopien.« Retibe Ciftcioglu ist eine tatkräftige Frau, sie hat eine Rechtschutz- und eine Haftpflichtversicherung, und schon mehrfach bei der Hausverwaltung angefragt, ein paar Spielgeräte vor der Haustür aufzustellen, eben dort, wo das Spielplatz-Schild steht: »Ich sage: Macht doch wenigstens eine Rutsche. Dann sagen die: Geht doch ein paar Straßen weiter, da ist eine Wippe.« 

 

Gleiche Bauzeit, gleiche Bausubstanz — ein paar hundert Meter weiter stehen das Sahle-Hochhaus an der Florenzer Straße 32 und der Block an der Liller Straße mit Eigentumswohnungen. »Das sind sanierte Wohnungen in gutem Zustand. Die sind wichtig für die Stabilisierung des Viertels. Davon bräuchten wir noch mehr«, sagt Sigrid Heidt. Das Sahle-Hochhaus wurde 1975 von einer eigentümergeführten Immobilienfirma errichtet, und gehört ihr noch heute. Die Wohnungen sind ordentlich renoviert, das Treppenhaus von lokalen Künstlern und Kindern verschönert, es riecht nach Putzmittel. Es gibt Gemeinschaftsräume, wo sich Frauen zum Kochen treffen, Kinder unter Anleitung ihre Hausaufgaben machen können, und eine Ansprechpartnerin vor Ort. Vor dem Haus ist ein Spielplatz, dahinter ein eingezäunter Garten, man feiert gemeinsam Ramadan, Weihnachten oder Chanukka. Alle Wohnungen waren sozial gefördert. »An dem Haus sieht man, es sind nicht die Menschen, die schlecht sind, sondern das falsche Wohnmanagement«, sagt Sigrid Heidt. 

 

Nataliya Chestnova lebt am Liverpooler Platz in einem Haus von BGP, das an das City-Center angrenzt. Eineinhalb Jahre lang hat Chestnova die Wohnungsgesellschaft gebeten, ein leckendes Rohr in ihrem Keller zu erneuern. Ein Fahrrad, ein Computer und Unterlagen seien durch den Wasserschaden zerstört worden, erzählt die 64-Jährige, die 1998 aus St. Petersburg nach Deutschland gezogen ist. Das Loch ist jetzt mit rotem Tape-Band geflickt, und tropft nun ein paar Meter weiter im Gang. Für ihre 2-Zimmer-Wohnung zahlt Nataliya Chestnova, die in Russland als Ingenieurin gearbeitet hatte, 550 Euro. »Wir sind hier so viele. Wir sind so unterschiedlich. Alter, Bildung, Religion, Erziehung.« Trotzdem lebe sie gerne hier, sagt sie. Ihre beiden Söhne haben studiert und sind weggezogen. »Ich bleibe hier, ich bin ein Dinosaurier.« 

 

Ihre Freundin Serafima Selezneva wohnt in einer zwangsverwalteten Wohnung an der Osloer Straße. Ihre Wohnung ist blitzblank geputzt, an der Wand hängen selbstgemalte Blumenbilder, es läuft klassische Musik. »Die Wohnungen sind so hellhörig.« Wenn es mal wieder irgendwo kracht im Haus, hat sich Serafima Selezneva eine wirkungsvolle Methode überlegt: »Ich stelle dann mein Radio auf den Balkon, drehe es richtig laut und höre WDR 3. Klassische Musik finden hier viele nicht so gut. Danach ist es meistens besser.« 

 

Die beiden Frauen engagieren sich ehrenamtlich bei »Talente im Stadtteil«, einem Projekt das die katholische Kirchengemeinde vor fast zehn Jahren ins Leben gerufen hat. Wer möchte, kann dort Kurse anbieten, das Angebot reicht von Yoga, Aerobic über Deutsch- und Englischkurse bis zur Gesprächskultur. Auch die Reihe »Chorweiler in Concert« ist daraus entstanden, ebenso wie der Secondhand-Laden »Fundus« in Seeberg. Dort kann man nicht nur Gebrauchtwaren kaufen, es gibt auch ein Café, das zu einer Art Beratungsstelle geworden ist. Auch die Aktion »Stromsparcheck Chorweiler«, eine kostenlose Energieberatung für Transferleistungsempfänger, ist daraus hervorgegangen. Serafima Selezneva und Nataliya Chestnova haben alle Hände voll zu tun. »Wir haben so viele Ideen.« Sie sagen aber auch Sätze wie: »Ohne Siggi Heidt wären wir nicht mehr da.« 

 

Chorweiler lebt von seinen migrantischen Initiativen. Es gibt eine eritreische Gemeinde, türkische Vereine, die Synagogengemeinde Köln hat sogar ein eigenes Begegnungszentrum, das mit Bibliothek und Sprachkursen ein Anlaufpunkt für die russische Community ist. »Der Kauf durch die GAG ist für uns sehr wichtig«, erzählt die Leiterin Irina Rabinovitch. »Viele unserer Gemeindemitglieder wohnen in den zwangsverwalteten Wohnungen.« 

 

Die strukturellen Probleme von Chorweiler können aber auch diese Initiativen nicht lösen. Die autogerechte Stadtplanung belastet das Viertel noch heute: Zu breit angelegte Umgehungsstraßen, die das Viertel zersiedeln und vom grünen Umfeld abriegeln. Unausgelastete Parkhäuser, die, wenn man sie endlich abreißen würde, mehr Platz für Grün und Licht zwischen den Hochhausschluchten ließen. Auch innerhalb des Quartiers gibt es zahlreiche Brachen: Auf dem Dach des City-Centers, einer riesigen Fläche, die von zwei Seiten von Hochhausriegeln begrenzt wird, wuchert Gestrüpp. Der Zugang ist offiziell verboten. In den 90er Jahren konnte man hier Minigolf spielen, es gab einen Spielplatz für die Kinder und Sitzgelegenheiten für die Eltern. Auch das Dach der Tiefgarage zwischen Stockholmer und Osloer Allee hat viel Potential. Der Zugang ist abgesperrt, das Gitter ist allerdings eingetreten. Auch hier ist ein großes, autofreies, ungenutztes Areal. Man sieht noch die Überbleibsel von Straßenarbeiten, an einer Stelle hat man den Asphalt aufgerissen, ein paar Pflastersteine liegen herum. Daneben ein verkohlte Sitzgruppe und ein verrotteter Basketballkorb. Irgendwann hat man mal angefangen, hier zu renovieren und es dann sein lassen. 

 

Vielleicht ist das auch ein Sinnbild dafür, wie die Stadt mit den Menschen in Chorweiler umgeht. Dieser Eindruck drängt sich auf, wenn man dem Soziologen Sebastian Kurtenbach zuhört: »Arme Stadtteile machen Arme ärmer«, erklärt er. Sein Doktorvater Jürgen Friedrichs hat 2008 festgestellt, dass keine andere Großstadt so stark in Arm und Reich gespalten ist wie Köln. Armut konzentriert sich hier in bestimmten Vierteln: Porz-Finkenberg, Kölnberg und Chorweiler. Das Leben in einem armen Stadtteil erhöhe das Risiko, psychisch krank und übergewichtig zu werden, ergänzt Kurtenbach. Als Kontexteffekte bezeichnet er diesen Zusammenhang. »Wir leisten uns in der Stadt ein Armenhaus, das zugleich eine Kinderstube ist«, sagt er. Für seine von der Adenauer- und Thyssen-Stiftung geförderte Doktorarbeit hat er mehrere Monate in Chorweiler-Mitte gelebt, um zu beobachten, wie sich das Wohnumfeld auf das Verhalten der Menschen dort auswirkt. »Das ist abhängig von der baulichen Substanz«, erklärt er. An den zwangsverwalteten Häusern in der Stockholmer Straße, so zeigen es seine Daten, sei es wahrscheinlicher, dass es zu »abweichendem Verhalten« komme als in der gut geführten »Bumerang-Siedlung« der GAG: Müll auf die Straße werfen, Rumschreien, Gewalt. Das erinnert an die Broken-Windows-Theorie aus den 1990er Jahren, nach der ein eingeschlagenes Fenster die Hemmschwelle senkt, noch eins einzuschlagen. Aber Kurtenbach glaubt nicht, dass man nur mit Renovierungen und Sauberkeit schon den Menschen im Stadtteil helfen kann: »Wir müssen versuchen, das Resignationsrisiko zu vermindern.« Wichtig sei, die Leute möglichst früh einzubeziehen. Wenn ein Spielplatz gebaut werde, sollten die Kinder mitplanen, für die Renovierung könne man lokale Handwerksbetriebe heranziehen, Treppenhäuser könnten Jugendliche gegen Bezahlung streichen. »Mit-Mach-Planung« nennt Kurtenbach das. Sigrid Heidt sieht das ähnlich: »Alle Programme werden für die Katz sein, wenn nicht die Leute einbezogen werden.« 

 

Schon jetzt haben sich in Chorweiler viele von der Politik verabschiedet. Die Wahlbeteiligung bei der letzten Kommunalwahl betrug 24 Prozent — die niedrigste Quote in ganz Köln. »Ich finde, in der Politik wird viel gelogen. Ich bin nicht so einer, der wählt«, erklärt Ercan aus dem Seeberger Treff und sein Freund Kaan fügt hinzu: »Ich will nicht über Politiker reden. So denkt hier fast jeder.« Einer, der nicht so denkt, ist Inan Gökpinar. Er arbeitet bei der AWB, seinem Vater gehört das Olko, eins der wenigen Cafés im Stadtteil. 2004 wurde er das erste Mal für die SPD in die Bezirksvertretung gewählt. »Die Politik hat etwas für den Stadtteil gemacht. Jochen Ott hat erklärt, dass die Probleme von Chorweiler die Probleme der ganzen Stadt Köln sind«, erzählt er. »Jetzt haben wir das Gefühl, dass Chorweiler auch zu Köln gehört.« Gökpinar kam 1985 nach Deutschland, nach Chorweiler. Heute wohnt er in Seeberg. »Bis zum 16. Lebensjahr habe ich geglaubt, das sei eine eigene Stadt hier.« Wenn -Gökpinar »Chorweiler« sagt, meint er nicht nur den Stadtteil, er meint die Menschen und ihre Identität: multikulturell, geprägt von Zusammenhalt und Bruderschaft. »Unsere Stärke ist die 50765, unsere Postleitzahl.« Gökpinar erzählt viele Geschichten, wenn er diese Chorweiler-Identität beschreiben will. Geschichten von »russischen Omas«, die bei der Suche nach Lea-Sophie geholfen haben, von anderen »Chorweilern«, die einer Frau aus dem Togo die Wohnung kostenlos eingerichtet haben; vom einzigen Cricketverein ganz Kölns. Und von Kindern, die ihre neuen Fußballschuhe für Flüchtlingskinder gespendet haben. Trotz dieser Geschichten und trotz SPD-Parteibuch ist er skeptisch, was die Zukunft seines Stadtteils angeht. »Ich sage immer, lassen Sie uns in drei Jahren nochmal reden.« Wie viele hier schwankt Gökpinar zwischen Engagement und Desillusionierung — auch das ist typisch Chorweiler. Auch Gökpinar kann schnell benennen, was der Stadtteil benötigt: mehr Chorweiler Bürger bei der Stadt und der Rheinenergie, eine Kneipe für den Stadtteil, sein Traum wäre ein Krankenhaus. »Die Jungs aus Chorweiler sollen in den Stadtteil zurückkommen«, sagt er und meint damit die Medizinstudenten ebenso wie den Kommunikationsdesigner Puya Bagheri, der in der Nähe des Pariser Platzes demnächst einen Raum für »Urbane Jugendkultur« eröffnet, wo Graffiti- und HipHop-Workshops angeboten werden. Für Gökpinar sind das erste Schritte: »Köln und Chorweiler sind bislang Parallelgesellschaften gewesen. Wir tun viel, aber die Stadt Köln muss uns jetzt entgegenkommen. Warum besuchen uns nicht mal die Roten Funken oder das Dreigestirn?« Gökpinar meint es ernst. Seit langem bittet er Toni Schumacher darum, dass der FC mal für ein Freundschaftsspiel nach Chorweiler kommt. Bislang hat der Verein nicht auf Gökpinar reagiert. FC-Fan ist er jetzt nicht mehr, sondern zum Erzrivalen gewechselt. Borussia Mönchengladbach hat Chorweiler schon besucht. Die sind ja auch keine Kölner.

 

 


Weitere Stadtteilporträts in der Stadtrevue:

→ Ehrenfeld (2010)
→ Kalk (2011)
→ Mülheim (2012)
→ Porz (2013)
→ Nippes (2014)
→ Deutz (2016)
→ Ehrenfeld (2017)