»Ich muss die Egos zum Fließen bringen« | Foto: Manfred Wegener

Mehr Führung, mehr Freiheit, mehr Energie

François-Xavier Roth ist neuer Dirigent des Gürzenich-Orchesters und Generalmusikdirektor der Stadt Köln. Im Interview erzählt er von den Herausforderungen, denen sich ein Dirigent stellen muss

Der Bürotrakt des Gürzenich-Orchesters im Erdgeschoss der Philharmonie. François-Xavier Roth kommt hereingefedert, setzt sich auf den Stuhl und los geht’s. Roth ist eine quirlige, drahtige, listige Erscheinung. Small Talk? Energieverschwendung. Es ist der 1. Juni, das neueste Kölner Operndesaster zeichnet sich noch nicht ab, und der 43-jährige Franzose probt bereits mit dem Gürzenich Orchester. Ab dem 1. September wird er neuer Generalmusikdirektor der Stadt Köln sein.

 

Hört man sich um, wird das durchweg als Coup der hiesigen Kulturpolitik goutiert: Roth gilt als engagierter, inspirierter Dirigent und Ensembleleiter. Er gehört keiner Schule an, schert sich nicht um Epochen- oder Stil-Grenzen, kennt das vermeintlich Abseitige in der Musikliteratur, beherrscht den Kanon perfekt. Als Flötist und langjähriger Orchestermusiker ist er ein Quereinsteiger. Er hat viel von der transparenten und angemessen strengen Phantasie Pierre Boulez’ gelernt.

 

Und er ist ein kämpferischer Typ. In Freiburg und Baden Baden dirigiert er noch bis 2016 das Sinfonieorchester des SWR. Dieses Orchester wird dann mit dem Stuttgarter, dem anderen Sinfonieorchester des SWR, fusioniert. Roth war ein vehementer Gegner dieser Sparmaßnahme und nahm kein Blatt vor dem Mund. In Köln, der Stadt, in der Heißluftballons unvermittelt auf Fußballplätzen landen und Opernhäuser schnell mal zu Luftschlössern werden, ist das nicht die schlechteste Attitüde, um sich zu behaupten.

 



Herr Roth, wie würden Sie den Ausgangspunkt Ihrer Arbeit beschreiben?

 

Der Dirigent ist ein Musiker, der keinen Ton macht. Er spielt nicht direkt Musik, produziert nicht unmittelbar Klänge. Es geht darum, wie man andere Musiker führt, welche Richtung man vorgibt. Ich muss also stark meine eigene Rolle reflektieren, weil ich die Musik, die ich im Kopf habe, nicht direkt umsetzen kann. 

 


Worin besteht diese Reflektion?

 

Der Komponist oder die Komponistin hatte eine bestimmte Musik im Kopf, und diese Utopie — Musik hat für mich immer einen utopischen Charakter — hat er auf Papier niedergeschrieben. Das ist alles noch abstrakt. Meine Mission besteht darin, die Musik zu schaffen, die der Vision des Komponisten am nächsten kommt, die seinen Intentionen entspricht. Dieser Anspruch, den ich an mich habe, bleibt immer derselbe, ob ich mit sechs Musikern arbeite oder mit zweihundert.

 


Aber nicht nur Sie stehen zwischen dem Notentext und seiner Realisation, sondern auch das Ensemble oder Orchester.

 

Nach der Auseinandersetzung mit dem Komponisten folgt für mich die Auseinandersetzung mit den Musikern. Jeder von ihnen hört anders, hat eigene Vorstellungen. Meine Aufgabe ist es, Energien zu bündeln, damit wir zusammen hören, zusammen fühlen, zusammen musizieren können. Ich muss die Egos zum Fließen bringen, damit etwas Gemeinsames auf der Bühne entstehen kann. Ich bin ein Musiker, dessen Instrument die Psychologie ist. Aber es existieren natürlich noch viele andere Parameter, die ich während der Erarbeitung eines Stückes noch beachten muss.

 


Die Egos zum Fließen bringen — gilt das auch für Ihr eigenes?

 

Aber natürlich! Alles fängt mit spontanen Eindrücken an. Ich lese eine Partitur und sofort habe ich ein Bild im Kopf, ja: ein musikalisches Bild! Ich muss aber weiterarbeiten, um herauszufinden, ob mein Bild mit der Utopie des Komponisten übereinstimmt. Ich muss mit dem Orchester proben — und dann kann es passieren, dass ich mein Bild verabschieden muss, weil es falsch war. Aber: Ich erwarte von mir, dass ich präzise arbeite, konzentriert auf ein Ziel hin. Das ist die Aufgabe des Dirigenten, er ist nicht zum Ausprobieren da.

 


Würden Sie sich als Regisseur betrachten?

 

Ich bin immer auf der Bühne, jeden Abend, ein Regisseur ist das nicht. Ein Regisseur hat Dramaturgen, Kameraleute an seiner Seite, ich habe zwar auch Leute, die mir zuarbeiten und für mich recherchieren, aber am Ende stehe ich ganz alleine vor dem Orchester. Und ich habe die Möglichkeit, noch während der Aufführung etwas zu ändern. Das ist die Magie des Konzerts, die ist einzigartig.

 


Was macht diese Magie aus?

 

Wenn man es schafft, das Stück so zu spielen, als wäre es das erste Mal: ganz neu und unberührt, innerlich völlig frei. Die Proben sind dagegen ein streng rationaler Prozess, da geht es für die Musiker darum, ein Stück zu verstehen, es zu beherrschen lernen. 

 


Sie haben Ihre Karriere als Musiker begonnen, als Flötist?…

 

Ich bin immer noch Musiker! (lacht) Sagen wir so, ich habe als Instrumentalist begonnen.

 


Es heißt, es sei ungewöhnlich, als Flötist ins Dirigentenfach zu wechseln, das sei Pianisten oder Organisten vorbehalten.

 

Es gibt in Deutschland eine strengere Vorstellung, das stimmt, der Dirigent soll aus dem Opernbetrieb mit seinen straffen Hierarchien kommen — das fängt beim Korrepetitor an, dann wird man zweiter Kapellmeister, dann erster?… Er soll ein polyphones Instrument beherrschen. Aber eigentlich gibt es diese Konvention nicht. Ein Orchester ist kein menschliches Piano, keine Verlängerung eines Instrumentes, sondern ein völlig eigenständiger Klangkörper. Ich habe jahrelang als Orchestermusiker gearbeitet und dabei unglaublich viel über die Dynamik eines solchen Organismus gelernt, über die Wirkungsweise eines Dirigenten.

 


Sie lehnen es ab, sich einer bestimmten Schule zuzuordnen. Warum eigentlich?

 

Ich sehe die größte Gefahr für ein Orchester darin, dass die Routine überhand nimmt. Routine ist wichtig, aber sie darf nicht zu Starrheit führen. Wer sich bestimmten Konventionen unterwirft — etwa wenn ich sage, ich gehöre dieser oder jener Schule an und muss so und so arbeiten —, dann laufe ich Gefahr, starr zu werden, berechenbar, einfältig. Das geht immer an der Musik vorbei! Wir müssen uns vielmehr fragen: Was wollte der Komponist? Wie war sein Klangfeld? Was bedeutete Musik für diese Person? Was bedeutete Musik für die Hörer seiner Zeit? Zu Antworten gelangtman nur, wenn man sich wirklich auf die Komposition einlässt. 

 


Sie leisten also Vermittlungsarbeit. Innerhalb der E-Musik ist das längst kein rein musikalischer Begriff mehr, sondern auch ein pädagogischer: Es geht darum, klassische und Neue Musik einem jüngeren Publikum aufzuschlüsseln.

 

Es existieren so viele hartnäckige Vorurteile über Klassik und Avantgarde. Dabei ist es keine bildungsbürgerliche Musik, sie ist für alle da. Musik verbindet, das ist meine primäre Erfahrung. Ich habe mit Kindern gearbeitet, für Leute im Krankenhaus oder in Altersheimen gespielt und immer wieder erlebt, wie Musik mitreißen, begeistern kann. Wie kann man dann denken, es gäbe Musik für diese Zielgruppe und Musik für jene? Das ist doch ein sehr eingeschränktes Verständnis. In der kommenden Spielzeit werden wir öfters an anderen Spielorten als der Philharmonie auftreten, um unterschiedliche Menschen zu erreichen. Es wird das Citylife-Projekt geben, wo wir mit Elektronik-Musikern aus Köln kooperieren, es wird mehr Kinderkonzerte geben, wir haben auch ein Projekt für schwerhörige Kinder. Die Oper und die Philharmonie bleiben unsere Basis, das ist ganz klar. Aber wir wollen auch dahin, wo Leute wohnen, die vielleicht spontan nicht auf die Idee kommen, in die Philharmonie zu gehen. Ich will einen Prozess der Öffnung in Gang setzen.

 


Sie werden auch Opern dirigieren. Was ist der Unterschied zu einem Konzert?

 

Mehr Leute. Das ist eigentlich schon alles. Es bringt natürlich eine gewisse Komplexität mit sich: Bei einer Oper sind nicht alle von Anfang an gemeinsam auf der Bühne, man muss viel kleinteiliger arbeiten, die Probenphase ist länger. Oper ist Spektakel total, alles zusammen: Musik, Schauspiel, Tanz, Licht, Bühne, Kostüme. Aber meine Aufgabe bleibt die gleiche: Ich muss führen und die Energien bündeln. Der Abend darf nicht auseinanderfallen.

 


Ist Ihnen schon mal ein Abend auseinandergefallen?

 

Wir sind Profis. Wenn man mit dem Gürzenich Orchester arbeitet und mit dem Ensemble der Kölner Oper, setzt man ein exzellentes Niveau voraus. Hier wird musikalisch sehr professionell, sehr gut gearbeitet. Was ich suche, ist der Unterschied: Wie wird aus einem sehr guten Konzertabend, einer sehr guten Operninszenierung ein besonderer Abend? Ich stehe damit nicht allein, es gibt in unserer Musik generell den Anspruch: Wenn wir morgen spielen, wird es noch besser, muss es noch besser sein! Denn in musikalischen Dingen geht es niemals gleichmäßig zu, entweder geht es abwärts — oder man wird besser, dann geht es aufwärts.

 

Musik ist auch von der Akustik des Raumes abhängig.
Wie klingt die Philharmonie?

 

Sehr gut.

 


Sie dürften jetzt sowieso nichts anderes sagen?…

 


(lacht) Nein, nein, das ist keine Schmeichelei. Ich kenne die Philharmonie schon sehr lange. Als Musiker wie als Dirigent. Der Saal ist toll, weil er dem Klang eine Struktur gibt wie in einem alten römischen Theater, sehr schön und direkt. Ich spüre, dass das Publikum nahe ist. Ich kann hier die Gesichter sehen und mir vorstellen: Das ist Köln, das sind sehr unterschiedliche Leute, die zusammen Musik erleben wollen. Diese Direktheit weiß ich sehr zu schätzen. Und mir gefällt die Nähe zum Museum Ludwig, dass wir ein Gebäude miteinander teilen, Bildende Kunst und Musik — das gehört für mich zusammen.

 

Noch mal einen Blick aufs Allgemeine: Es hat doch nicht immer Dirigenten gegeben, die Rolle des Dirigenten ist vergleichsweise neu ...

 

…sehr neu sogar, Dirigenten gibt es erst seit zweihundert Jahre. Bedenken Sie, wie lange die Menschen schon gemeinsam Musik machen!

 

Könnte man sagen, erst als die Musik komplexer wurde, bedurfte es eines Dirigenten?

 

Also: Beethoven ohne Dirigent — das geht einfach nicht. Doch. (Pause) Alles geht ohne Dirigenten! (lacht) Ein Dirigent ist kein Handwerker, kein Organisator. Natürlich können sich die Musiker selbst organisieren, die Aufgabe des Dirigenten aber beginnt jenseits der Organisation. So, das war eine kleine Provokation von mir. Wenn die Musiker sich selbst organisieren, dann sind sie viel weniger frei. Wer ihnen die Freiheit ermöglicht, das ist der Dirigent. Paradox, oder? Schließlich ist der Dirigent doch der Alles-Entscheider. Was hat das mit Freiheit zu tun? Aber wenn 20 … oder 200 Musiker aufeinandertreffen — ohne Dirigenten! —, sind sie viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt und verlieren die Musik aus den Ohren, die Musik wird starrer, sie zieht sich aufs Konventionelle zurück — sie wird unfreier. Und die Musiker bewegen sich in ihr auch unfreier.

 


Wie treten Sie einem Orchester gegenüber?

 

Ein Orchester soll eine Identität haben. Das ist kein anonymer, beliebig dehnbarer Körper. Ich mag es, wenn ein Orchester eine Persönlichkeit hat. Aber unsere gemeinsame Arbeit muss darüber hinausgehen, wir müssen zu experimentieren wagen. Konservatismus lehne ich grundsätzlich ab, man kann unmöglich eine Aufführung fixieren: So wie wir vor 15 Jahren Beethoven gespielt haben, so ist es heute immer noch gültig — diese Haltung würde diese Musik öde klingen lassen. Dann vergisst man auch, wofür die Musik einst stand. Eine erstarrte Musik bringt man nicht mehr mit den häufig turbulenten Umständen zusammen, die zu ihrer Entstehung beigetragen haben.

 


An welche gesellschaftlichen Umstände denken Sie?

 

Beethoven komponierte während der Französischen Revolution. Schönberg hat eine Musik aus zwölf gleichberechtigten Tönen entworfen, eine Musik ohne Hierarchien. Das verweist auch auf die moderne kommunistische Utopie einer Gesellschaft der Gleichen. Man kann in der Musik immer wieder solche Brücken in die Geschichte entdecken. Wir sollten uns bewusst machen, welche großen künstlerischen Risiken Komponisten wie Beethoven oder Schönberg eingegangen sind, auch das ist Aufgabe des Dirigenten.