Etappensiegtheater

»Hamlet« rationalisiert, Amerika verharmlost. Michael Eggers war beim Saisonbeginn des Kölner Schauspiels: mit Shakespeares Dänenprinz im Managerdress und Biljana Srbljanovic<caron>s Versuch einer Kapitalismuskritik

 

Im Schauspielhaus hat man derzeit eine Schwäche für die anglophone Songkultur der 70er Jahre. Cat Stevens bei Kleist, jetzt Neil Young bei Shakespeare: »Hey hey, my my... The king is gone but he’s not forgotten/ This is the story of a Johnny Rotten/ It’s better to burn out than to fade away/ The king is gone but he’s not forgotten.«
Der König ist tatsächlich nicht mehr da, in Regisseur Dus<caron>an David Parizeks »Hamlet«, nicht einmal mehr als Geist. Hamlet senior führt eine schwache Restexistenz in den Dialogen und in Hamlet juniors Kopf. Die berühmte Eingangsszene mit der Geisterscheinung des Vaters – gestrichen, wie vieles mehr aus dem Originaltext. Das Personal von locker 25 Personen – eingedampft auf sieben. Kein Horatio, kein Fortinbras, keine Schauspieltruppe, kein Totengräber. Rosencrantz und Guildenstern sind eins, ein dümmlicher, doppelzüngiger »Rosencrantzguildenstern«. Vor acht Jahren hat Kenneth Brannagh, in eitlem Genieglauben, für den ungekürzten Text vier Stunden gebraucht. Hier ist in hundert Minuten alles gegessen. Den Schluss überlebt keiner, alle tot.
Wie sieht die Bilanz von solchen Kürzungsmaßnahmen aus? Machen wir eine Gewinn- und Verlustrechnung dieser unbarmherzigen Rationalisierung. Man kürzt und verschiebt nicht ohne Konsequenzen, im Guten oder Schlechten. Im Text erfolgt die Aufklärung über die Vorgeschichte, über Claudius’ Mord an seinem Bruder und König, durch den Ermordeten selbst, durch den Geist des Vaters, der Hamlet zur Rache auffordert. Fällt diese Szene weg, scheint der Entschluss zum Handeln von Hamlet selbst zu stammen. Nicht wie im Original Weisung von oben, sondern innere, wissende Entscheidung. Auch keine Grübeleien mehr, keine tiefen Überlegungen: Hamlets Monologe sind fast ganz ausgespart, aufgelöst in Aktion. Ohne die erste Zeile gerät »Sein oder Nichtsein«, die Selbstbefragung des Lebensmüden oder Todesmutigen, zur Denksportaufgabe, mit der Hamlet dem Polonius den Kopf verknotet.
Polonius und Rosencrantzguildenstern, die lächerlichsten Figuren des Stücks, werden vollends zu seinen Spielsteinen, wenn er sie für die Theateraufführung einsetzt, mit der er Claudius des Mordes überführt. Ohne Freund Horatio und seinen Beistand – Hamlet ein einsamer Player. Ohne Ophelias Begräbnis – Hamlet ohne Trauer um die Geliebte. Ohne Fortinbras’ Auftritt am Ende – Dänemark ohne Staat und neuen König, Hamlet ohne Nachfolger, ein Allesvernichter. Es läuft alles darauf hinaus: Hamlet, der sich selbst allzu Bewusste, eigentlich tragisch ins Unheil Schlitternde, ist in dieser Fassung ganz auf sich gestellt, aber eben deshalb um so stärker. Im raschen Handlungsablauf agiert er so sicher wie der Tod, ob er ihn nun beabsichtigt oder nicht.
Alexander Khuon gibt ihn spielerisch leicht, zuweilen mit einem entrückten Lächeln. »Ich bin tot« sagt er zu Beginn und am Ende – unmöglichste aller Feststellungen. Seine Sicherheit wirkt denn auch gespenstisch, so wie die Mikroports, deren Akustik die Figuren geisterhaft werden lassen. Dazu passt die Kälte, mit der die Rollen gespielt werden, und die Monotonie der businessgrauen Anzüge. Kaum eine Emotion wird zugelassen, das Verhalten am Hofe wirkt streng kontrolliert, beherrscht. Bis auf wenige Ausbrüche: ein Verzweiflungsschrei von Laertes (zu cool: Andreas Grötzinger), ein Heulkrampf von Gertrud (Claudia Fenner in überzeugender Zerrissenheit), kurze Wutschreie von Claudius (finster, kalkulierend: Markus Scheumann). Alles andere bleibt der Schicksalslogik des Verbrechens unterworfen. Kein Entrinnen aus dem schwarzen Winkel auf den die beiden schlichten Holzwände zulaufen (Bühne: Olaf Altmann).
Am Schluss, wenn keiner mehr lebt, weiß man, der Tod, der dem Stück in der Ermordung von Hamlets Vater vorausliegt, hat von Anfang an schon alle erfasst. Hamlet ist nur sein Vollstrecker. Parizek hat Mut bewiesen, mit einem drastischen und respektlosen Zugriff, damit aber das vielschichtige Stück zu einem zynischen Endspiel gemacht. »Hey hey, my my. Rock and roll will never die.« Ein schwacher Trost, diesmal.
Während sich am Kölner Schauspiel zumindest in einigen Klassikerinszenierungen allmählich eine gewisse stilistische Linie ausmachen lässt – zugespitzte Interpretationen, optisch nüchtern, mit einem Hang zum Fatalismus –, gibt es für die angelaufene Saison auch eine inhaltliche Vorgabe: Amerika soll in verschiedenen Stücken beleuchtet werden, begleitet von einer Lesereihe amerikanischer Autoren.
»God save America« heißt es deshalb ironisch in der inzwischen schwarz lackierten Schlosserei, mit einem Stück der serbischen Autorin Biljana Srbljanovic<caron> in deutschsprachiger Erstaufführung. Sie schickt Karl Roßmann, Hauptfigur aus Kafkas Amerika-Roman »Der Verschollene«, noch einmal nach New York. Diesmal als jungen, gutverdienenden Alleinstehenden, der sich in einem luxuriösen Miniapartment in Manhattan eingerichtet hat.
Beginnend mit dem Besuch seines Freundes muss er sich dem Wahnwitz des Lebens in New York erwehren. Schicke Restaurants, in denen man die Rechnung unaufgefordert auf den Tisch bekommt, reichlich Koks auf dem Klo, Models und ihre Schuhe für 800 Dollar. Deutlich von Kafka entlehnt sind die fiesen Widrigkeiten des Alltags, die Karl aus der Fassung bringen, die Telefongespräche an realen und surrealen Orten, das unentrinnbare, paranoide Gleiten von einer misslichen Situation in die nächste. Auch die Architektur des Bühnenbildes (Sascha Gross) passt dazu: ein Drehwürfel, auf vier Seiten bespielbar und mit zahlreichen Luken, Durch- und Übergängen versehen.
Trotzdem bleibt es bei einem harmlosen Reigen der Situationskomik. Es reicht nicht einmal zu der offensichtlich angestrebten Steigerung ins Katastrophalgroteske. Ob Karl seinen Job verliert, ob Freund Daniel inzwischen tot ist oder nicht, ob der 11.9. hin und wieder eingeflochten wird, das alles macht kaum einen Unterschied. Zu beliebig die Szenenreihung, zu flach die Witze, zu brav der verfremdete Blick auf den gewöhnlichen Wahnsinn. Als Satire auf den US-Kapitalismus ist das zu unpointiert, für die Gesellschaftskomödie fehlt es an prägnanten Charakteren. Flache, eindimensionale Figuren kann auch ein bemühtes Spiel nicht wirklich retten. Sven Walser gelingt es als Karl immerhin, eine tiefsitzende Genervtheit glaubhaft zu machen.
Wenn Parizek zuviel gekürzt hat, dann Peter Wittenberg zu wenig. Seine Regie scheint dem Stück zu vertrauen, aber um dessen Pointen herauszukitzeln, muss er es bis zum Slapstick treiben. Als schließlich, in der Aufführung zum Auftakt der 4. Kölner Theaternacht, eine der Holzwände des Bühnenbildes herausbrach und knapp vor den ersten Zuschauern auf den Boden krachte, wirkte es nur wie ein weiterer Holzhammereffekt der Inszenierung. Das Stück mag im besten Fall sein Publikum finden, überflüssig ist es dennoch.
Mit diesem Auftakt aus zwei denkbar unterschiedlichen Produktionen macht das Kölner Schauspiel erst einmal da weiter, wo es vor der Sommerpause aufgehört hat. Hier und da ein Achtungserfolg, dazwischen viel Leerlauf. Etappensiege, immerhin.


»Hamlet« von William Shakespeare, R: Dus<caron>an David Parizek, Schauspielhaus, 19.30 Uhr.
»God Save America«, von Biljana Srbljanovic<caron>,
R: Peter Wittenberg, Schlosserei, 20 Uhr.