Vorbild für andere Kämpfe
Die Zeichen stehen auf Streik. So sieht es zumindest zum Zeitpunkt unseres Redaktionsschlusses Mitte September aus. Anfang Oktober kann es, soll es, wird es zu einer Fortsetzung des Kita-Streiks, der im vergangenen Mai und Juni bereits vier Wochen dauerte, kommen. Dann werden die Erzieherinnen und Sozialarbeiterinnen wieder auf die Straßen gehen (es gibt natürlich auch Erzieher und Sozialarbeiter, doch vor allem ist das ein Streik der Frauen). In Köln werden sie vor dem Rathaus und vor der Gewerkschaftszentrale auf dem Hans-Böckler-Platz zu sehen sein. Eltern werden fluchen und sich als die eigentlichen Leidtragenden fühlen. Die Presse wird Unverständnis zeigen. Die kommunalen Arbeitgeber werden ihre kaum verhohlene Arroganz an den Tag legen: Wir verdienen an eurem Streik, wir sparen Gehälter ein — allein im Frühjahr sollen es bundesweit über siebzig Millionen Euro gewesen sein —, ihr habt die Öffentlichkeit gegen euch. Und die Streikenden werden zu den Trillerpfeifen greifen, diesen unverwüstlichen Gewerkschaftsutensilien. Ihr schriller Sound ist der altbekannte, neu und unbekannt aber ist die Wut der Erzieherinnen und Sozialarbeiterinnen, ihre Kampfbereitschaft. Damit hat niemand gerechnet: nicht die Arbeitgeber und auch nicht die Gewerkschaftsführung. Die muss einen Arbeitskampf weiter führen, den sie gerne beendet hätte.
»Wir sind vier Wochen auf die Straße gegangen, und es hat sich nichts getan. Das bestätigt doch, wie sehr wir aufgewertet werden müssen. Es wird nicht verstanden, was wir leisten.«
»Es geht nicht nur um höheren Lohn. Es geht zum Beispiel auch um kleinere Kita-Gruppen. Viele Erzieherinnen sind überlastet und überfordert, die Stellenkontingente sind zu gering.«
»Wir wollen raus aus dem Schatten, ohne uns wäre der soziale Zusammenhalt in unserer Gesellschaft sehr gefährdet.«
»Die qualitativen Anforderungen an die Kolleginnen haben sich in den letzten zehn Jahren sprunghaft erhöht. In Sachen Bildung wird uns viel mehr Verantwortung aufgebürdet. Das spiegelt sich in unseren Aufgaben wider, in unserer Ausbildung. Aber nicht in den Gehältern.«
Das sind Aussagen von Karina Mester, Maria Nußbaum, Nadine Sitran und Anne Mark, allesamt Kölner Streikaktivistinnen, Personalräte in Kindertagesstätten und der Sozialverwaltung der Stadt Köln. Wir haben sie Anfang September getroffen. Die Kampfbereitschaft ist immer noch groß, sagen sie. Einlenken wollen sie noch nicht. Einen Kompromiss erwarten sie, aber nicht den, den die Streikschlichter ausgehandelt haben und den die kommunalen Arbeitgeber und die Spitzenfunktionäre von Ver.di auch beschlossen hätten. »Unsere Spitze war sicherlich davon überrascht, wie groß unter uns die Bereitschaft ist, weiter zu kämpfen. Wir wollen uns nicht mehr abspeisen lassen. Wir können nicht einfach vier Wochen Streik verdrängen. Selbst wenn wir am Ende nicht das erreichen, wofür wir gekämpft haben, ist es uns wichtig, dass wir gekämpft haben«, kommentiert Karina Mester.
Was war passiert? Zu wenig. Die beiden Streikschlichter Georg Milbradt (CDU) und Herbert Schmalstieg (SPD) hatten für die bundesweit 240000 Beschäftigten im Sozial- und Erziehungsdienst Gehaltserhöhungen zwischen 2 und 4,5 Prozent vorgeschlagen. Die Beschäftigten sind in zahlreichen Berufsgruppen aufgeteilt, die Steigerungen in der Gruppe der »Erzieherinnen mit Grundtätigkeit« hätten durchschnittlich 3,3 Prozent betragen. Der Tarifvertrag hätte die ungewöhnlich lange Laufzeit von fünf Jahren gehabt. Gestreikt haben die Erzieherinnen und Sozialarbeiterinnen für durchschnittlich zehn Prozent. Am 24. Juni fand in Frankfurt eine Streikdelegiertenversammlung statt. Gewerkschaftsboss Bsirske ließ die Muskeln spielen, gemeint waren seine eigenen Leute, er wollte den Kompromiss, warnte die Erzieherinnen, »verbrannte Erde« zu hinterlassen, fürchtete »zerrüttete Verhältnisse«, stellte die Suggestivfrage: »Sollen wir den Streik wirklich fortsetzen?« Ja, wollen sie. Die überwältigende Mehrheit der Streikdelegierten will es, und siebzig Prozent der zur Abstimmung aufgerufenen Ver.di-Mitglieder wollen es. Bsirske was not amused. Er habe seinen Laden nicht im Griff, musste er sich von der Presse sagen lassen, sein Einlenken wecke übersteigerte Erwartungen, die sich nicht erfüllen ließen. Am 13. August scheiterte eine weitere Verhandlungsrunde zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern.
Also rückt die Wiederaufnahme des Streiks Anfang Oktober näher. Ein Streik, der keinem recht ist: Der Gewerkschaftsführung nicht, weil sie den Schlichterspruch um fast jeden Preis akzeptieren wollte und darüber zumindest kurzzeitig ihr Gesicht verloren hat; den Arbeitergebern nicht, weil sie zwar damit prahlen, am längeren Hebel zu sitzen, aber insgeheim eine Ausstrahlung des Streiks auf alle städtischen Angestellten fürchten (dazu später mehr); den Eltern nicht, weil viele von ihnen kostbare Urlaubstage zur Bewältigung der ersten Streikwelle aufgebraucht haben; und letztlich auch den Erzieherinnen nicht. Nicht nur wegen der Lohneinbußen während des Streiks, sondern weil sie ihren Job gerne machen. Sie wollen ja arbeiten, das ist es doch. »Es gibt sehr viel Verständnis für die Eltern, wir wissen, dass viele an ihre Grenzen gegangen sind und ihren Jahresurlaub nehmen mussten, um die vier Wochen Streik im Frühjahr zu überbrücken. Für die ist die Situation ausgereizt«, räumt Karina Mester ein. »Natürlich ist das ein Problem für uns. Einerseits müssen wir für uns kämpfen, müssen zusehen, dass wir gut in die Rente kommen, dass wir mit unserem Gehalt unser Leben gestalten können. Andererseits haben wir aber den Anspruch, für die Kinder da zu sein und einfach gute Arbeit zu leisten. Das ist eine echte Zwickmühle.«
Rückblickend muss man sagen, die Streikenden und ihre Gewerkschaft haben die Eltern verloren, zumindest viele von ihnen. In Köln gab es wenig Kontakt zwischen den Gruppen: Auf der Elterndemo am 30. Mai lief ein Gewerkschaftsgrüppchen unscheinbar am Rande mit; auf der großen Gewerkschaftsdemo am 13. Juni waren die Eltern nicht sichtbar. Naheliegend, dass die Gewerkschaft die gesellschaftlichen Dimensionen des Streiks unterschätzt hat und es deshalb nicht vermochte, politischen Druck aufzubauen. Die Erzieherinnen, das darf man gerne noch mal betonen, sind nicht für den beruflichen Druck und Stress verantwortlich, unter dem die Eltern leiden, und der noch wächst, wenn sie die Kinder außerhalb der Kita-Routine »wegorganisieren« müssen. Man könnte es ja mal umdrehen und die Kampfbereitschaft der Erzieherinnen zum Vorbild nehmen, wenn es gilt, im eigenen Beruf um bessere Arbeitsbedingungen zu kämpfen.
Es ist diese mögliche Vorbildfunktion, die die Arbeitgeber fürchten: »Der eigentliche Grund, warum die Arbeitgeber sich so wehren, uns ein besseres Angebot vorzulegen, liegt darin, dass ein Erfolg der Erzieherinnen Folgen hätte. Wenn man ihnen nachgibt, dann kommen als nächstes die Kranken- und Gesundheitspflergerinnen, die Altenpflegerinnen«, sagt Anne Mark. »In Köln sitzt nicht der Experte für die Kitas am Verhandlungstisch, sondern derjenige, der für die Krankenhäuser zuständig ist. Der weiß, wenn wir Erfolg haben, werden seine Leute auch mit Aufwertungsforderungen kommen.« Noch ist die Wiederaufnahme des Streiks keine beschlossene Sache. Am 28. und 29. September treffen sich die Verhandlungsführer der Tarifparteien zu einer vorerst letzten Runde. Einiges hängt auch davon ab, wie der am 24. September beendete dritte Bundeskongress von Ver.di verlaufen ist, auf dem die Gewerkschaftsspitze durchaus für ein Ende des Streiks werben könnte. Ränkespiele sind in der deutschen Landschaft der klüngelnden Sozialpartnerschaft immer absehbar. Trotzdem: Die Entschlossenheit der Erzieherinnen wird in Erinnerung bleiben.