Songs ohne Hierarchien

Das Frankfurter Duo März, Albrecht Kunze und Ekkehard Ehlers, arbeitet voll elektronisch. Dem Ideal von schönen, klassischen Songs kommen sie dabei so nah wie derzeit kaum eine andere deutsche Band. Martin Büsser hat sich mit Albrecht Kunze über Songs im Zeitalter der Laptop-Musik unterhalten

 

Auf dem Cover des neuen Albums von März sind zwei Menschen abgebildet, die sich küssen. Bei genauem Hinsehen stellt sich das Motiv als Vexierbild heraus: Mit der einen Seite küsst die Frau einen Geliebten, die andere wendet sich ab, küsst einen anderen Mann. Klappt man das Booklet der CD auf, ergibt sich ein Kuss, der sich ins Endlose fortdenken lässt. »Man kann die Idee des Cover durchaus auf unsere Musik übertragen«, erzählt Albrecht Kunze, eine Hälfte von März. »Einerseits stellt es die Notwendigkeit von Bindung dar, sei es die Bindung zu einem Menschen oder zu einer Gruppe, aber auch die Notwendigkeit, dass Bindungen offen sind. So sind auch die Arbeiten von März angelegt: Bindungen mit offenem Ausgang.«
März haben sich auf »Wir sind hier« stärker am Song orientiert, also an der gebundenen Form. Diesbezüglich folgen Albrecht Kunze und Ekkehard Ehlers, die man ansonsten eher aus dem Kontext der strengen elektronischen Musik kennt, einem seit gut zwei Jahren anhaltenden Trend. Die Laptop-Dokrin ist durchlässig geworden und der Song, das einst in der Szene verpönte oder als veraltetet erklärte Format, in neuem Gewand zurückgekehrt. Auch März ließen sich inzwischen mit dem etwas unbefriedigenden Begriff Indietronics charakterisieren: Die Stimme ist in den Vordergrund gestellt worden, Akustikgitarre, Posaune, Akkordeon und Banjo sind hinzu gekommen, Spurenelemente von Folk inmitten gemächlich strudelnder Loops. März überwinden starre stilistische Trennungen, indem sie alle Instrumente vorwiegend atmosphärisch einsetzen, sie also klanglich aufeinander abstimmen und in einem für die Veröffentlichungen von Karaoke Kalk typischen Schwebezustand ausbalancieren. Auch die Loops basieren dabei oft auf akustischen Instrumenten, sind alten Folk- und Psychedelic-Platten entnommen.
»Nachdem gewisse elektronische Spielarten in den 90er Jahren irgendwann abgegrast waren«, erklärt Kunze die Wendung, »kam wohl bei vielen Musikern der Drang auf, sich wieder an alten Formaten zu versuchen. Wir waren auf unserer letzten Tour als reiner Elektro-Act unterwegs und irgendwann mit uns selbst unzufrieden. Wir begannen uns zu langweilen, weil einem das Laptop-Format wenig Raum für Improvisation und Veränderung gibt. Das wird sich mit dem Material der neuen Platte ändern – zum Beispiel dadurch, dass wir live mit dem Kölner Gitarristen Joseph Suchy auftreten werden, der sehr soundorientiert arbeitet und sicher dazu beiträgt, dass sich die Stücke von Konzert zu Konzert verändern.«
März gehören zu jenen Musikern, die erkannt haben, dass Laptop und Akustikgitarre – und mit ihr die ganze Indie-Folk- und LoFi-Tradition – einander nicht ausschließen, sondern dass sie zusammen einen demokratischen Ansatz von Musikproduktion darstellen können: Beides sind Wohnzimmer-Formate, die kein Studio oder aufwändige Arrangements benötigen. Es ist also eigentlich nur konsequent, dass sich viele elektronische Musiker nun wieder oder erstmals akustischen Instrumenten zuwenden, nachdem ein gewisser musikalischer Abstraktionsgrat an seine Grenzen gestoßen ist.
Zugleich besteht jedoch auch die Gefahr, in abgegriffene Strukturen zurückzufallen. Dies wollten März auf »Wir sind hier« vermeiden. »Das klassische Songformat langweilt mich«, resümiert Kunze, »genauer gesagt habe ich nie verstanden, warum mich eine Form dazu nötigen soll, festgelegte Schemen zu benutzen, also so etwas wie Strophe, Übergang und Refrain. Wenn ich mir all die Bands anhöre, deren Referenzen bei Velvet Underground oder bei Neil Young liegen, kann es passieren, dass ich bereits im Vorfeld weiß, wie der weitere Verlauf ihrer Stücke klingen wird. Diese Berechenbarkeit ist langweilig.«
Mit seinem anderen Projekt Lamé Gold hatte Albrecht Kunze bereits eine Coverversion des Beatles-Klassikers »Helter Skelter« aufgenommen, die dadurch irritiert, dass der Refrain einfach weggelassen wurde. So entstand ein ganz neues Stück, in dem die typische Zeitstruktur herkömmlicher Popsongs aufgelöst wurde. Sobald auf den Wechsel von Strophe und Refrain verzichtet wird, kann auch ein Song quasi endlos durchlaufen, vor allem, wenn die Instrumentierung fast ausschließlich aus Loops besteht: »Die Grundidee von März ist die des endlosen Tracks der Clubmusik. Jede Nummer bietet einen zeitlichen Ausschnitt von etwas, das so angelegt ist, dass es andauernd so weitergehen könnte.«
Dies wiederum korrespondiert mit der Kuss-Serie auf dem Cover: März-Nummern wirken beliebig dehnbar, fangen ebenso willkürlich an wie sie willkürlich aufhören. Damit verkörpern sie ein bestimmtes Glücksversprechen des klassischen Pop, kommen jenem Bedürfnis entgegen, eine angenehme Stimmung möge ewig andauern. »Unsere Stücke bestehen tatsächlich aus ganz einfachen Strukturen«, bekräftigt Kunze, »kommen zum Beispiel ganz ohne Moll-Harmonien aus.« Doch in ihrer Redundanz lassen die Stücke auch andere Einflüsse erkennen, etwa die der Minimal Music, vor allem den radikalen Ansatz eines La Monte Young aus den 60er Jahren: Zusammen mit dem späteren Velvet-Underground-Musiker John Cale arbeitete das Ensemble um Young an nur leicht variierten Drones, die sich oft auf Stunden Spielzeit ausdehnen konnten. Etwas davon kehrt bei März wieder, allerdings gezähmt und zeitlich nie den Rahmen von konventionellen Popsongs sprengend.
Man hört die unterschiedlichen Vorlieben der Musiker Kunze und Ehlers heraus, darunter die Harmonien der Beach Boys und den melancholischen Schmelz von Nick Drake, das Grundprinzip von House und
die Idee von John Cage, keine Hierarchien unter den Klängen aufkommen zu lassen. All das ist auf »Wir sind hier« jedoch mehr als Wissen denn als Zitat eingeflossen. Auf dem Vorgängeralbum »Love Streams« (2002) waren Samples noch eindeutig erkennbar, etwa »Pink Moon« von Nick Drake, Phrasen von Bob Dylan oder den Beatles. Was dazu führte, dass März immer wieder auf die gesampelten Referenzen festgeschrieben, wenn nicht sogar über sie definiert wurden. Dem entzieht sich »Wir sind hier«. Das Album bleibt wesentlich abstrakter, von den Sounds her amorpher, obwohl es doch zugleich noch stärker als sein Vorgänger im Sinne von Pop funktioniert. Eigentlich ein Widerspruch. Aber ein ungemein produktiver.

März, »Wir sind hier«, ist bereits auf Karaoke Kalk (Vertriebe: Hausmusik, Indigo) erschienen.